Immer noch halten die Dorfweisheit wie das Salongeraune Pädagogik für ein Instrument der erwartungsgemäßen Ausrichtung junger Menschen auf ebenjene Erwartungen der Eltern, Lehrer und Arbeitgeber, die diesem „erwartungsgemäß“ zugrunde liegen müssen. Das bemängelt zumindest der Philosoph und Kunstvermittler Bazon Brock und widerspricht.
Natürlich bekennen alle selbstgewiss ihren Abscheu vor der Pädagogik des Nürnberger Trichters und verpassen damit gerade eine entscheidende Chance der Bildung, nämlich das Erfülltwerden mit Enthusiasmus und Lebensgier durch „heiligen Geist“ – in diesem Fall pädagogischer Eros genannt. Denn nach der Auffassung, dass der Körper gleichsam ein Gefäß sei, das mit Lebensenergie gefüllt wird, fährt die Begeisterung in das jugendliche Gemüt wie ein Blitz der Erleuchtung.
Heilig ist der Geist im Alltag als Heilender, der das Gefühl der Verlassenheit, der Hilflosigkeit und Angst vor Willkür zu beherrschen lehrt.
Die frühen Lehrkräfte, das waren sehr häufig Armeeveteranen und Dorfpastoren, wurden zur Heilung der Desaster des Dreißigjährigen Krieges mit der Gründung von „fruchtbringenden Gesellschaften“ zu examinierten Examinierern fortgebildet. Sie hatten sich nach dem Muster des Hippokratischen Eides der Ärzte in Selbstkontrolle zu bewähren. Für diese Zivilisierung der Zivilisatoren, also die Belehrung der Lehrer, kursierten seit Comenius elaborierte Pädagogiken als Anleitungen. Denn die „Führer der Jugend“ mussten sich entsprechend der neuen Forderung, dass nur Examinierte examinieren dürften, selbst kontrollieren, um ihren Geltungsanspruch als Lehrpersonal sinnvoll zu behaupten. (Man vergleiche dazu die in Träumen ausgelebte Angst der Abiturprüfer, selbst das Abitur nicht mehr bestehen zu können!)
Spätestens seit Einführung der Schulpflicht galt es, sicherzustellen, dass das Lehrpersonal im Lauf der Berufsjahre einen Mindeststandard des Wissenserwerbs einhält. Die Pädagogik stellt dem Lehrpersonal dazu Kriterien der Selbstkontrolle zur Verfügung, um Privatfantasien, religiösen Bekenntnismutwillen und politische Parteinahme zu verhindern, denn diese Formen des Beliebens sind durchaus angetan, die Arbeit der Lehrkräfte in Willkür abdriften zu lassen. So weit die Anmerkung im Groben, und nun deren Übertragung in die ganz besonderen Konzepte des Bauhauses.
Gegen die oben genannte Allgemeintendenz dürfte die Mehrzahl der Bauhaus-Lehrer kaum als Erzieher ausgebildet worden sein. Sie waren vielmehr praktizierende Künstler. Zwar werden seit rund 300 Jahren auch Künstler auf Kunstakademien befähigt, aber nicht primär zur pädagogischen Reflexion, sondern zur künstlerischen Produktion. Die Ausbildung an den Akademien erfolgte einerseits durch Nachahmung derer, die schon vermochten, was die Schüler zu lernen bemüht waren, andererseits durch die Befolgung eines Kanons von Minimalstandards für ebenjenes Können aus Geläufigkeit.
Handwerk verwandelt Wissen
Letzteres wird sehr gerne als steriler Formalismus der Regelbefolgung (Akademismus) diskreditiert. Man hatte diese Ausbildungsverfahren über Jahrhunderte im ständisch organisierten Handwerk erarbeitet – unter strenger Kontrolle durch Prüfungen des Grads der Befähigung für die Zulassung der Gesellen oder Meister zu den einzelnen Zünften. Die Prüfenden waren selbst bewährte Zunftmitglieder.
Seit die Humanisten im 15. Jahrhundert die augusteische Maxime wiederentdeckt hatten, dass auch handwerkliche Tätigkeit Erkenntnisgewinn mit sich bringt, wurde die Differenz von implizitem Wissen (wie im Handwerk) und explizitem Wissen (wie in der Wissenschaft) so weit verringert, dass bildende Künstler wie Leonardo als Genies der Erkenntnisstiftung erkannt werden konnten. Andererseits konnten so auch Wissenschaftler die handwerklichen Darstellungskünste, zum Beispiel in der Medizin seit Vesalius, als entscheidende Form der Entwicklung des Wissens nutzen. Spätestens seit der Verpflichtung jedes Wissenschaftlers auf Anwendung von bildgebenden Verfahren der elektronischen Medien ist diese Annäherung von Handwerk und Erkenntnisstiftung im Begriff der bildenden Wissenschaften zu würdigen.
Die Bauhaus-Konzepte der Einheit von Individualarbeit und Teamarbeit, von Kunst und Technik, von Wissenschaft und Handwerk zielten auf die wechselseitige Durchdringung von explizitem und implizitem Wissen. Wer entdeckt, wie eine geradezu unglaubliche Wissensfülle unausgesprochen in die handwerklichen Praktiken eingegangen ist, wird nicht mehr auf dem Gegensatz von Handarbeit und Kopfarbeit bestehen. Immanuel Kant hatte um 1770 noch behauptet, dass „wir nur begreifen, was wir selbst machen können“. Aber wie zuvor schon Alexander Gottlieb Baumgarten gezeigt hatte, schien die Arbeit der Handwerker und Künstler auch durch Geläufigkeit und ohne Begreifen erfolgreich zu sein, ja im Gegenteil: Das Begreifen dessen, was wir da tun, würde die größte Anzahl unserer Taten verhindern müssen: Kriegführung, Gewaltausübung, Auslöschungskonkurrenz, Zerstörung als Schöpfung, Giftgebrauch bis hin zur falschen Ernährung et cetera.
Bauhütte und Mimikry
Wenn wir so das Tun verstünden, könnten wir es beim Verstehen belassen. Das aber hieße, die Anlässe unseres Verstehens immer weiter zu reduzieren, bis es nichts mehr zu verstehen gäbe, weil wir ja nichts mehr machten. Außerdem gilt die allgemeine Erfahrung, dass man nicht einfach tun kann, was man begrifflich postuliert, weil es eine einfache Übersetzung des Begreifens ins Ergreifen mit der Hand nicht gibt.
Jede Arbeit mit einem Begriff verändert ihn, erst recht als Grundlage verständnisgesättigten Tuns. Im Tun aber entsteht das Neue als unvermeidliche Abweichung zwischen Begriff und Anschauung, zwischen Wissen und Tun oder zwischen Denken und Sprechen, was ich einmal die Erzeugung der ästhetischen Differenz genannt habe. In dieser Differenz gründet die Transzendierung des immer schon Gewussten und führt zur einzig wichtigen, zur innerweltlichen Transzendenz, in der die Reflexivität von Wissen und Handeln mit einem Mal produktiv wird.
Für das Eröffnungsprogramm des Bauhauses, für das Feininger seinen berühmten Holzschnitt entwarf, berief sich Gropius ausgerechnet auf ein „vormodernes“ kulturgeschichtliches Zeugnis, nämlich die gotische Kathedrale. Die Bauhüttengemeinschaften gaben für die Bauhaus-Teams das überzeugendste Beispiel für die Macht des impliziten Wissens, denn die Kathedralbaumeister hatten keine wissenschaftlich elaborierte Theorie, die sie in architektonische Praxis hätten übersetzen können. Vielmehr verließen sie sich auf die Erfahrung, dass im sinnfälligen handwerklichen Tun genügend implizites Wissen am Werke sei, um selbst die monumentalsten Artefakte im Vertrauen auf die Kraft des Tuns zu wagen. Nicht zu verwechseln mit manchem katastrophalen Einsturz von Neubauten, den man mit handwerklichem Pfusch anstatt mit mangelnder theoretischer Durchdringung erklären kann – ein Sachverhalt, der jüngst beim Zusammenbruch der Genueser Autobahnbrücke auch strafrechtlich Beachtung fand, gerade weil in der Papierform des Entwurfs, also auf der Begriffsebene, das Projekt vollkommen sicher gewesen zu sein schien.
Bauhaus als moderne, zeitgemäße Übersetzung von Bauhütte setzte also auf die Produktivität der ästhetischen Differenz von Anschauung und Begriff, von Denken und Handeln. Beachtenswert ist, wie in den Bauhausfesten die zur ästhetischen Differenz unabdingbare ethische Differenz spielerisch thematisiert wurde, nämlich als mutwillige Abweichung von Denken und Kommunizieren, von Begreifen und Handeln im Lügen. In ihrer politischen Orientierung bezeugten Bauhäusler noch bis weit in die Nazizeit hinein das epistemologische Konzept der Natur in Mimikry, Tarnen und Täuschen: das Verhältnis von Wesen und Erscheinung so zu entfremden, dass Zensur ins Leere laufen würde – „Ja-Sagen als Widerstand“.
Wenn auch in den ersten Bauhaus-Jahren Bauhausmeister wie Johannes Itten noch Selbstverständnisse von Spiritualgemeinschaften zur Bauhauspädagogik entwickeln zu können glaubten – ein Irrtum, den später Hannes Meyer in der Gleichsetzung von Pädagogik und Parteiarbeit wiederholt, ist doch der kulturgeschichtlich wichtige Kern des Bauhaus-Konzepts eher in der Ästhetik der Geschmacksbildung zu sehen, wie sie seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts von England aus in Europa Geltung gewann (Reinheit, Klarheit, Einfachheit). Sie liegt auch näher an der Poetik des epischen Theaters und des Agitprop der Arbeiterkultur als an der Orientierung an der akademischen Disziplin Pädagogik, gar Volkspädagogik.
Anleitung zur Selbstkontrolle
Die Programmatik bestimmt die Pädagogik als eine Anleitung zur Entwicklung und Selbstkontrolle der Künstler, die immer in Gefahr sind, das erfolgreiche Wirken in der Ausbildung über die Entwicklung der eigenen künstlerischen Arbeit zu stellen. Denn die Wirkung ihrer Arbeit mit den Studierenden konnten sie unmittelbar erkennen und genießen, während die Wirkung der eigenen künstlerischen Arbeit weitgehend der Hoffnung überlassen blieb, später und anderen Orts würde man die wahren Qualitäten der Meister erkennen. Die Meisterschaft bestand demzufolge in der souveränen Fähigkeit, wirkungs- und anwendungsbezogen zu arbeiten und damit den Unterschied zwischen der Entwicklung der Künste und der Macht ihrer Wirkung als angewandte Künste weitgehend einzuebnen. Im Gegenteil: Die Funktion des Werks als Wirkungskraft wurde wichtiger als das Werk als solches.
Die Bauhaus-Pädagogik ist deshalb überwiegend eine Bewertung der beabsichtigten Wirkung in Abhängigkeit von der künstlerischen Eigenlogik des Werkschaffens: 1957 wird dies Marcel Duchamp in seiner Programmrede „Der kreative Akt“ in Philadelphia als das Verhältnis der Intentionalität des Produzierens zur Rezeption erschließen – in der grundlegenden Differenz von gewolltem, aber wirkungslosem Ansinnen der Künstler und der tatsächlich rezeptionsästhetisch sich durchsetzenden, aber vom Künstler nicht beabsichtigten Wirkung.
Heute wird die Bauhaus-Pädagogik über die Zwischenstationen Marcel Duchamp, Waldorfpädagogik, Black Mountain College, HfG Ulm, die Zeitschriften „Schule heute“ mit H. K. Ehmer und „Ästhetik und Kommunikation“ mit Knödler-Bunte am angemessensten in der „Wuppertaler Schule“ (Peter Sloterdijk) repräsentiert, der neben mir auch Heiner Mühlmann, Ulrich Heinen, Axel Buether, Katja Pfeiffer und Kristian Wolf angehören. Der Fachbereich 5 der Bergischen Universität GHS Wuppertal hatte mit einem seiner Fächer, dem Industrial Design unter Odo Klose, auch größte Wirkung auf die Deng’schen Reformen in China. Und Ulrich Heinen kämpft für die Rückführung der Kunstpädagogik zu den Grundlagen des Gestaltens als Vermittlung von implizitem Wissen, die der unproduktiven akademischen Selbstbespiegelung von zu künstlerischer Arbeit Unwilligen, weil Begriffsgläubigen, entgegenwirken will.
Seit Beginn meiner Lehrtätigkeit 1965 im Fach „Nichtnormative Ästhetik“ an der Hochschule für bildende Künste Hamburg schlug ich vor, für diesen Bereich zwischen Produktion und Rezeption den Status des „theoretischen Objekts“ einzuführen. Er kennzeichnet Erkenntniswerkzeuge, mit denen die Umsetzung von implizitem in explizites Wissen und vice versa erreicht werden kann. Die theoretischen Objekte weckten damals das allgemeine Interesse für die auf ganz neue Weise begründeten Lehrmittelausstellungen der „didacta“. Und diese Lehrmittel schienen uns auf weite Strecken interessanter als das Gros der Ausstellungsstücke in Museen.
Das bekannteste Beispiel für damals von mir entwickelte theoretische Objekte ist ein Doppelpack von Kleiderbürsten, das den wissenschaftlich abstrakten Begriff der Reflexivität für das Alltagsverständnis erschließt. Das Bürstenpaar verweist auf die Erfahrung, dass die Funktionslogik der Bürste durch das Entfernen von Staub auf Textilien oder das Bürsten der Haare zur Verschmutzung der Bürste führen muss. Jeder weiß intuitiv das Prinzip des Bürstens selbstbezüglich auf die Bürste anzuwenden, also die Bürste zu bürsten, um sie zu reinigen. Eine stumme alltagspraktische Tätigkeit wie das Bürsten der Bürste wird durch Verallgemeinerung wissenschaftlich begriffsbildend: Selbstbezüglichkeit/Reflexivität geht weit über Rückbezüglichkeit hinaus. Alltag würdigt das wissenschaftliche Arbeiten als Umsetzung von implizitem in explizites Wissen.
Vom Bauhaus zum Action-Teaching
Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ab 1962, das einen Gutteil der Katholischen Liturgie als nicht mehr zeitgemäß verabschiedete, sind zeitgenössische Künstler der Aktionsform Performance zugewandt – ein gelungener Transfer von Religionspraxis in Kunstpraxis. Zunächst galt Performance nur als begriffliche Alternative zum Happening. Aber in Kombination mit dem damals entstandenen Konzept des Environments galt es, die künstlerische Aktivität in entsprechend definierte Umgebungen einzubringen. War das Happening, vor allem von Vostell, Lebel, Schneemann und Rauschenberg, noch als nicht von ihrer Umgebung/Environment/Kulisse definierten Verlaufsformen verstanden worden, so orientierte die Performance das Aktionsgeschehen auf die definierte Umgebung des Akteurs.
Die Entwicklung ging vom Bild als Gemälde an der Wand über den Betrachterraum vor dem Bild und die erweiterte Zentralperspektive hinaus zum Aktionsraum der Rezeption; aus diesem Grunde installierte ich an der Hamburger HFBK eine Klasse für Rezeption analog zu den Werkstätten der Produktion. Rezeption als theoretische Arbeit der Erschließung eines Bildsinns wurde zur Hauptform: Der Sinn des Geschehens erschloss sich durch theoretisches Tun, also Aktionsformen des Betrachtens, des Zuschauens und des Zuhörens. Für die Künstler wurde Ausstellen zur kuratorischen Arbeit. Für die Rezipienten wurde Betrachtung zur Duchamp’schen Produktion des Werkes.
In bewusster Orientierung an Action-Painting, Action Music, Action-Theater habe ich ab 1959 parallel zu Allan Kaprow für diese Einheit den Begriff „Action-Teaching“ eingeführt. Die Wurzeln für die letzten drei und damit für die Aktionslehrstücke lagen bei Alfred Jarry, den Dadaisten, Rotschenko und dem Bauhaus – zum Beispiel mit Oskar Schlemmers „Triadischem Ballett“. In diesem Sinn ist Unterricht die Performance von Pädagogik mit der Heranbildung der Schüler zu Theoretikern in Aktion, oder: Rezeption, umgesetzt in eigenes Handeln des Rezipienten. Beides zusammen ergibt im Idealfall das, was heute als Ballett der Vertanzung aller aktuell diskutierten gesellschaftlichen Interessantheiten im Tanztheater die Feuilletons füllt.