Vortrag / Rede Schillerpreis-Verleihung an Klaus Theweleit

Termin
12.06.2016, 11:00 Uhr

Veranstaltungsort
Mannheim, Deutschland

Veranstalter
Stadt Mannheim

Veranstaltungsort
Nationaltheater Mannheim, Mozartstraße 9, 68161 Mannheim

Laudatio

Die Lesenden erkennen Tonfall und Melodie von Theweleit-Texten auf Anhieb wieder, wenn sie sich eingelesen haben. Einmalig die Lyrik der Begriffe, das analytische Pathos, die epische Langmütigkeit und dramatische Zuspitzung, Pointensicherheit und die Prosaik von Polizeiberichten. Ein Starmix ohnegleichen, aber mit Anklängen an Gottfried Benn und seine Zeitgenossen Allen Ginsberg und William Burroughs, deren höchste Wirksamkeit sich in den musikalischen Genres vom Free Jazz bis zum Punk-Howl entfaltete. Und Theweleit ist durch und durch Musiker, das heißt ein bewegter Beweger im Gedanken-Swing, den er selbst erzeugt. Rhythmus und Dynamik variieren das Verhältnis von Nah- und Fernwirkung, von Selbstergriffenheit und enthusiastischer Ausstrahlung aufs Publikum. Theweleit trägt nicht akademisch vor, er legt auf wie ein Disc Jockey der Theoriebildung als konzertanter Aktion. In der Tat hört man Theweleit-Texte eher, als dass man sie liest. Das Lesen wird ein Hören, evoziert durch Textpartikel, die die Rock- und Pop-Geschichte aufrufen. Ich nenne das Resultat von derartigem Schreiben „rhetorische Oper“ und die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte ist für mich ein textgenetisches Verfahren.

Wenn man die Kunst der Verfugung von Textsorten bei Theweleit zu entschlüsseln versucht, also das Werden und Gedeihen des Textkörpers nachzeichnet, stößt man auf eine Reihe von Übertragungsphänomenen, die er ganz offensichtlich als Medien definiert: Das Ausstanzen und Einfügen, das Wegschneiden und Versetzen, das Abbauen und Umbauen, das Collagieren und Variieren. Dieses Verständnis von Medialität wird seit zweitausend Jahren in der Formel „ut pittura poesis“ repräsentiert. Für Europa gilt entsprechend seit dem 14. Jahrhundert, dass die Art der Darstellung eines Sachverhalts als Vorstellung, also seine Verbildlichung bereits einen wesentlichen Teil der Erkenntnis des Sachverhaltes ausmacht, zumindest aber präfiguriert. Für die Mathematik etwa ist die Darstellung eines Sachverhalts in ihrer Sprache fast vollständig mit der Erkenntnis identisch. In der Musik erkennt man die größtdenkbare Offenheit zwischen musikalischem Ausdruck und dem Auszudrückenden, seien es Gefühle, Gedanken, Erinnerungen. Zwischen Mathematik und Musik variieren alle anderen medialen Transformationen von Darstellung und Erkenntnis.

1906 wurde dem Historiker Mommsen der Literatur-Nobelpreis verliehen, wodurch klargestellt wurde, dass selbst die Reduktion auf Fakten der historischen Ereignisse immer schon ein Darstellungskonzept ausmacht. Auch positivistische Wissenschaftler sind unter die Medialität der Darstellung ihrer Fakten gezwungen: die positivistische Reduktion auf das Faktische ist ihrerseits schon literarisches Verfahren.

Aus der Geschichte der Entstehung von Medien in den europäischen Künsten und Wissenschaften lässt sich für jedes Jahrhundert ein zentraler Aspekt herausheben. Hier also jene Aspekte, die für die Genetik der Theweleitschen Texte auffällig sind:
– Für das 20. Jahrhundert ist es sicherlich die seit kurzem unter dem Begriff „CRISPR/Cas9 Technologie“ zusammengefasste und auf den Höhepunkt der Präzision gebrachte Methode der Intervention in die genetischen Programme des Lebens (das hieß literarisch zuvor Collagieren, Verfremden im White Box-Verfahren, Crossing over);
– für das 19. Jahrhundert, wie gesagt, die Akzeptanz der Einsicht, dass auch das bloße Bestehen auf Faktizität einer Form der medialen Präsenz entspricht (Geschichtsschreibung ist immer romanhaft);
– um 1800 aus dem Dramenrepertoire die Überblendung von historischer Ereigniszeit und theatralischer Erlebniszeit beziehungsweise Erzählzeit (der Dreißigjährige Krieg in fünf Stunden Theatervorführung des Lebens und Wirkens von Wallenstein);
– ab 1700 aus der Entstehung von Öffentlichkeit durch Tagespresse und Journalismus die Einheit von Spektakelwahrnehmung und observierender Reflektion (1712 heißen die führenden Zeitungen „Spectator“ und „Observer“, also Wahrnehmung der Ereignisse und Beobachtung der Spektakelvoyeure durch die Kritik als Beobachtung der zweiten Ordnung);
– ab 1600 mit der europäischen Erschließung Nordamerikas und der Entstehung der Oper die Aktualisierung des Fernwirkungskonzepts aller apollinischen Medien, denn man singt sich ja nicht von Angesicht zu Angesicht lautstark an, vor allem nicht mit der Kraft des geschulten stimmlichen Ausdrucks, sondern zielt wie in den frühen Zeiten der Kommunikation in der Landschaft auf Signalübertragung von Berg zu Berg (in der Oper wird diese Fernübertragung zwischen Bühne und Publikum, zwischen Menschenwelt und Götterwelt, zwischen Lebenden und Toten, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Aktualität und Potentialität angestrebt);
– aus der Dürer- und Luther-Zeit die Kraft der Übersetzung aus einer in eine andere Sprache beziehungsweise die Übertragung von Texten in Bilder und vice versa (in der Prager Kanzleisprache schafft Luther Begriffe, die in ihren lateinischen, griechischen oder hebräischen Vorlagen bestenfalls eine Anregung, nicht aber eine Hinleitung auf den von Luther evozierten Sachverhalt darstellen; Übersetzen ist seither ein genuines Hervorbringen);
– an der Frührenaissance fasziniert Theweleit bis heute das Buch als Kompendium, vornehmlich als Chronik im umfänglichen Sinne (Petrarca initiiert den Humanismus als Autorität durch Autorschaft und das Buch als die Erscheinungsform dieser Autorität). Aus Dantes Konzept, dass Entwicklung eine Wanderung sei und Wanderung Wandlung bedeute, ist in Sloterdijks Worten eine Metemtextose geworden, ein Textwandel als Wirkungsform, wie es die Metempsychose, die Seelenwanderung als Wandlung einst gewesen ist. Und Theweleit befördert Textwanderung wie kaum ein zweiter.

Um diesen Leporello nicht unübersichtlich lang werden zu lassen, verkürze ich ihn auf die Feststellung, dass Theweleit fasziniert ist von dem scheinbar „primitiv vorwissenschaftlichen“ Verfahren der Mythologisierung. Aber das ist kein Rückfall, keine Kapitulation vor den Herausforderungen durch rein technisch elaborierte Medien. Vielmehr entspricht das Mythologisieren weitgehend dem wissenschaftlichen Arbeiten. Mythos ist urheberlos gewordenes Aussagengefüge – auch die Wahrheit der Wissenschaft bezieht ihre Autorität nicht mehr aus der Urheberschaft durch Individuen, sondern aus der Generalisierung auf das Kollektivsubjekt Wissenschaft, das sich aus der naturhaft gegebenen Substanz als Weltbestand herausgebildet hat (das Hegelsche Diktum: Substanz wird Subjekt werden). Insofern ist es Aufklärerimpetus auch von Theweleit zu zeigen, dass Moderne, gar die moderne Wissenschaft, in Struktur und Wirkung dem Mythos entspricht. Ein Beispiel: Wenn Herodot schreibt, dass Hesiod und Homer den Griechen ihre Götter gestiftet hätten, so heißt das heute, dass wissenschaftliche Experten der modernen Gesellschaft Letztbegründungen zur Verfügung stellen, nach denen in rechtlicher wie materieller Hinsicht Ansprüche auf das Gelten von Wahrheiten beurteilt werden können.

In seinem jüngsten Großwerk, dem „Buch der Königstöchter – Von Göttermännern und Menschenfrauen“ transformiert Theweleit Mythen in wissenschaftliche Wahrheiten und andererseits die Wahrheiten der Archäologie, der Philologie und Kunstwissenschaft in Erzählungen, die von Ewigkeit zu Ewigkeit gelten, also in Mythen. Die Bedeutung dieses Vorgehens belegt die Tatsache, dass bereits der Gründer des Römischen Imperiums den Mitgliedern seines Küchenkabinetts, vor allem den Dichtern Ovid und Vergil, den Auftrag erteilte, die Verfahren der Metamorphose (Ovid), also der medialen Transformation, und der historischen Legitimation aus dem Mythos (Vergils „Aeneis“) zu entwickeln. Vergil führt den Nachweis, dass die geschichtliche Fügung das Rom des Augustus zum sachlich alternativlosen Höhepunkt als Einheit aller Geschichte seit dem Trojanischen Krieg gemacht hat.

Dieses Verfahren der Legitimation durch den Mythos übernahmen so gut wie alle europäischen Herrschergeschlechter, also auch die Anhaltiner, die Berlin unter Berufung auf Askanius, den jüngsten Sohn des trojanischen Königs, gründen. Und in der Tat wird Berlin spätestens 1945 das Troja der Deutschen, das Troja unseres Lebens. In Sichtweite des Anhalter Bahnhofs, also des zentralen Fixpunkts der Anhaltiner, liegen der Askanische Platz und das Gelände des ehemaligen Völkerkundemuseums (zwischen Stresemannstraße und Martin-Gropius-Bau), in dem Heinrich Schliemann seine trojanischen wie seine griechischen Grabungsschätze deponierte. Schliemann war der Mann, der mit größtem denkbaren Erfolg Mythen in Historie überführte, indem er bewies, dass die homerische Erzählung über den Trojanischen Krieg zugleich Geschichtsschreibung ist. Mit der mythischen Erzählung in der Hand ergrub er die Historie.

Ganz so geht Theweleit vor. Er muss sich nicht vorwerfen, was er Vergil vorwirft, nämlich die Transformation des Mythos in Geschichte als „Speichellecker“ im „Herrscher-Ranschmiss“ betrieben zu haben. Theweleit will ja niemandem etwas „verkaufen“, muss nicht mehr Karriere machen, Frauen beeindrucken oder sein Bankkonto durch Tantiemen für das „Buch der Königstöchter“ auffüllen wollen, denn mit dem Abverkauf von Büchern verdient der heutige Kulturwissenschaftler noch weniger, als der Lyriker Gottfried Benn es einst für seine Gedichtveröffentlichungen vorrechnete.

Was aber käme dann als Motiv Theweleits dem des Vergil beim Schreiben der „Aeneis“ gleich? Ich meine gut freudianisch, dass Theweleit mit seiner Kritik an Vergils Motiven verdecken will, was ihn hätte veranlassen können, sein eigenes Werk nicht fortzuführen oder gar zu sabotieren. In ganz auffälliger Weise gestaltet Vergil die Palinurus-Episode in der „Aeneis“. Palinurus ist der Steuermann (griechisch Kybernes), auf den die Flotte des Aeneas angewiesen ist, um Süditalien zu erreichen und die historische Mission der Erziehung der neuen Weltherrscher, der Römer, zu erfüllen. Kurz vor der Anlandung an dem heute nach ihm benannten Kap verschwindet der Steuermann von Bord. Warum? Hatte sich Aeneas in Sichtweite des Ziels des Mannes entledigen wollen, dem er seinen Erfolg zu verdanken haben würde? Ist Palinurus freiwillig über Bord gegangen, weil er den Selbstlauf der Systeme, früher schicksalhafte göttliche Fügung genannt, erkannt hatte und aus Scham über seine anmaßliche Auffassung, es sei auf ihn angekommen, aus dem Leben scheiden will? War es die Scham über die Beschränktheit seines eigenen Steuerungswissens, das die Gefährten ihm vertrauensselig zuschrieben? Oder war es die plötzlich aufkeimende Aversion dagegen, einem Herrscher dienen zu sollen, dessen Egoismus über Leichen geht (der Widerschein der Selbstverbrennung Didos ist stärkste Mahnung)? Augustus, dem Auftraggeber und Adressaten der Vergilschen Erzählung, muss sich die Frage nach dem Grund des Verschwindens des Steuermanns geradezu aufgedrängt haben, gehörte doch Vergil zu den Beratern, also Steuermännern des Imperators, deren Loyalität dieser misstrauisch überwachte. Wollte Vergil andeuten, dass der Herrscher durch Grausamkeit der Machtpolitik den Bogen der Loyalitätsforderung nicht überspannen dürfe und dass andererseits die kleinen Steuermänner sich nicht für unabkömmlich halten sollten, wo doch in Wahrheit die Logiken der Macht und nicht die der Weisheit die Geschichte bestimmten?

Naheliegenderweise hätte sich Theweleit als Beherrscher eines gigantischen Textimperiums fragen können, welche Rolle ihm als Autor eigentlich zukomme, wenn doch das gesamte Material von anderen Autoren entwickelt worden ist oder wenn ihm das Ziel seines Werkes angesichts der Tausende von Textkonvoluten abhanden kommen könnte. Instinktsicher wie Kraft intellektueller Redlichkeit bewahrte sich Theweleit vor der Überforderung, indem er sich zu einer Art Kollektivsubjekt mithilfe der Erstleserin Monika Theweleit und einer großen Reihe von Gegenlesern ausbildete.

Eine historisch höchst bedeutsame Antwort auf die Frage nach der Selbstrelativierung des Autors kennen wir. Sie wurde 1942 von dem Atomphysiker Fermi in einem Telegramm gegeben, das er nach der geglückten ersten kontrollierten Kernspaltung von Chicago aus an die Welt sandte: „The Italian navigator has landed“, zu deutsch: Der Kybernes Palinurus ist angekommen in der Begründung der Kybernetik als dem neuen Steuerungswissen. Analog können wir konstatieren, dass Theweleit angekommen ist in dem Beweis, dass einzelne Künstler und Wissenschaftler, also der Kapazität nach durchaus beschränkt befähigte Individuen in der Lage sind, über das Weltmeer des Wissens zu navigieren, auf Ziele hin, die im wissenschaftlichen Zeitalter verloren gegangen waren, aber einst die Tugenden der weisen Herrscher, der wissenden Führer und Kultpriester bestimmten. Es ist die Fähigkeit zur Supervision, zum Erfassen eines Ganzen im Rundumblick, den Horizont auf jene Weise zu schließen, dass man die Welt als die eine wahrnehmen kann, ohne ihre Vielfalt unter das Joch einer Synthese zu zwingen, die doch Gottfried Benn sich und seinen Kollegen verboten hatte.

Theweleit hält Kurs in der schier berserkerhaften Lust an der Bemeisterung/Bewältigung von Problemen, die von keiner noch so raffinierten Philologie oder durch keinen noch so delikaten kulturwissenschaftlichen Ansatz gelöst werden können. Ihn treibt, wie alle Heroen, die reine Anstrengungslust, die von der eigenen Endorphin-Ausschüttung als Prämie für die Anstrengung gewährt wird. Ich nenne diesen Lustgewinn durch ungeheure Kraftanstrengung, durch Pflichterfüllung und rigide Selbstausbeutung „augiastisch“ – entsprechend jenem Lustschauder, der den Herkules nach der Reinigung der im Korruptionssumpf erstickten Metropole des Königs Augias erfasste (die Herkules-Exegese ist eine der drei dominierenden Komponenten im „Buch der Königstöchter“). Herkules immerhin war ein Halbgott, dem seine Begabung zum Heroismus bereits in die Wiege gelegt worden war und der nie von der Langeweile nach selbstverständlichem Erfolg bedroht war, weil er den Wechsel zwischen orgiastischer und augiastischer Lust immer erneut vollziehen konnte.

Theweleit, fünftes Kind eines Bahnbeamten, konnte auf eine derartige Mitgift nicht vertrauen. Ihm als nicht genealogisch privilegiertem, besitz- und beziehungslosem Flüchtlingskind blieb nur die symbolische Eroberung einer Entwicklungsperspektive für sein Leben, das durch den Realverlauf der Geschichte aus den Fesseln des Faktischen in das unbegrenzte Feld der Möglichkeiten überführt worden war. Viel zu selten wurde bisher erkannt, dass Flucht und Vertreibung Flüchtlingskindern die Chance bietet, sich jenseits der vorgegebenen Familienbiografien im gesellschaftlichen Großen und Ganzen als eigenständiges Potential zu imaginieren. Wo die Bindungen an die Realität durch Krieg zerstört werden, eröffnet sich der Einbildung die symbolische Begründung eines Geltungsanspruchs aus eigener Kraft, nämlich der Autorität durch Autorschaft.

Heute jedenfalls kann sich Theweleit in weit höherem Maße eines selbstgeschaffenen Kanons vor Bücherregalen vergewissern, als es Gründern von Kettenläden und Konsumgüterimperien vor der Produktpräsentation in ihren Niederlassungen gelingen kann. (Sie wissen, dass ihnen wie z. B. dem König Schlecker jederzeit der Garaus droht; davor jedenfalls ist Theweleit durch Machtaskese gefeit wie Siegfried durch das Drachenblut.)

Aber jenseits dieser symbolischen Weltnahme im Werk und durch das Werkschaffen in tatsächlich herkulischen Dimensionen eröffnet Theweleit mit der Erschließung der Mythen als Historiografie und der Enträtselung der Mythogeografie als Vermessung der realen Welt den Zugang zum gegenwärtigen Weltgeschäft und zur Weltpolitik. Wissenschaft als Gerüchteverbreitung betreiben heute selbst Nobelpreisträger, wenn man ihnen ständig neue Forschungsergebnisse abpressen will, um die wirtschaftlich auszubeuten. (Vierteljährlich lancieren Pharma-Industrie, Apotheken-Lobby, Ärzteschaft-Behuldiger vage Hoffnungen auf endgültige Durchbrüche in Therapiefeldern, in denen bisher Verantwortlichkeit mit der Feststellung abgewiesen wurde, auch die genialsten Weißkittel seien schließlich hälftig auch nur Menschen.)

Märchenhaft sind die Erzählungen über Start-ups in der Chancengleichheit für alle jungen Zeitgenossen, denn tatsächlich habe ja jedermann die gleiche Aussicht, 7 Richtige im Lotto zu tippen.

Sirenengesänge verbreiten Zeitungen und Fernsehen über Casting Shows oder Germany’s Next Top Heroes, ganz so, als schrieben sie alle nach der Bibel auch den Homer in „gerechte Sprache“ um.

Und schließlich ist die Verkündigung von freier Wirtschaft und dem Markt als Regulativ inzwischen zu einem Mythos ausgearbeitet worden, dem Künste und Wissenschaften, Kirchen und Unternehmen, Parteien und Verbände als einzig verbliebener großer Erzählung folgen. Das ist weit umfassender als die Verständigungsformel, Kapitalismus sei tatsächlich eine Religion und das Geld/Kapital erfülle allein in der realen Welt alle Zuschreibungen, die in vorkapitalistischen Zeiten den Göttern oder dem Gott galten – umfassender insofern, als eben die Strukturgleichheit zwischen wissenschaftlichem und mythologischem Procedieren unübersehbar geworden ist. Werbung ist generell auf mythologische Überhöhung der Produkte verpflichtet; Politpropaganda macht uns weis, dass Entscheidungen alternativlos seien, wodurch Politiker sich von aller unangenehmen Zurechnung heikler Motivation selbst freisprechen. Die Gesetze des Marktes werden von ihnen ins Spiel gebracht wie einst der unumstößliche Ratschluss der Götter oder der Selbstlauf der Ereignisse nach den Gesetzen der Natur. (Das heißt nach der Feststellung „deus sive natura“, dass die positivistische Faktenhuberei der Wissenschaft von der überbordenden Fantasie der Spiritisten nicht unterschieden werden kann.)

Reformpädagogen aller Selbstüberhebungsklassen verbreiten als sicheres Wissen, dass nur mangelnde Integration, mangelnde Chancengleichheit, mangelnde staatliche Fürsorge und mangelnde Individualbetreuung für gescheiterte Biografien verantwortlich seien – Medeas Kinder könnten eine glückliche Zukunft erwarten, wenn der Vater, statt karrierebefördernd fremdzugehen, sich um weltoffenes Familienleben kümmern würde.

Den Theweleitschen Erzählungen zuzuhören, kann den Realitätssinn von Zeitgenossen jedenfalls besser befördern als die allnachrichtliche Verlautbarung der Börsenkurse oder die Verbreitung von Zukunftsgewissheit durch die Prognosen der Wirtschaftsweisen oder der think tanks. Gerade wenn der Unterschied zwischen dem Theweleitschen Epos und den Mitteilungen der Wirtschaftsinstitute im Blick auf Vermögensmehrung unerheblich sein mag, bleibt den Zuhörern Theweleits der vitalisierende Effekt seiner Erzähldynamik und Sprachmächtigkeit – ein ästhetisches Vergnügen der Stimulierung von Einbildungskraft, Zornesenergie und erfüllbarer Aufforderung, sich selbst als Autor zu erproben.

Zum Beschluss sei mir erlaubt, dass ich eine eigene Rolle für mich ins Spiel bringe, eine Rolle, wie sie Theweleit selbst in der Schrift „Objektwahl (All You Need Is Love …)“ auffällig darstellt. Es ist die Rolle der Emma Jung, die sich in rührender wie naiver Weise bemühte, das Zerwürfnis zwischen ihrem Mann Carl Gustav Jung und Sigmund Freud aufzuklären und aufzuheben. Mein Herzenswunsch wäre es, die Heroen des literarischen Werkschaffens im Deutschland der Gegenwart miteinander in Beziehung zu bringen. Sloterdijk und Theweleit sind ohne jeden Zweifel die literarisch höchstrangigen und nach erwiesener Leistung unübertroffenen Beispielgeber für alle, die noch zu hoffen wagen, dass die künstlerischen/literarischen/philosophischen Erschließungen des Weltzugangs den Zeitgenossen zuträglicher sein könnten als die von Handel und Wandel in Gemeinschaften der Unternehmen, der Kulturen und Kirchen. Die beiden Autoren arbeiten in deutlich unterschiedenen Ansätzen und ihrer Erkenntnissummen, aber sie repräsentieren ein Anspruchsniveau und eine Werk- und Wirkungskraft, die niemand sonst erreicht. Sie sind Generationsgenossen in den gleichen zeitgeschichtlichen Horizonten, sie starten von in jeder Hinsicht offenen Ausgangspunkten und ihnen wurde schicksalsgnädig gewährt, gut vierzig Jahre lang kontinuierlich arbeiten zu können. Sollte nicht auf unser aller Gesicht sich der Vorschein eines intellektuellen Glückserlebnisses legen, wenn wir nach Horkheimer und Adorno, nach Frisch und Dürrenmatt, nach Klaus Heinrich und Taubes, nach Beuys und Kiefer nun endlich auch Theweleit und Sloterdijk neben- und miteinander ins Abendrot der Europadämmerung wandeln sähen?