Buch Liberation in Progress

Ein Projekt von Josef Schützenhöfer und Klaus Zeyringer, Steirische Kulturinitiative

Liberation in Progress, Bild: Hrsg. von Herbert Nichols-Schweiger und Simon Brugner. Graz: Leykam, 2012..
Liberation in Progress, Bild: Hrsg. von Herbert Nichols-Schweiger und Simon Brugner. Graz: Leykam, 2012..

Pöllau – Kulturvermerke Gmunden – Pöllau – Stadtmuseum Graz – Pöllau – Europäische Kulturhautpstadt Maribor – Pöllau ...
Die korrekte Antwort auf die an sich leicht zu beantwortende Frage, wer Österreich 1945 vom Furor des Nationalsozialismus befreite – Deutsche Wehrmacht oder Alliierte plus Sowjetarmee – steht bei der Namensnennung an österreichischen Kriegerdenkmälern noch aus – nicht nur im oststeirischen Pöllau. LIBERATION IN PROGRESS will jedoch keine behördlichen Selbsterkenntnisse ersetzen, sondern mit künstlerischen Mitteln Einsicht und Erkenntnis vorbereiten. Deshalb sind nicht nur österreichische KünstlerInnen beteilgit, sondern auch Angehörige der Befreiungsnationen. – Ein Sonderfall ist die heurige Europäische Kulturhauptstadt Maribor: einer ihrer Ehrenbürger ist immer nocht Ottokar Kernstock, während die Musikkapelle Pöllau den umstrittenen Namen im Zuge des Liberation Art Projects ablegte.

Text dt.-engl.

Anderwald + Grond
Joachim Baur
Clemens Berger
Bazon Brock
Simon Brugner
William Contino
Barbara B. Edlinger
Hans Haacke
Heimo Halbrainer
Karl-Heinz Herper
Emily Hines
Douglas Hoagg
Otto Hochreiter
Georg Hoffmann
Peter G. Hoffmann
Helmut Konrad
Andreas und Renate Meschuh
Ursula Neugebauer
Herbert Nichols-Schweiger
PRINZGAU/podgorschek
Timm Ulrichs
Peter Weibel
Heinz Wondra

Erschienen
01.01.2012

Herausgeber
Nichols-Schweiger, Herbert I Brugner, Simon

Verlag
Leykam

Erscheinungsort
Graz, Österreich

ISBN
978-3-7011-7838-4

Umfang
157 S. : zahlr. Ill. ; 25 cm, 613 g

Seite 24 im Original

Ewigkeitsgarantien

Sterben, um unsterblich zu werden

Wer sich immer noch wundert, warum seit Menschengedenken Männer bereit waren, für das Leben zu sterben, sich also als Soldat einvernehmlich mit Familie, Clan, Ethnie töten zu lassen, erhält im Durchschnitt die Antwort, der Krieger verteidige gegen äußere oder innere Feinde das Überleben seiner Kinder, seines Stammes etc.. Es bedarf völlig unglaubwürdiger Denkkrampferei, um auch Angriffskriege als Selbstverteidigungszwänge aufzufassen. Diese Denkkrämpfe beherrschten zum großen Teil noch die Rechtfertigung von Kriegen im 20. Jahrhundert – kulminierend in der Unterscheidung zwischen gerechtem Selbstverteidigungskrieg und verwerflichem Angriffskrieg, denn es ist ein leichtes zu beweisen, dass Angriff die effektivste Form der Verteidigung sei.
Gegen dieses traditionelle Begriffsgewürge setzten etwa die antikgriechischen Lokrer die Auffassung, dass zu sterben heiße, unsterblich zu werden. Die Clans, Stämme und Städte der Krieger gaben für das ganz konkrete Alltagsleben eine Unsterblichkeitsgarantie; sie verpflichteten sich dem toten Kriegerheros gegenüber auf ein ewiges Angedenken in den Erzählungen über seine Taten und Tage. Wer wäre nicht bereit zu sterben, wenn ihm auf diese Weise Unsterblichkeit garantiert wird? Die nach herkömmlichen Gesichtspunkten völlig absurde Erfolgsgeschichte der nationalsozialistischen Machtstrategie führt das griechische Modell weiter. Auf dem Marsfeld der NS-Bewegung, dem Gelände zwischen Odeonsplatz und Königsplatz in München wurde jährlich zum 9. November, dem Tag der Erinnerung an den Hitlerputsch von 1923, vom Kollektiv der Versammelten die Unsterblichkeitsgarantie für die beim Putsch Getöteten erneuert. Die an Bayreuth geschulten Regisseure der NS-Feierlichkeiten erweiterten den jedermann bekannten militärischen Zählappell, durch den der Truppenführer sich von der realen Anwesenheit seiner Krieger überzeugen konnte. Auf das Vorlesen der Soldatennamen aus der Stammrolle der Züge und Kompanien hatten die Aufgerufenen durch ein laut hörbares „Hier!“ zu antworten. Bei besagten Unsterblichkeitsfeiern riefen die militärischen Chefs auch die Namen der Toten auf. Alle Anwesenden bestätigten durch ihr kollektives gleichzeitiges „Hier!“ die Realpräsenz der Getöteten.
Eine zweite Akteursgruppe neben den Kriegern bediente sich der Vergewisserung durch Sterben, unsterblich zu werden. Unter Künstlern galt seit dem 17. Jahrhundert sogar die getarnte Selbsttötung als Mittel zum Zweck, Unsterblichkeit im Gedächtnis der jeweils Lebenden zu gewinnen. Der physische und soziale Tod durch Verhungern, Krankheit und Ausgrenzung war Beweis für die Bedeutung der einzelnen Künstler in ihrem Werkschaffen – nach dem Muster „Viel Feind‘, viel Ehr‘. Warum wird ein Künstler ins Abseits gedrängt, wenn nicht durch den Widerstand, den er provoziert? Diese Feindschaft der sozialen Umgebung konnte also als Beleg für die Großartigkeit des jeweiligen Konzepts und Werks verstanden werden; es übertraf die gültigen Auffassungen gerade um das Maß an Gegnerschaft, das einen Künstler in den möglichst frühen Tod trieb.
Eine kulturgeschichtlich bedeutsame Variante des Motivs ‚Sterben als Weg zur Unsterblichkeit‘ zeigt sich gegenwärtig in der religiös begründeten Selbstopferungspraxis – allerdings mit der entscheidenden Verschiebung, dass nicht die Gemeinschaft der Gläubigen den Eintritt ins Paradies der Unsterblichkeit garantiere, sondern der Gott höchstpersönlich.
Mit dem Fortschreiten der Aussonderung kleiner Einheiten von Interessengemeinschaften aus dem großen Sozialverband verlagerte sich die Verpflichtung zur täglichen Erinnerung an die Helden weg von den kollektiven Ritualen hin zur symbolischen Repräsentanz: Das Kriegerdenkmal, das Denkmal für die Kulturheroen entlastete von der Anstrengung der lebendigen Praxis gemeinschaftlicher Erinnerungschöre.
Der mit dieser Anrufung seines Namens unsterblichere Robert Filliou schlug in den 70er Jahren vor, dass die Mitgliedsstaaten der EU untereinander den Austausch ihrer Denkmäler zur gesetzlich verankerten Pflicht machen sollten. Er wusste von den Solzialpsychologen, dass der wesentliche Teil der Heldenverehrung durch die immer erneute Betonung der Stärke ihrer Gegner begründet wird. Der Filliousche Vorschlag verstärkt also die Orientierung auf die eigene Memorialpraxis durch Überhöhung des ehemaligen Feindes.
Weltgeschichtlich einmalig ist die Ewigkeitsgarantie, die das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in seinem Paragraphen 79,3 festschreibt. Obwohl die Verfassung im Jahre 1948/49 in einer konkreten historischen Situation von konkreten benennbaren Personen entworfen wurde, garantiert sie die Unveränderbarkeit ihrer grundlegenden Bestimmungen. Eine derartige Durchsetzung des Verlangens nach ewiger Dauer ist sehr wohl als Summe aller bisherigen menschlichen Bemühungen um Verewigung zu verstehen. An ihr bemessen sich alle weiteren abgeleiteten Ewigkeitsdienste. So gibt es in der Bundesrepublik die Verpflichtung, auf alle Ewigkeit die Kosten („Ewigkeitskosten“) für alle möglichen Folgeschäden des Bergbaus zu übernehmen. Welches Museum, welches Archiv kann eine derartige Verbindlichkeit auf Ewigkeit aussprechen? Es wäre an der Zeit, künstlerische Memorialchöre nach der Vorlage der Verfassung 79,3 zu bilden, um ihrer Klientel tatsächlich wieder mehr zu bieten als sich schnell erschöpfende Unterhaltungsattraktivitäten.