Buch Sergey Dozhd: Sciarcism

Scientific Basics of Inner Artistic Space

Erschienen
01.01.2015

Verlag
Pareto-Print

Erscheinungsort
Tver, Russland

ISBN
978-5-906447-06-7

Umfang
150 S.

Einband
Hardcover

Seite 148-151 im Original

Formfordernde Gewalt der Leere

Sergey Dozhd gebraucht für seine Proposition/für seine Setzung „PSY ART“ eine Reihe von Begriffen, darunter vor allem den der Abstraktion. Ich will Dozhd’ Behauptungen ernst nehmen und schlage deshalb in guter wissenschaftstheoretischer Tradition vor, davon auszugehen, dass nur die Alltagssprache die entscheidende Metasprache sein kann, in der Künstler und Wissenschaftler der verschiedenen Disziplinen miteinander arbeiten. Jeder Wissenschaftler, jeder Künstler, der als Demokrat zur Verpflichtung auf Öffentlichkeit steht, muss deswegen die Alltagssprache als Metasprache zu nutzen bereit sein. Alles andere wäre Fachchinesisch, also Verweigerung von Öffentlichkeit zur Durchsetzung von Interessen, für die keine Gesellschaft Wissenschaftler und Künstler durch Finanzierung von Forschungsinstituten und Museen legitimiert. Das kann im Privatbereich von Galerien und Kunsthandel natürlich anders sein. Die sachlich unabdingbare Autonomie für Künstler und Wissenschaftler nenne ich „Autorität durch Autorschaft“, nicht aber Herrschaft von Ideologien oder pseudotheologischem Spiritualismus, die mit der Autorität von Wissenschaften und Künsten an den Markt gebracht würden.

Abstrakte Finanzwelt und abstrakte Kunst

Seit 2008 hat jeder Mensch, zumindest in der kapitalistischen Welt, ein für allemal verstehen müssen, dass die Finanzsysteme (Höhepunkt Investment Industry) ihre ungeheure Dynamik entwickeln konnten, weil sie sich völlig von der Realwirtschaft der Warenproduktion abgekoppelt hatten. Trotz dieser Abkoppelung von der Produktion realer Güter blieben die Investmentbanker normale Menschen, die von ihren Wünschen und Begierden, ihrer Machtgeilheit oder ihren Herrschaftsgelüsten, ihren Ängste und Befürchtungen genau so angetrieben wurden wie zu den Zeiten, als sie noch durch Leistung von Bankiers die Investitionen für zukünftige Warenproduktion ermöglichten. Ja, man kann sagen, dass sich in der abstrakten Finanzakrobatik die psychische Welt (Psychodynamik aus Bewusstsein, Seele, Geist) unmittelbarer und sogar reiner zeigte als bei einem „normalen“ Ökonomen. Der Investmentbanker wurde deshalb auch zum Paradebeispiel für die Neuroökonomie, das heißt, für das wirtschaftliche Handeln von Menschen, die nicht mehr von den Herausforderungen ihrer Lebenswelt, sondern nur noch von der Eigendynamik ihrer Innenwelt getrieben werden.
Solche Abkoppelung von der physischen Welt als Kontrollinstanz der Psychodynamik gab es bisher nur in der Kunst (produktiv) oder in der Psychiatrie (zerstörerisch). Besagte Investmentbanker wirken psychiatrisch auffällig, weil ihre Autarkiebehauptung zerstörerisch und nicht produktiv ist. Seit 2008 zerstörte die abstrakte Finanzindustrie die Weltwirtschaft so komplett, wie es bisher nicht einmal große Kriege vermochten. Auch das wissenschaftliche Bemühen des Ökonomieprofessors Schumpeter, 1942 im Kapitalismus Zerstörung als entscheidende Form des Schöpfertums zu entdecken, wirkt da entweder völlig unethisch oder als Beleg dafür, dass Wissenschaft nicht vor Dummheit schützt.
Das bisher bedeutendste historische Beispiel für die Abkoppelung der Psychodynamik von der Arbeit an der realen Welt bieten die bildenden Künste. Mit Hilma af Klint und Hölzel seit 1900, mit Kandinsky, den Futuristen und Blauen Reitern ab 1910 setzte sich die abstrakte Kunst als nicht-figurativ oder gegenstandslos in Szene – das sind selbstwidersprüchliche Behauptungen, denn ein Kreis, ein Quadrat, eine wirre Linie oder ein Klecks sind gegenständlich und die Geometrie ist figurativ wie die Kühe bei Rubens oder die Tannen bei Caspar David Friedrich. Das heißt, künstlerische Arbeit im Medium sichtbarer Bilder ist zwar physisch, meint aber gedachte Welt jenseits der Physik, also des Gemäldes jenseits seiner materialen Gestalt.

„Abstrakte Kunst“ konnte in zwei Hinsichten verstanden werden: Zum einen als Abkoppelung der Zeichen von ihren geläufige Bedeutungen, also als Hantieren mit zeichensprachlichen Leerformeln. Dieses Verständnis wurde im 20. Jahrhundert in den kapitalistischen wie den sozialistischen Gesellschaften als Formalismus abgewiesen, weil es zum Beispiel gefährlich sei, wenn ein Chirurg sein Handwerkszeug abgekoppelt von dessen Bedeutung durch medizinische Bestimmung, etwa unter ästhetischen Gesichtspunkten am Körper des Patienten einsetzte. Nur das medizinische Wissen, also die eindeutige Bedeutung/Semantik garantiere den richtigen und rechtmäßigen Einsatz der Chirurgeninstrumente. Wer die Semantik zerstöre, indem er sich autokratisch beliebiger anderer Gesichtspunkte bedient, könne als Arzt nicht zugelassen werden. Aus eben diesem Grunde verbot man vielerorts, abstrakte Kunst dem Publikum zuzumuten; Kunstwissen wie medizinisches Wissen, also Kunst und Wissenschaften galten noch als normativ, das heißt, die Betrachter hatten die Darstellungen von Künstlern und Wissenschaftlern als verbindlich zu akzeptieren. Den Verlust von Verbindlichkeit in der Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem, von Form und Inhalt mussten gerade die Gesellschaften fürchten, die ihre Mitglieder zu kollektiver Höchstleistung zusammenführen wollten. Man orientierte sich für die Zeichenlehre an der mathematischen und militärischen Eineindeutigkeit von Verfahren und Befehl. Noch heute, jenseits des Kollektivzwangs, setzen sich die Einwände gegen die Zerstörung der Verbindlichkeit von Gesetzen und Regeln durch: Wenn gerade Jugendliche in der Inbrunst tiefster Überzeugung behaupten, jeder schaffe sich seine Wirklichkeit selbst, dann wird eben dadurch der Sinn der Begriffsbildung Wirklichkeit aufgehoben und die Willkür wird zum Ausdruck angeblicher Freiheitsliebe.

Die zweite Ebene des Verständnisses von Abkoppelung durch Abstraktion wurde am Beispiel der Lebensreformbewegung in allen europäische Staaten zwischen 1890 und 1935 etwa so begründet: Man kann nicht nur auf Stühlen und Sesseln sitzen; auch Kisten oder Holzblöcke lassen sich als Sitzgelegenheit nutzen. Wenn man den Gebrauch der Möbel von ihrer herkömmlichen Formen abkoppelt und auf Objekte überträgt, die bisher nicht der Einrichtung einer bürgerlichen Wohnung, sondern etwa einer Werkstatt oder eines Feriencamps für Jugendliche entsprechen, hat man sich abstrakte Gebrauchsgegenstände geschaffen, die an die Stelle der herkömmlichen Möbel zu setzen sind. Apfelsinenkisten werden zu Schubladen, Tapezierplatten zu Esstischen, Flaschentrockner zu Kronleuchtern, Fenster zu Bildern in die Außenwelt: Es bleibt aber beim „Wohnen als Aufenthalt in Privaträumen“ und beim Verschieben des Mobiliars zur Variation des Psychoklimas einer Wohnung, auch wenn das Mobiliar abstrakt geworden ist.

Bilderkrieg und Universalienstreit

Mindestens zwei weitere Traditionen der Abstraktion sollten die Betrachter von Dozhd’schen Bildwerken berücksichtigen. Erstens: Seit dem Byzantinischen Bilderkrieg zwischen 730 und 840 in Ostrom/Konstantinopel ist die Frage nach dem Wirklichkeitsanspruch der Ikonen grundlegend für den Geltungsanspruch von Kunst. Damals wie heute geht es um die Frage, ob ein Gemälde etwa der Mutter Gottes, ob vor Goldgrund und mit Goldgloriole oder nicht, als Realpräsenz der Heiligen zu gelten hat oder ob es „nur“ auf die abwesenden verweisen soll. Homoousia oder Homoiousia – das ist das berühmte Jota, das die eine Gruppe der Gläubigen sich nicht nehmen lassen will, um sich gerade von der anderen zu unterscheiden. Es geht um die Frage, ob die Ikone wesensgleich mit dem dargestellten Heiligen ist oder nur einen Grad der Annäherung des Gläubigen an die verehrte Gestalt kennzeichnet.
Im ersten Falle wirkt die Berührung der Ikone wie eine Medizin, im zweiten Falle wie eine Bestärkung des Glaubens, durch die der Gläubige Kraft gewinnt. Beide Operationen beruhen auf demselben psychosomatischen Grundphänomen des Placebo-Effekts.

Die Entgegensetzung von Bildergläubigen und Bilderskeptikern hat im Laufe der Geschichte zu heftigen Verwirrungen geführt. Denn es sind ja die Bildergläubigen, die den Bildwerken geradezu ungeheuerliche Wirkkraft zugestehen; deswegen gehen sie mit Gewalt gegen falsche Bilder vor. Dadurch bestärken diese Ikonoklasten, die Feinde der falschen Bilder, den allgemeinen Glauben an die Macht der Bilder. Wenn also Bildwerke von Zensoren verboten werden, glauben die an die sogar Systeme stürzende Macht der Bilder. Das aber erhöht das Selbstbewusstsein der Künstler in dem Maße, wie man gegen sie vorgeht. Hingegen nutzen die Ikonodulen die Bilder wie andere Attraktoren der Sinnlichkeit wie Sexualität, Design, Mode, Speisengenuss. Für sie sind Bilder Zeichensysteme wie alle anderen Zeichenfigurationen. Heute ist klar, dass beide Auffassungen vom Wesen der Bilder auf die Evolution des menschlichen Hirns, unseres Weltbildorgans, zurückzuführen sind, den sogenannten Placebo-Effekt.
Achtung: Placebos zeigen naturwissenschaftlich nachweisbare Wirkungen, obwohl sie keinerlei Wirkungssubstanz enthalten. Placebos sind kein Hokuspokus und keine spiritualistische Zauberei. Die wirkungzeitigende Form des Nichts in Placebo-Medizinen beruht auf evolutionär entstandenen grundlegenden Koppelungen/Verbindungen von Psyche und Soma, von physischer und metaphysischer Welt. Genau wie ein Placebo ein metaphysisches Medikament ist, so demonstrieren unsere Ikonen-Placebos die objektive Wirkung der Metaphysik durch intrapsychische Operationen wie Denken, Vorstellen, Fühlen.

Alles, was nicht real, also physisch gegeben ist, wird sinnvollerweise metaphysisch genannt. Begriffe wie Gott oder Nachhaltigkeit oder Ganzheitlichkeit oder „die“ Gesellschaft etc. lassen sich nur denken, nicht aber in der physischen Welt sinnlich erfassen. In der sinnlichen Welt gibt es immer nur Verweise auf das, was eben nur gedanklich erfasst werden kann, also Metaphysik ist. Nur wer solche Zusammenhänge ernst nimmt, kann die Behauptungen von Dozhd als sinnvoll erachten und das wollen wir ja versuchen.

Dozhd ist also einer der wenigen Künstler, die gegenwärtig in aller wissenschaftlichen und künstlerischen Nachhaltigkeit den Begriff der Placebo-Kunst entwickeln. Wie gesagt, „Placebo“ meint keine Abwertung, sondern eine extreme Aufwertung, seit die wissenschaftlich betriebene Medizin zweifelsfrei nachgewiesen hat, welchen höchsten Sinn die Naturevolution unseres lebenden Organismus’ als Vermittlung von Psyche und Soma im Placebo-Effekt geschaffen hat.
Zweitens: Man muss wissen, wie im mittelalterlichen Universalienstreit die Frage bearbeitet wurde, ob Abstraktionen etwa in Gestalt von Begriffen auf gleiche Weise real sind wie die Sachverhalte, deren gemeinsame Eigenschaften man im Begriff zusammenfasste. Es gibt rote Lippen, rote Pullover, rote Fahnen, rote Ohren, rotes Blut. Ist der Begriff der Röte auf gleiche Weise real wie die Ohren, Lippen, Pullover etc., deren gemeinsame Eigenschaft, rot zu sein, im Begriff der Röte angesprochen wird? Die einen meinten, die Universalia, die Begriffe als Abstraktion, seien real, die anderen vermuteten, die Begriffe seien nur Hilfskonstruktionen des Denkens durch Substantivierung von Eigenschaftsworten. Auch die Diskussion um die Behauptungen von Dozhd leiden darunter, nicht zu berücksichtigen, dass in der Moderne ausgerechnet die Behaupter des Realitätsstatus’ von Begriffen Idealisten genannt und die Substantivierer als Formalisten qualifiziert werden. So nämlich kann Dozhd als platonischer Idealist oder als Leerlaufmaschinist abgetan werden.

Vergegenständlichungszwang oder Unembodiment

Dozhd verwendet in seinen Selbsterklärungen den Begriff Kunst. Benutzt er ihn realistisch oder idealistisch? Nimmt er die Kunst als das Gemeinsame im Tun aller Künstler an oder partizipieren alle Künstler, seiner Auffassung nach, in irgendeiner Weise an der Kunst als einer metaphysischen Gegebenheit, also etwa einer Struktur des Weltgeistes oder des Antriebs der Evolution?

Kafka hat in seiner Novelle „Vor dem Gesetz“ geschildert, was passiert, wenn jemand nicht in der Lage ist, das Metaphysische (das Gesetz, das Himmlische Reich, die Ewigkeit, die Erlösung) auf sich selbst als kleine physische Entität zu beziehen, weil er Regeln für den Umgang mit dem Metaphysischen wortwörtlich nimmt wie einen Befehl. Der Türsteher, die gesellschaftliche Autorität weist ihn an, auf die versprochene Offenbarung, auf den Eintritt in die Welt des Geistes zu warten. Der arme Jedermann will gehorsam sein und verpasst die Chance, aus eigener Initiative, in eigenem Entschluss, mit eigenem Zugang seine physische Entität anzuschließen.

Wenn Dozhd von der Begründung der PSY ART als Erzeugung von geistigen Räumen spricht, muss man das nicht als Anmaßung, sondern als Selbstverpflichtung sehen, nicht bis zum Offenbarwerden der Wahrheit zu warten, sondern auf eigene Initiative und zu eigenem Risiko sich auf das abenteuerliche Experiment der Entkoppelung und Neuverbindung von Psyche und Soma, von Bezeichnetem und Bezeichnendem, von Syntax und Semantik einzulassen. Er riskiert also, dass seine Arbeiten hinfällig werden, wenn sie sich als nicht verallgemeinerungsfähig erweisen. Das könnte zum Beispiel dann passieren, wenn er zu klären vergisst, ob es nach Eccles nur verkörperten, nach Popper aber nicht verkörperten, vergegenständlichungsfreien Geist gibt. Darüber diskutierten der Neuropsychologe und der Philosoph 1976 unter dem Titel „The mind and its brain“ (Der Geist und sein Medium Gehirn). Selbst die Aussage, etwas sei sinnlos, ist ja ganz und gar sinnvoll und die Aussage zu „Unverkörpertem Geist“, stellt die sprachliche Verkörperung des Begriffs dar. Das heißt, man muss erkennen, dass die Unterscheidung von Syntax und Semantik, von Inhalt und Form, von signifié und signifiant nur in der Einheit des signe, des Zeichens, des Bildes, des Textes möglich ist. Nur im Gemälde lässt sich das Dargestellte zum Beispiel als Pferde auf der Weide vor Greifswald und die Darstellung als akademisch, romantisch, impressionistisch, expressionistisch, futuristisch etc. unterscheiden. Die größte Wirksamkeit hatten die Maler aber, indem sie ihr Publikum verführten, aus einem Segment Natur eine Landschaft zu machen, zum Beispiel die paradiesische Ferienlandschaft. Das hieß, die Betrachter nahmen ihre reale Umgebung, etwa das Südseeferienhotel wie ein Gemälde wahr. Entsprechend reklamierten sie, wenn in diesem Bild ihres Ferienortes die schönen Farben und Formen nicht mit der bewohnten Hotellerie übereinstimmten. Unter diesen Bedingungen ist die Dozhd’sche Fragestellung tatsächlich nur von ihn selbst in seiner praktischen Malerei zu klären. Wir, die Allgemeinheit der Rezipienten, bleiben vor seinen Bildern sitzen wie der Jedermann vor der Tür des Gesetzes bei Kafka. Was aber haben wir dann von den Dozhd’schen Behauptungen? Was bringt uns die Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten?

Wir lernen zum einen, dass Dozhd nicht für uns argumentiert, sondern uns zeigt, wie es jedem Rezipienten gelingen könnte, nach des Künstlers Beispiel für sich selbst die Koppelung von Verkörperung und Geist leistungsfähig zu gestalten. Denn nur in uns als Einheit des Lebendigen ist die Unterscheidung von Körper und Geist sinnvoll.
Zum anderen erschließt sich uns die Ahnung, dass die Fragestellungen für uns nur dann von Interesse sind, wenn wir selber künstlerisch und wissenschaftlich arbeiten und deswegen einer Antwort bedürfen. Auch für diesen Sachverhalt gibt es aus der Geschichte der Bearbeitung solcher Probleme eine höchst effektive Antwort. Bis ins 14. Jahrhundert herrschte bei Juden und Muslimen ganz dezidiert und bei Christen im Sinne des Bilderstreits die Frage vor, wie man etwa dem Bilderverbot (Du sollst dir kein Bildnis von Gott machen) gerecht werden könnte. Denn es wäre ja unsinnig, ein Bilderverbot für Menschen auszusprechen, die gar nicht in der Lage sind, sich ein Bildnis zu machen, die bestenfalls ein privates Vorstellungsbild entwickeln, das keinem theologischen oder wissenschaftlichen Anspruch genügte (Gott als ein alter Vater mit Bart). Das Bilderverbot galt also den Leuten, die Bilder machten, und das heißt, das Bilderverbot ist nur durch Bildermachen zu erfüllen.

Dozhd bewundert ganz nachhaltig den amerikanischen Großmeister Rothko. Und Rothko ist ein Paradefall der ersten US-amerikanischen Moderne der 1950er Jahre, als in der jüdischen Kulturgeschichte aufgewachsene Künstler tatsächlich die grandiosesten Malereien in Erfüllung des Bilderverbots herstellten. Folgerichtig strebt jede amerikanische Universitätskapelle danach, den Studierenden einen Rothko zur Meditation über das Unterlassen als ein Tun anzubieten, also zu malen, um nicht zu malen. Normalerweise glaubt jemand oder er glaubt nicht. Das im Rothko-Gemälde erfüllte Bilderverbot zeigt intelligenten Ungläubigen, dass der Unglaube erst im Zweifel produktiv werden kann, dass man also glauben muss, um Kritik am Glauben üben zu können.

Ähnliches lehrt uns die Geschichte des Glaubens an die Kunst, an das Reich, an die Rasse, an die Geschichte oder an das Gesetz. Die bisherigen Erlösungsgeschichten schildern, wie unter Einfluss von himmlischen Zeichen etwa ein Saulus, der Verfolger der jungen Christengemeinde, zum Paulus wird. Heute gilt es, das Umgekehrte zu leisten, nämlich vom bloß ideologischen oder vom Markt für die Kunst begeisterten Schönredner zum Saulus zu werden. Der fanatisch kunstgläubige Paulus muss zum kritikfähigen Kunstzweifler Saulus werden, um sein begriffsloses Kunstgeplapper in Kennerschaft zu überführen, weil er in der Lage ist, durch hinreichende Kritik das Begriffsgeklingel vom sinnvollen Gebrauch der Begriffe zu unterscheiden. Das ist umso wichtiger, als sich heute nicht nur im islamischen Raum fundamentalistischer Terror breitmacht. Der Marktfundamentalismus in den Künsten ist für die Zerstörung der Kunst mindestens so wirksam wie die Kampftruppen des Islamischen Staats in den antiken Ruinen Syriens. Das sollten endlich auch die orthodoxen Gläubigen erkennen und auf den Unterschied zwischen Dogmatismus und Orthodoxie grundsätzlich bestehen. Insofern ließe sich in aller Ernsthaftigkeit sagen, dass Dozhd ein orthodoxer Ikonenmaler der Abstraktion sein möchte, in der die Wesensgleichheit von Verkörperung und Geist behauptet wird. Im Blick auf den Universalienstreit ist zwischen dem Satz „Ich bete an die Macht der Liebe“ und „Ich bete an die Macht der Kunst“ nicht zu unterscheiden. Anbetungswürdig ist aber nur, was seine Widerlegung, seine Kritik, seine Enttarnung aushält, was durch Zweifel nur umso unbezweifelbarer wird. Eine interessante Position, die im 19. Jahrhundert im Bereich der Orthodoxie etwa von Dostojewski vertreten wurde und deren wissenschafts- wie kunsttheoretische Bedeutung vom Großinquisitor im Roman „Die Brüder Karamasow“ dargelegt wird.

Den großartigsten Beweis für die Bedeutung des metaphysischen Charakters von Kunstwerken wie heute denen von Dozhd liefert Malewitsch selbst mit dem unüberbietbaren Hinweis, dass das Schwarze Quadrat auf die Position der Ikone gehört – nicht, um sie zu ersetzen, zu stürzen oder lächerlich zu machen, sondern sich als Künstler ihrem Wirkungsanspruch auszusetzen.