Buch Wien Modern 33

Stimmung. 29.10. – 29.11.2020

Essays (Festivalkatalog Band 2)

Redaktion: Angela Heide

Verlegt von Wien Modern, Verein für neue Musik

Der Festivalkatalog Wien Modern 33 umfasst insgesamt 3 Bände: Programm (Band 1), Essays (Band 2), A-Z (Band 3)

Erschienen
29.10.2020

Verlag
Wien Modern, Verlag für neue Musik

Erscheinungsort
Wien, Österreich

ISBN
978-3-9504349-4-1

Umfang
247 S.

Einband
Gebunden

Seite 185-188 im Original

Das Unding an sich: die endliche Unendlichkeit

Hofstetter Kurt als Magier der irrationalen, also theoretischen Kunst

Unter den Repräsentanten der «theoretischen Kunst» ist Hofstetterkurt (auch Google, Amazon und Gott haben keinen Vornamen) ohne Zweifel ein Großmeister, denn die Konsequenzen seiner Arbeit sind schier unabsehbar. Er hat den Geltungsanspruch der Kunst in einer Position gestützt, die bisher nur Mathematikern und Philosophen als verbindlich zugesprochen worden war. Ausgerechnet ein bildender Künstler konnte mit einem Gedankencoup für die Gleichheit von Wiederholung und Abweichung im beständigen Abweichen sogar eine der ältesten Kulturtechniken, nämlich die Weberei, entscheidend erweitern. Mit der Hofstetterkurt-Bindung hat die Webtechnik einen neuen Höhepunkt erreicht. Die traditionelle Verknüpfung von Fäden zum Stoff, wie sie die Heimwebstühle und seit 1800 die mechanischen Webstühle leisten, wurde schon einmal durch den Jacquard-Webstuhl revolutioniert mit Bildschablonen, deren Lochgefüge auffällig von der gewohnten Horizontal-Vertikal-Bewegung von Kette und Schuss abweicht. Aber mit der Fadenführung durch die Löcher der Bildschablone bleibt es bei einem evidenten, augenscheinlichen Nachvollzug 166 einer Vorgabe, die die zuvor gestaltete Schablone liefert.

Mit der Hofstetterkurt-Bindung folgt der Webvorgang weder der traditionellen noch der Schablonenführung. Die Fäden werden aperiodisch und asymmetrisch geführt und erzeugen dennoch eine über die traditionelle Leistung hinausgehende Festigkeit und Luftdurchlässigkeit des Stoffes. Das Irrationale der Einheit von Chaos und Ordnung oder die spirituelle Form der wiederholten Einmaligkeit wird auf eine Weise materiell, die alle bisherigen Verfahren der Realisierung von Konzepten überbietet. Sogar das Informel als Technik der Maler der 1950er-Jahre, von Pollock 1949 initiiert, wird überholt, denn im Unterschied zur informellen Vorgehensweise braucht die Hofstetterkurt-Bindung nicht einmal mehr den individuellen menschlichen Impuls. Auch für die in den 1960er-Jahren weltweit auffällige Op-Art leistet Hofstetterkurt Entscheidendes, indem er die bloße Serialität durch Aperiodizität übertrifft. Bei Hofstetterkurt wirkt der Weltgeist, der Geist der Mathematik höchstselbst. Er ermöglicht die praktische Demonstration dieser Kraft für unsere Alltagswelt. Man sollte deswegen von Hofstetterkurts Entwicklungsarbeit sprechen, die die Einheit von Erfinden und Entdecken bildet.

Leibniz als ein erster Weltgeist der Mathematik ließ das gute Unendliche als hilfreiche Denknotwendigkeit vertraut werden. Er befreite das Denken von den höllischen Gespenstern des bloß sprachlich Undenkbaren, Undarstellbaren und Unvorstellbaren, indem er die mathematische Darstellung und Vorstellung dachte. Das formulierte er als das Konzept der besten aller Welten und begründete für die Menschheit die Hoffnung, endlich denken zu lernen, anstatt der Klapp- und Schnappmechanik der Sprachalgorithmen/Grammatiken unterworfen zu bleiben. Der Unterschied zu allen früheren Versuchen dieser Art bleibt, dass Leibniz mit der Infinitesimalrechnung einen unüberbietbaren Beweis für unsere Fähigkeit bietet, die schlechte Unendlichkeit in eine gute zu überführen.

Generationen von Künstlern und Theologen haben seit Leibnizens Erweis versucht, außerhalb der Mathematik die gute Unendlichkeit zur Gestalt zu bringen, evident werden zu lassen. Das wurde schlichtweg zur Definition der Leistungsfähigkeit der bildenden Künste, der Poesie, der Denkkunst, der Heilkunst, der Kochkunst: Die unberechenbare, willkürliche, bösartige, bedrohliche Unendlichkeit als Unerfassbarkeit und Unbestimmbarkeit unter Kontrolle zu bringen, das Undarstellbare eben als undarstellbar darzustellen, das Unvorstellbare als unvorstellbar vorzustellen und das Undenkbare als undenkbar zu denken.

Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die an Hofstetterkurts Verfahren geknüpfte Frage, ob etwa die menschlichen Träger der in Hofstetterkurt-Bindung hergestellten Textilien ein bisher weitgehend vernachlässigtes Sensorium für Unanschaulichkeit und Unvorstellbarkeit entwickeln. Ich trage, wo ich gehe und stehe, ein Hofstetterkurt-Hemd wie ein Gedankengefüge auf dem Leibe. Ich trainiere mich gerade darauf, über das materielle Objekt hinaus so etwas wie metaphysisches Gespür zu entwickeln, denn der Meister behauptet, mit seiner «Ambient Tactile Art» im Verweis auf Untersuchungen zum Phänomen des Atmosphärischen, es gebe über den Tastsinn eine besondere Wahrnehmung der Beziehung zwischen Körper und Umwelt.

Um diese Behauptung nachvollziehen zu können, müssen wir einen kleinen Spaziergang durch die blühenden Gärten der Theorien absolvieren. Achtung: Theorie heißt hier nicht gedanklicher Vorlauf des praktischen Handelns, sondern ganz im altgriechischen Sinne das Resultat der Tätigkeit eines Zuschauers, Zuhörers oder Betrachters, die vielen einzelnen Elemente eines ihm vor Augen geführten Geschehens in einen Sinnzusammenhang zu bringen. Theoretiker war und ist der Rezipient. Für die theoretische Kunst gilt Joseph Beuys' Übersetzung der Tempelinschrift «Erkenne dich selbst» in «Wer nicht denken will, fliegt raus».

Die Arbeit des Zuschauers/Zuhörers sollte nicht ihrerseits als ein Werkschaffen verstanden werden, das dem auslösenden Theater- oder Bild- oder Literaturwerk entspräche. Soweit es objektiviert wird, wenn die Zuschauer/Zuhörer selber Künstler sind, also sprachmächtig, ist das Resultat der Rezeption von Kunstwerken «nur» in der Erarbeitung von Werkzeug des künstlerischen Schaffens zu sehen. Und diese Werkzeuge sind eben theoretische Objekte und nicht Manifeste einer bloßen Umschöpfung des Gesehenen und Gehörten. Zwar wird an Volkshochschulen propagiert, man könne pinselnd, hämmernd oder mit Zupf und Tritt selbst «etwas mit Kunst machen», aber jeder Beteiligte erkennt in der Selbsterfahrung, dass er Zugangsweisen zu ihm konfrontierten Werken notieren kann, die selbst nicht den Status von Werken, sondern den von Werkzeugen haben. Seine Antworten auf die rezipierten fremden Werke bleiben theoretisch. Wenn er mit ihnen arbeitet, erzeugt er theoretische Kunst, die man durchaus sekundär nennen mag, die aber für das Wirksamwerden zumeist größere Bedeutung hat als das Primärwerk. Von Kants Primärwerken bleibt der Hinweis, er habe systematisch entfaltet, was jede sekundäre Rezeption mit der Maxime aufruft: «Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!« Von Goethes Faust bleibt das theoretische Konstrukt jener Kraft, die stets das Gute will und doch das Böse schafft. Für Kafkas Schloss reicht es, das Bild der Systemzwinge aufzurufen, wie es etwa Immendorff verbildlicht hat. Die Bildschöpfungen von Malern als ihre identifizierbare Ikonografie sind Sammlungen jener theoretischen Objekte, die Künstler selbst in der Konfrontation mit Kunstwerken als ihre Form der produktiven Aneignung der Theoriearbeit zu erreichen wussten.

A star is born

Jetzt gibt es durch die Arbeiten von Hofstetterkurt begründete Hoffnung auf neue und tatsächlich leistungsfähige Kraft theoretischer Objekte. Er ist ein Meister des Metiers «Theoretische Kunst». Er vereinigt schon in seinen frühen, unter dem Begriff des Pendelns zusammengefassten Arbeiten Wiederholung und Einmaligkeit oder Periodizität und aperiodische Strukturen und bändigt, wie seine mathematischen Generationskollegen, die kleinbürgerliche Angst vor dem Chaos, indem er die Entfaltungslogiken des Chaos sinnfällig macht.

Alle Künstler sind ihrerseits Rezipienten von bereits vorgefundener Kunst. Also werden sie zu Theoretikern. Hofstetterkurt ist primär Rezipient der Mathematik als einziger tatsächlich universal geltender Manifestation des dauernden Wechsels in verlässlicher Ewigkeit. Er benutzt die Poesie als Werkzeug zur Sprengung der anscheinend undurchdringbaren Einheit von Sprechen und Denken, wie sie vornehmlich in der Mathematik vorgegeben wird. Mit der Eineindeutigkeit der mathematischen Ausdrücke als Gedanken kann man nur als Mathematiker arbeiten. Wie, fragt Hofstetterkurt, lässt sich Mathematik außerhalb der Profession der Mathematiker als Werkzeug nutzen? Kann man einfach Mathematikern dabei zuschauen, wie sie leben, also außerhalb der Mathematik mit den Anforderungen des Lebens mathematisch fertig werden? Das geht ganz sicherlich nicht nach dem Muster: ein Psychiater erwirbt seine Qualifizierung hauptsächlich, um behaupten zu können, er selbst habe keine psychischen Irritationen oder gravierenden Störungen zu gewärtigen, weil er ja über sie Bescheid wisse.

Hofstetterkurt demonstriert Übereinstimmung mit den Haupttendenzen der Kunstentwicklung durch «Theoriebildung», dass das Fruchtbarwerden der Mathematik für das Leben der Mathematiker bzw. der Theologie für den Kommerz (Kapitalismus als universeller Glaube) oder der Genetik für die Prozesssteuerung nur durch die Poetisierung der Begriffe möglich ist. Die gute Unendlichkeit auf dem eigenen Leib zu tragen, entspricht der weißen Romantik der jungen Dichter und Philosophen um 1800. Novalis nannte das Romantisieren, wir entsprechen dem mit guten Gründen im Begriff des Theoretisierens. Novalis: «Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich [...]» Theoretiker Hofstetterkurt: «Indem ich den hohen Sinn im Gemeinen (dem Hemd auf dem Leibe) finde, das geheimnisvolle Ansehen des Gewöhnlichen (im Pendeln der Pendler) erkenne, dem Unbekannten die Würde des Bekannten (in Pi- und Phi-Größe), dem Unendlichen die Form der Endlichkeit (ewiges Licht jenseits der Erdrotation) gebe, theoretisiere ich, das heißt, ich bringe das Vielgestaltige, Unvereinbare, kaum Identifizierbare in einen Sinnzusammenhang.» Genauso versöhnt er durch die magische Wandlung von Zeit zu Raum und Raum zu Zeit (Rhythmen werden zu Akkorden und Akkorde zu Rhythmen) Atonalität und Tonalität.