Tendenz der Evolution ist es, Formationen des Lebens immer unabhängiger vom Reaktionschaos des Anorganischen werden zu lassen. Das Zentralnervensystem (ZNS) des Menschen gilt als die bisher höchste Ausformung dieser Tendenz. Eine entscheidende Rolle bei dessen Entwicklung spielte die Organisation des ZNS als symbolische Form der Beziehung von Organismus und Umwelt bzw. der Implementierung dieser Differenz in die Funktionsweisen des ZNS. Diese Differenz faßte Rothschild seit 1935 als Symbol. Der erste große Schritt der Symbolisierungsleistung war die Ermöglichung von Selbstbezüglichkeit des Organismus im Erleben. Rothschilds These: Die Entwicklung jeweils neuer, selbständiger, innerer und äußerer Symbolsysteme (1) erspart der Evolution von einer gewissen Stufe ab die enorm aufwendigen Umbauten des ZNS, um dessen Leistung zu steigern.
Mit der Beziehung verschiedener Symbolsysteme des ZNS aufeinander, die als Simulation und als Virtualität organismischer Lebensäußerungen in Erscheinung treten, wird das Rechnen mit einer außerorganismischen Realität notwendig, d.h., die neokortikalen Leistungszentren des ZNS arbeiten mit Differenzabgleich (siehe Entdeckung der Disparitätszellen) verschiedener Symbolisierungen, anstatt mit Identifizierung des Organismus und seiner Umwelt, wie das noch auf der frühen Ebene der Zwischenhirnsteuerung der Fall ist. Da hat jeder Organismus seine Umwelt, weil er in sie vollständig eingeschlossen ist. (Insofern müßte man die radikalen Konstruktivisten als Zwischenhirnhypostatiker ansprechen.)
Symbolsysteme zu gebrauchen, erfordert die Fähigkeit zur Wiederholung – unabhängig von den limbischen Regulativen (Lust und Unlust). Ein Typus solcher Wiederholung entsteht mit der Fähigkeit zur Erinnerung. Im Unterschied zur Wiederholung durch einmalige Prägung sind Erinnerungen lose, plastische Koppelungen von Teilen der unterschiedlichen Symbolisierungen, sind also partieller Differenzabgleich, der gerade deswegen um so leichter rekombinierbar ist.
Erinnerung hält also die Symbolsysteme und ihren Abgleich offen und anpassungsfähig für die Realitätserfahrung, sobald sich die reale Umwelt ändert. Wenn Bewußtsein, also das Rechnen mit der Realität außerhalb des eigenen Organismus, evolutionär als Differenzierung von System und Umwelt, von Zwischenhirn und Rinde und als Differenzierung der spezifischen Leistungszentren der Rinde entstanden ist und wenn diese Differenz – wie jede – nur in Symbolsystemen prozessierbar ist (das hat die Gestaltpsychologie übersehen), dann manifestieren Erinnerungen partielles Bewußtsein, repräsentiert in Teilen verschiedener innerer und äußerer Symbolsysteme, die noch nicht auf einer neuen, semantischen Ebene zur Einheit zusammenschließbar sind, aber die das Ausbilden eines solchen neuen Symbolsystems stimulieren.
Auf die Ebene einer Phänomenologie der Erinnerung übertragen, läßt sich diese Darstellung nachvollziehen. Wir versuchen, uns zu erinnern; wir glauben, uns zu erinnern – aber die Erinnerung bleibt relativ unbestimmt, unfaßbar, vage und chimärenhaft. Das ändert sich, wenn wir die einzelnen Momente des Erinnerten in einen sprachlichen, zum Beispiel erzählerischen Zusammenhang bringen. Dann werden die Erinnerungen zwar viel klarer, aber sie geben ihre Bedeutung an den Zusammenhang ab, in den wir sie bringen. Deshalb fällt es schwer, eine erzählte Erinnerung von einer „erfundenen“, frei konstruierten Erzählung zu unterscheiden (Problem aller Biographien). Und wir sind konsterniert, wenn jemand diese unsere Erinnerung als Lügengespinst oder Phantasterei kennzeichnet, weil wir doch nicht in der Lage sind, das je richtigstellen zu können. Denn mit jedem neuerlichen Versuch, sprachlich, in Worten oder Bildern, unsere stets partiellen Erinnerungen in einen Zusammenhang zu bringen, und sei es auch nur in den Zusammenhang einer zeitlichen Abfolge, produzieren wir nur weitere Abweichungen der verschiedenen erzählerischen Darstellungen (das wird zum Beispiel bei polizeilichen Verhören von Zeugen oder Verdächtigen häufig falsch bewertet). Ein Literat aber vermag gerade diese Eigentümlichkeit des Erinnerns produktiv zu machen. Er nutzt das Fiktivwerden der Erinnerung, sobald wir sie als Zusammenhang in einer symbolischen Form fassen wollen, und erweitert sie zu Vorstellungen, indem er sie aus der Wiederholung des Vergangenen in die Erwartung von etwas so noch nicht Erlebtem überführt, auch in der Vergangenheit noch nicht Erlebtem. Er eröffnet damit seiner „dunklen“, so nicht erinnerbaren Vergangenheit eine andere Beziehung zur Gegenwart des Wiederholens dieser Vergangenheit und vermag dieses Verhältnis auf die Beziehung seiner jetzigen Gegenwart zu einer möglichen Zukunft zu übertragen.
Diese Übertragung kann aber nicht beliebig fortgesetzt werden: Sei es, daß der Literat die Erfahrung macht, sich nicht mehr an die von ihm selbst entwickelten Vorstellungen beim Fortschreiben der Erzählung erinnern zu können, sei es, daß er von seinem Körper gezwungen wird, die Parallelität von physischem und psychischem Leben mit den Fiktionen nicht länger durchhalten zu können, weil ihn dürstet, friert oder hungert, welche Bedürfnisse er durch das Weitererzählen keineswegs auszugleichen in der Lage ist. Die Realitätshaltigkeit seines Tuns erweist sich also in der notwendigen Unterscheidung zwischen dem Produzieren von Erinnerungen und Vorstellungen einerseits und dem Erleben seiner Körperlichkeit andererseits. Wer die Fähigkeit verliert, die Symbolebenen zu unterscheiden, und also das Realitätsprinzip aufgibt, hat gravierende Einwirkungen auf seine organismische Existenz zu erwarten. Auf die Realität läßt sich nur Bezug nehmen in der Differenz zwischen den verschiedensten Symbolisierungsformen, in der man ihr zu entsprechen versucht oder in der man sie zu repräsentieren versucht. Ein weiteres Beispiel dafür ist eine Verhandlung vor Gericht über einen Verkehrsunfall. Ein erfahrener Richter wird die Realität des in Frage stehenden Vorgangs stets aus der Differenz der verschiedensten Erzählungen oder Symbolisierungsversuche der Zeugen zu entnehmen hoffen. Ein erfahrener Historiker wird um so eher glauben, einem historischen Ereignis gerecht werden zu können, je mehr er sich an den Differenzen in den schriftlichen Quellen orientiert. Beide aber, Richter und Historiker, sind gezwungen, diese Differenzen als Erfahrung der Realität auf einer neuen semantischen Ebene, also in einer neuen Einheit, ihrerseits symbolisch zu repräsentieren. Dazu werden sie durch die Eigentümlichkeit des Erinnerns als partieller Repräsentanz symbolischer Zusammenhänge genötigt, und damit erfüllt sich auch die Funktion des Erinnerns. Sie ermöglicht den immer erneuten Abgleich der verschiedensten Symbolisierungen der organismischen Selbsterfahrung mit der Realität.
Was kennzeichnet die Repräsentationen von innen und außen, von System und Umwelt? Wie kommen sie zustande? 1935 hat F.S. Rothschild in seiner für die gesamte Neurophysiologie grundlegenden Darstellung der „Symbolik des Hirnbaus“ das Zentralnervensystem als Symbolsystem gefaßt. In seinen Formulierungen von 1959: „Das Großhirn der Säugetiere zeigt grundsätzlich schon jene Strukturen, die eine tiefere Einbeziehung der zeitlichen Dimension, Vergangenheit und Zukunft, ermöglichen. Die Einstellung und Berücksichtigung von etwas Zukünftigem trotz oder aufgrund der gegenwärtigen Sinnesreize geschieht mit Hilfe des Stirnhirns, und wenn diese und andere Zentren der Hirnrinde auch beim Menschen im Vergleich zu den Menschenaffen quantitativ besser entwickelt sind, so kann das nicht den Unterschied zwischen der Innenwelt der Affen und der Menschen erklären.
Die Unterschiede zwischen der Innenwelt und dem Verhalten eines Vogels und eines Säugers gehen parallel den Unterschieden zwischen den Strukturen des ZNS. Beim Vergleich zwischen Menschen und höheren Säugern entspricht der ganz neuen Form des symbolischen Verhaltens der Menschen und des abstrakten Denkens nicht eine neue Strukturierung des ZNS … Wenn das Gehirn geistige Leistungen vermittelt, arbeitet es anders als bei den nur seelischen Funktionen … Diese neue Arbeitsweise wird durch eine grundsätzlich neue Struktur durchgeführt, weil das innere Symbolsystem, das Gehirn, fortwährend durch ein äußeres Symbolsystem, die Sprache, in einer neuen Funktionsweise unterstützt und weitergeleitet wird … Die geistige Welt von Ideen und Werten, Begriffen und Willensentschlüssen kann sich im Erleben nur verankern, weil sie in einem System von Symbolen einen Niederschlag gefunden hat … Diese … festgelegten Symbole hemmen und lenken durch ihre Bedeutung die Funktionen des menschlichen Gehirns, ganz ähnlich wie die Funktionen des Großhirns die Funktionen der kaudaleren Zentren hemmen und lenken. … Erhält das ZNS die Eigenschaften eines Systems von Symbolen, wenn seine Erregungen von Erlebnissen begleitet sind, dann besteht eine semantische Beziehung zwischen diesen Erregungen und den mit ihnen verbundenen Erlebnissen. Die Erregungen bezeichnen oder bedeuten diese Erlebnisse; die Erlebnisse sind der Sinn dieser Erregungen … Wendet man semiotische Begriffe wie Symbol oder Zeichen in einer Theorie der Funktionen des ZNS an, so muß man die Regeln der semantischen Stufen berücksichtigen. Beobachtet man sie nicht, so wird man Pseudoprobleme schaffen und sich in Antinomien verstricken, sobald man anfängt, das Verhältnis des ZNS zu Bewußtsein und Erleben zu behandeln … Die Lehre von den semantischen Stufen widerspricht zum Beispiel der verbreiteten Ansicht, daß die Erregungen des ZNS die Erlebnisse als eine Art von Epiphänomenen hervorbringen oder verursachen. Wird doch damit behauptet, daß die Produktion des Zeichens auch schon die Deutung oder Erkennung dieses Zeichens in sich schließt, was man doch nicht gelten lassen kann. … Die Symboltheorie des ZNS überwindet diese Schwierigkeit in der Fundierung unserer Erkenntnis der Realität. Sind es doch seine tatsächlichen und virtuellen Bewegungen, mit deren Hilfe der Organismus die Erregungen seines ZNS deutet. Wahrnehmungen werden mit Hilfe von tatsächlichen und virtuellen Bewegungen des Körpers aufgebaut. Dieser eigenen Bewegungskraft setzen die Körper der Außenwelt Widerstand entgegen, und deshalb wird diese Außenwelt als körperlich real erlebt. Tierische Bewegungen sind das Instrument des tierischen Handelns. Wahrnehmungen und Bewegungen, Erkennen und Handeln sind also in einer untrennbaren Weise miteinander verschränkt, und es sind das Bewegen und das Handeln, die der Wahrnehmung und dem Erkennen ihren Realitätsgehalt sichern.“
Von den Funktionsweisen des ZNS aus gesehen, sind also tatsächliche und virtuelle Bewegungen gleichermaßen auf Realität (die „Objekthaftigkeit der Außenwelt“) jenseits des Gehirns orientiert. Das Erfahren der eigenen raumzeitlichen Positionierung wird zur Erfahrung des Lebens im Aufbau des ZNS als symbolischer Repräsentanz eben dieser Dimensionierung des Organismus. Das Prozessieren des Symbolsystems ZNS leistet den Anschluß vergangener und zukünftiger Entfaltungen von Lebensäußerungen an die jeweils aktuellen, weil die Struktur der Zeitlichkeit des Lebens (Rhythmisierung) und die Struktur der Räumlichkeit (Bewegungshemmung) in Symbolisierungen unabhängiger werden läßt von punktuellen Lebensbedingungen in der Realität der Außenwelt. Wenn man etwa Wiedererkennen als Erinnerungsleistung faßt (ohne fixe Lokalisierung dieses Potentials im ZNS, aber bei strikter Funktionsspezialisierung), dann bedeutet Erinnerung die Befähigung, von Symbolsystemen Gebrauch machen zu können, d.h. Erinnern als virtuelles oder tatsächliches Wiederholen zu prozessieren – beides in Differenz zur Realität, also symbolisiert. Um die Differenz von Symbol und Realität möglichst scharf erhalten zu können und damit „Lernen“ resp. „Anpassung“ zu ermöglichen, verfiel die Evolution auf den Trick, den verschiedenen Formationen des ZNS verschiedene Symbolsysteme zuzumuten, die man bei Menschen zum Beispiel als seelische und geistige unterscheidet. Rothschild behauptete mit guten Gründen, daß das ohne den Umbau des ZNS wie beim Übergang von den Vögeln zu den Säugern möglich war. Menschen müssen nicht über ein anders strukturiertes ZNS verfügen als höhere Säuger und können doch neue Formen des symbolischen Verhaltens entwickeln, weil ihrem Neokortex neue Symbolisierungen gelangen, eben sprachliche! Damit wird die Erinnerungsfähigkeit unvergleichlich gesteigert und so das Potential und die Qualität von Lebensäußerungen enorm vergrößert.
Und nun der springende Punkt der Argumentation: Wie ist die Einheit oder „Ganzheitlichkeit“ des Lebens zu gewährleisten (bis zu einem unabdingbaren Grad jedenfalls), wenn das ZNS gleichzeitig mit verschiedenen Symbolisierungen operiert? Antwort: Alle Symbolisierungen gehorchen den gleichen Regeln der Regelhaftigkeit. Zwar haben Sprachen verschiedene Syntaxen, aber darin sind sie alle gleich, daß sie eine Syntax haben (das meint Rothschild mit Differenzierung der semantischen Ebenen), und allen verschiedenen Symbolisierungen ist gemeinsam, daß sie eine Vielfalt als Einheit repräsentieren, indem jeder Teil das Symbol des Ganzen ist. (So „symbolisiert“ jede Zelle den gesamten Organismus, obwohl sie nur spezifische Organfunktionen tatsächlich erfüllen kann.) Auf diese Weise sind auch innere (Gehirn) und äußere Symbolsysteme (Sprachen) anschlußfähig, kompatibel und können sich wechselseitig zur Bildung immer subtilerer Differenzierungen von neurophysiologischer Substanz, von elektrochemischem Prozeß und semantischem Potential stimulieren. Damit wird Kommunikation – bei gleichzeitiger Erhöhung des Realitätsgehalts von Bewegung und Handeln, von Wahrnehmen und Erkennen – potentiell immer leistungsfähiger. Ihr Resultat kann die Bildung von neuen Einheiten der Vielheit von Individuen als Gesellschaften sein, deren Symbolsysteme als ZNS eines höheren evolutionären Wesens wieder so operieren wie das ZNS der Individuen. (Vgl. Konzepte der Lebenseinheit gaja).
Seit Jakob von Uexküll die gattungs- und artspezifischen „Umwelten“ von Organismen beschrieb, stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, diese Konstrukte als „Wirklichkeit“ der Organismen aufzufassen. Die Welt der Hundezecke beschränkt sich auf das, was Zecken von ihrer Umwelt wahrnehmen und mit dieser Wahrnehmung anfangen können: die Konzentration von Kohlendioxyd, von Buttersäure, von Licht und Temperatur. Für die Zecke mögen diese sehr beschränkten, aber lebensdienlichen Unterscheidungsleistungen zwar ihre Wirklichkeit sein, aber nicht die Wirklichkeit der Welt, soweit in ihr Zecken vorkommen; denn zu dieser Wirklichkeit gehören ja Klimaverhältnisse als lange Perioden der Dürre und Kälte, das Vorkommen von Warmblütern wie auch die zeckentötenden Finger eines Hundeliebhabers. Jeder Beobachter von Zecken wird die deutliche Unterscheidung zwischen „der Welt der Zecke“ und der Welt, in der Zecken vorkommen, notwendig einführen, auch wenn der Beobachter eine Zecke wäre, die sich selbst beobachtete, wofür sie jedoch unzureichend ausgerüstet ist.
In Organismen ist die Position des Beobachters in unterschiedlicher Weise implementiert, sinnfällig wird dessen Funktion in jedem Falle mit der Entwicklung von Bewußtsein. Der von Zecken befallene Hund weiß sich beobachtet; allerdings verstört ihn dieses Bewußtsein, wenn die Kriterien der Beobachtung instabil sind wie bei einem nicht trainierten Hundebesitzer, der die Differenz zwischen der Wirklichkeit des Hundes und seiner eigenen nach Belieben aufhebt und deshalb mit seinen Blickkontakten, Lautäußerungen und Verhaltensweisen immer andere Bedeutungen koppelt. Der Integration eines Hundes in die Lebenswelt des Menschen muß deshalb die Befähigung des Hundehalters vorausgehen, die Welt des Hundes nicht mit der Wirklichkeit der Welt gleichzusetzen, in der Hund und Hundehalter zugleich vorkommen. Zu dem den Hund verstörenden Wirklichkeitsverlust seines Herrn kommt es, sobald Herrchen sich partiell nicht mehr der Tatsache bewußt ist, daß er vom Hund, von seinen Mitmenschen, seinem Gott und seinem Gewissen beobachtet wird, also sobald er seine Wirklichkeit mit der Wirklichkeit der anderen gleichsetzt. Mit der Unterscheidung der Wirklichkeiten des Hundes und des Herrn ist nicht gesagt, daß der Herr die Wirklichkeit des Hundes kenne oder die seiner Mitmenschen oder die des Gottes. Er rechnet nur mit der Andersartigkeit – ja, ihm wird die Wirklichkeit aller anderen Organismen zu dem, was er nicht ist und was sich seiner Eingemeindung oder Aneignung entzieht.
Unter dieser Voraussetzung bringt es wenig ein, aus den gut begründeten Vermutungen eines radikalen Konstruktivismus bei der Schlußfolgerung zu verharren, die Organismen – zumal jene mit der Fähigkeit zur reflexiven Bewußtseinsleistung und zur Selbstbeobachtung mit wechselnden Kriterien der Unterscheidung – konstruierten ihre Wirklichkeit selbst. Sobald einzelne Organismen/Systeme ihre Umwelt als die Welt anderer Organismen/Systeme durch Bewußtsein identifizieren können, also damit rechnen, daß ihre Umwelt aus anderen Organismen/Systemen besteht, wird ihr Konstrukt von Wirklichkeit lebensriskant. Das Risiko zu mindern, verlangt nach Relativierung der eigenen Wirklichkeitserfahrung. Mit dieser Anpassungsnotwendigkeit an die Wirklichkeit der Umwelt, die in jedem Falle ein erheblich größeres Segment der Welt umfaßt als jedes einzelne System, hebt sich der Wirklichkeitsanspruch des je einzelnen Systems weitgehend auf. Je anpassungsfähiger die einzelnen Organismen/ Systeme werden, desto virtueller werden ihre Wirklichkeitskonstrukte. Ist aber dann die Zuschreibung je eigener Wirklichkeit der monadischen Einheiten noch eine unterscheidungsfähige Beobachtung?
Mit der Annahme gattungs- und artspezifischer Wirklichkeitskonstruktionen ergeben sich auch Schwierigkeiten, wenn man der Tatsache Rechnung trägt, daß z.B. alle Menschen über das gleiche neurophysiologische Substrat verfügen, das man Körper nennt. Wieso kommen Menschen trotz dieser ihnen gegebenen organismischen Existenz als Körper individuell und kollektiv zu sehr unterschiedlichen Leistungen in Verhalten, Wahrnehmen, Denken und Fühlen oder kurz – im Selbst- und Fremdbezug? Wir gehen von der Annahme aus, daß die Relativierung des monadischen Konstrukts von Wirklichkeit in dem Maße gelingt, in dem es Organismen/Systeme fertigbringen, die ihnen implementierte Lebensumwelt vom System selbst zu unterscheiden, mit dieser Unterscheidung von fremd und eigen dann die Repräsentanz der Umwelt im System zu verändern und schließlich vielfältige Repräsentationen der Umwelt im Organismus zu entwickeln. Beispiele dafür sind einerseits Immunisierungsprozesse und Symbiosen mit anderen Organismen oder, auf höherer Entwicklungsstufe, die Repräsentation des Fremdpsychischen in Bewußtseinssymbiosen, die man herkömmlich als Kultur definiert.
Wenn man die Koppelung der verschiedenen Funktionsleistungen des ZNS (innen/außen, selbst/fremd, Zwischenhirn/Großhirn, Organismus/Umwelt, Bewußtsein/Kommunikation) durch den Differenzabgleich unterschiedlicher Repräsentationen/Symbolsysteme annimmt und wenn die Anzahl dieser Symbolisierungen so klein wie möglich gehalten werden muß, um Funktionssicherheit zu optimieren, dann kommt der Erinnerung die Aufgabe zu, die Koppelungen variabel zu halten. Da Erinnerungen immer nur partiell sind, ist durch die Leistung der Erinnerung die Variabilität der Differenzbildungen zwischen den in sich geschlossenen Symbolsystemen ermöglicht. Für das Prozessieren von Erinnerungen lassen sich zwei Grenzwerte erkennen: Wird zu viel erinnert, dann reproduzieren die Erinnerungen nur das Symbolsystem. Wird zu wenig erinnert, verkümmert die Fähigkeit, mit den verschiedenen Symbolsystemen zu operieren. Erinnern und Vergessen sind also dieselbe Operation innerhalb dieser Grenzen. Auf der Ebene der Phänomenologie der Erinnerung entspricht dem Gesagten die Erfahrung, daß zu intensive und zu breite Erinnerung lähmt, indem sie die aktuell geforderte Lebensäußerung als bloße rigide Wiederholung vollzieht und damit ein hohes Risiko eingeht. Wer ständig in Erinnerungen lebt, dürfte den Anforderungen des Tages kaum gewachsen sein. Wer zu stark auf die Erinnerung und damit auf die Wiederholung einmal erfolgreicher Handlungen fixiert bleibt, erleidet Schiffbruch. Wer sich andererseits nicht hinreichend erinnert, wird unsicher im Gebrauch der Symbolsysteme. Seine Kommunikationsfähigkeit verkümmert. Wer zu viel vergißt, wird nichts lernen; wer zu wenig vergißt, wird das einmal Gelernte auf veränderte Anforderungen hin nicht modifizieren können. Beide werden innerhalb ihres Wirklichkeitskonstrukts eingeschlossen bleiben, wenn sie nicht lernen, das Vergessene zu erinnern und die Erinnerungen zu vergessen.
Wie sehr beides derselben Leistung zuzurechnen ist, lehrt die Bemühung von Psychologen, das Vergessene als ein nicht Erinnertes zu rekonstruieren und die zu dominante Erinnerung zu deaktivieren, indem sie den schematisierten Symbolgebrauch zerschlagen. Demzufolge kann Gedächtnis als die Einheit von Erinnerung und Vergessen auch nicht als Fixierung von Informationen etwa in Gestalt von spezifischen Eiweißmolekülen angenommen werden, sondern als variable, partiell aktivierte Koppelung unterschiedlicher Symbolsysteme. Wenn Erinnerungen mit Angst besetzt sind, also vergessen werden möchten, dann sind die damit verbundenen spezifischen Reaktionen nur beherrschbar, wenn man in das Symbolsystem des Neokortex und vor allem in das externer Sprachlichkeit transzendiert. Und umgekehrt: Wenn man sich zu vorbehaltlos eines schematisch-rituellen Sprachgebrauchs bedient, wird man aus diesem Leerlauf nur herauskommen, wenn man sich an die geistigen, seelischen und vitalen Symbolisierungsleistungen des ZNS anzuschließen vermag. Da alle Symbolisierungen auf spezifischen Differenzierungen von innen und außen, von Organismus und Umwelt, von Eigen- und Fremdbewußtsein beruhen und diese Differenzierung vom ZNS als gleichzeitige Operation mit mindestens vier (dem vitalen, dem seelischen, dem geistigen und dem sozialen) Symbolsystemen in Rechnung gestellt wird, läßt sich die außerorganismische Wirklichkeit als das verstehen, was nicht in einem Symbolsystem als Ganzes repräsentiert werden kann. Wirklichkeitserfahrung – aber das verringert die Gefahr des Scheiterns – ist deswegen an Erinnerung gekoppelt, weil sie jeweils nicht mit dem System der vitalen, seelischen, geistigen und sozialen Symbolgefüge identisch ist, sondern punktuell ihre unterschiedliche Orientierung auf die Wirklichkeit nutzt. Was diese Wirklichkeit als Ganzes ausmacht, kann und braucht nicht berücksichtigt zu werden. Dem ZNS genügt es, zur Aufrechterhaltung des Organismus im einzelnen und konkreten Moment des Lebens sich daran zu erinnern, was die Wirklichkeit tolerierte. Die leistungsfähige Balance des Gedächtnisses zwischen Erinnern und Vergessen entspricht unserer phänomenologischen Erfahrung, daß wir mit der Wirklichkeit rechnen können, obwohl wir sie nicht kennen. Und weil die Wirklichkeit das ist, was wir nicht zu kennen oder zu beherrschen oder uns anzuverwandeln vermögen, können wir mit ihr unter Zuhilfenahme des Gedächtnisses jeweils erneut und konkret rechnen, indem wir feststellen, ob unsere Lebensäußerungen in der Wirklichkeit toleriert werden oder eben nicht.
(1) Heute faßt Niklas Luhmann Sprache als strukturelle Koppelung zwischen Bewußtsein und Kommunikation. Die Verwendung des historischen Terms „symbolische Form“ (Cassirer) bei Rothschild ist aber mit Maturanas Begriff der strukturellen Koppelung kompatibel.