Buch FABRIC OF ART

FABRIC OF ART. 701 e.V. und renaissance AG, Wuppertal, 2020
FABRIC OF ART. 701 e.V. und renaissance AG, Wuppertal, 2020

Katalog anlässlich der Ausstellung „FABRIC OF ART“ (3.11.– 1.12.2019), in der Historischen Bandweberei Kaiser & Dicke, Wuppertal. Veranstalter: 701 e. V. und renaissance AG.

Mit Beiträgen von: Christian Baierl, Prof. Dr. Bazon Brock, Dr. Astrid Legge, Dr. Michael Leistikow, Dr. Bettina Paust, Prof. Dr. Raimund Stecker, Pia Witzmann

Bestellen können Sie den Katalog gegen eine Gebühr von 10 Euro bei info@701kunst.de. 

Erschienen
01.12.2020

Herausgeber
701 e.V.

Erscheinungsort
Wuppertal, Deutschland

ISBN
978-3-00-066771-8

Umfang
116 S.

Einband
Broschiert

Seite 56-58 im Original

Chinesische Verhältnisse: Kapital und Kultur siegen über Künste und Wissenschaften

Besichtigung letzter Freiheitszuckungen noch nicht vom Markt bestochener Künstler

Fortschritt gibt es tatsächlich, jawohl! Denn es gibt nur noch zwei Kategorien der Orientierung auf künstlerisches Arbeiten in der Gegenwart anstelle des Gewimmels von Begriffen der Ästhetik, der Kunst- und Kulturgeschichte oder der Philosophie. Auf der einen Seite die Angaben zum Wert der Kunst, nämlich den Marktwert; zum anderen Kunst jenseits des Marktes, auch jenseits der Selbstkosten ihrer Herstellung und ihrer Präsentation in der Öffentlichkeit.

Die Marktkunst, von Wolfgang Ullrich auch Siegerkunst genannt, steht für die Rationalität des kapitalistischen Wertesystems. Der Wert einer Arbeit wird durch den Preis ausgedrückt. Selbst bürgerliche Feuilletons teilen den Lesern gerne mit, welche enormen Summen für zeitgenössische Kunst bei Versteigerungen regelmäßig erzielt werden. Die Mitteilung ist von größter Evidenz, denn jedermann muss annehmen, dass die Ersteigerer oder Käufer derartige Beträge für Kunstwerke ausgeben, weil sie sie in besonderer Weise schätzen und das, weil sie Kenner der Arbeitsprozesse und Intentionen von Künstlern sind.

So weit der bürgerliche Ratschluss. Die Wahrheit aber lautet anders. Man kauft, weil man dann nicht mehr genötigt werden kann, Gründe für seine Entscheidung anzugeben, da das Publikum annimmt, man habe selbstverständlich gute Gründe, derart viel Geld für ein paar Quadratmeter Leinwand mit darauf unregelmäßig verteilter Farbe zu zahlen. Wer kauft, braucht keine Argumente! Das erklärt die ungeheuren Umsatzsteigerungen des internationalen Kunsthandels.

Komplementär zu dieser Wahrheit gilt, dass man bei Ablehnung oder Nichtbeachtung von Werken genötigt ist, für sein Urteil und gegen die abgelehnten Arbeiten zu argumentieren. Bürgerlich daran war und ist, dass es tatsächlich noch einzelne Vertreter des alten Bildungsbürgertums gibt, die sich verpflichtet fühlen, wenigstens bei Ablehnung zu argumentieren. Man wird sich der Tragweite dieser Konstellation Kunstwerk = Marktwert bewusst und von ihr peinlich berührt, wenn Jurys der Öffentlichkeit die Begründung für die Zuerkennung einer Auszeichnung mitteilen. Da wird zumeist als lobenswürdig dargestellt, was tendenziell für jedes Werk gelten könnte.

In dieser Lage ahnt man, welchen Beweis der Kennerschaft man aufzubringen hat, wenn man Werke ohne Marktwert bewerten soll. Da hilft nicht die Spekulation auf die mögliche Karriere eines Künstlers am Markt, denn man kann sich gar nicht so viele Werke ohne Marktwert mit Gründen aneignen, wie potenziell gehandelt werden könnten. Da ist es befriedigender, sich vorzustellen, dass es bereits Spezialisten unter den Galeristen gibt, die garantiert nur solche Werke anbieten, die keinen Marktpreis haben. Die Aneignung durch Inbesitznahme wird dem Käufer ermöglicht, wenn Künstler sinnvollerweise intelligenten, kenntnisreichen und kommunikationsfähigen Interessenten begegnen wollen. Die Überlassung eines Werkes gegen Naturalien oder Möbel, Kleidung resp. Werkstoffe aller Art sollte an die Bedingung geknüpft werden, dass die neuen Besitzer über ihre Arbeit mit dem überlassenen Werk monatlich einen kleinen Bericht abgeben. Die Werke bleiben prinzipiell Eigentum der Künstler und können auch nicht von den Interimsbesitzern durch Platzierung am Markt zweckentfremdet werden.

Zurück zur Kultur

Wie der Marktwert alle Urteilskriterien nivelliert, so auch der Kulturwert. Das gilt jedenfalls für die Leute, die die Begriffe Kunst und Kultur für gleichbedeutend halten. Peinlich, peinlich, wenn kunstmusikalisches Wirken als eine der Höchstleistungen der Kultur ausgegeben wird. Dabei weiß doch jeder, dass der Streik der Solisten in nichts mit dem Streik der Müllfahrer in Großstädten vergleichbar ist. Wenn der Akademiepräsident versagt, ist das ein Normalfall nolens volens. Wenn die Leitung der städtischen Abwasserreinigung versagt, ist das tägliche Überleben der Stadtbewohner bedroht.

Die Begriffe „Kunst“ und „Künstler“ gibt es erst seit 600 Jahren, als die Generationen der frühen Humanisten zu ahnen begannen, dass alle Kulturen aller Zeiten gleich strukturiert sind und nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten funktionieren. Insofern waren und sind alle Kulturen gleich wichtig und gleichwertig, wenn man sich ansieht, wie es ihnen gelang, für die Mitglieder eines Beziehungsgeflechts verbindliche Antworten auf die Machtfrage, die Gottesfrage, die Zukunftsfrage und die Herkunftsfrage zu geben, vermittelt über leicht kontrollierbare tatsächliche Zugehörigkeit, etwa die Beherrschung sprachlicher Ausdrucksformen.

Wenn aber alle Kulturen aller Zeiten das Gleiche leisten und auf gleiche Weise funktionieren, so lange sie existieren, worin sollte dann etwa ein Entwicklungsfortschritt gesehen werden oder ein Unterschied im Geltungsanspruch für andere, fragten sich die Humanisten. Die Antwort war und ist kurz und bündig: Kulturen leben und legitimieren sich aus der Autorität der Kollektive. Diese erweisen sich als umso dynamischer, als sie auch Autorität durch Individuen zulassen, die, soweit sie Künstler und Wissenschaftler sind, Autorität durch Autorschaft, durch neue Ideen und abweichendes Verhalten entwickelten. Kunst und Wissenschaften sind modern, insofern sie vom Prinzip der Autorität durch Autorschaft getragen werden.

Gesellschaften und ihre Kulturen konnten diese neuen Autoritäten zulassen, so weit diese bekundeten, dass hinter ihnen keine Kirche, keine Gewerkschaft, keine Partei, keine Regierung, keine Armee, kein Geldgewerbe stünden. Aber Achtung: Die Geschichte zeigt, dass Kulturen mit bloßem Wissen, wie man etwas macht, grandiose Architekturen, Bewässerungssysteme, Bebauungspläne oder Handelsbeziehungen aufbauen können. Ihr Vorteil ist eben die Kontinuität als Garantie der Geltung einmal erworbenen Wissens und Könnens. Nur in Europa gibt es (getragen von der christlichen Gotteskindschaft jedes Menschen) seit Petrarcas Zeiten Autorität durch Autorschaft und den permanenten Druck zur Anverwandlung des Neuen an die ökonomische und sozialpsychologische Dynamisierung, die von Individuen ausgeht. Zwar wird jeder Mensch nur lebensfähig durch die Leistungen des Kollektivs, in das er hineingeboren wird, durch Integration in Sprach-, Glaubens- oder Kochgemeinschaften. Individuelle Autorität gewinnt er durch bewusste Abkoppelung oder Ausdifferenzierung aus den kulturellen Kollektiven, weil man Künste und Wissenschaften eben nicht nach den Aktionsmustern einer Kultur betreiben kann, sondern nach den Eigenlogiken von deren Disziplinen. Chemie kann man nicht als Jude oder Chinese betreiben und bewerten; für die Arbeit des Chemikers ist es der Sache nach unerheblich, welcher Glaubens-, Sprach- oder Gesittungsgemeinschaft er zugehört. Es liegt nahe zu befürchten, dass eine Gesellschaft instabil wird, wenn die Wirkungskräfte der Individuen die der Kollektive überwiegen. Deswegen versuchen alle sogenannten konservativen Bewahrer der kulturellen Identitäten mit allen Mitteln, für ihre Kulturen den Vorrang der Kollektivität vor den Individuen zu sichern. Und ebenso verständlich ist, dass mit dem durch die Arbeit der Individuen rapide anwachsenden Druck des Neuen die Bewahrung kultureller Identitäten schwieriger wurde, weswegen spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts so gut wie alle Kulturen mit rigidesten Mitteln versuchen, die Vormachtstellung der Kultur vor den Künsten und Wissenschaften zu sichern. „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, hieß das einmal. Heute reicht es, den Künstlern und Wissenschaftlern die Gelder für ihre Entwicklungs- und Forschungsarbeiten zu streichen, um sie unter Kontrolle zu halten. Die Künstler und Wissenschaftler sollen wieder unter die Fuchtel der Kulturgesellschaft gestellt werden, egal, ob sie rechtsstaatlich verfasst ist oder nicht. Auch am Beispiel der westlichen Staaten kann man heute tagtäglich erkennen, wie mit Forderungen nach politischer, sozialer, kultureller Korrektheit jede individuelle Abweichung von den Standards der Kollektive mit sozialer Ächtung, Berufsverboten und Ausschluss von der Öffentlichkeit bedroht wird.

Neben der Autorität des Kunstmarktes bedrohen heute die Hüter der kulturellen Identität die Autonomie von Individuen als Autoren, seien sie Künstler oder Wissenschaftler. Gegen diese intentionale Rebarbarisierung, gewollte Auslöschung der Freiheit von Individuen, scheint es nur eine sinnvolle Strategie zu geben. Die Arbeit der Künstler und Wissenschaftler sollte sich darauf konzentrieren, den Kulturträgern klar zu machen, dass sie gerade nicht die Kriterien erfüllen, mit denen sie ihre Geltungsansprüche begründen. Am häufigsten ist die Deklamation von Überlegenheit über konkurrierende andere Kulturen. Der Kampf der Kulturen aber ist selbstmörderisch, da die Mittel, mit denen er ausgefochten wird, von niemandem mehr unter Kontrolle gebracht werden können. Wie will man Träger der kulturellen Identität in die Schranken weisen, denen man bescheinigte, Verteidiger des einen wahren Glaubens zu sein und damit die Macht zu haben, umstandslos alle Feinde ihres einzig wahren, guten und schönen Glaubens bekehren oder unterwerfen zu müssen? Dagegen hilft nur die Aufklärung, dass wahre kulturelle Identität nur dadurch gewonnen werden kann, dass man weiß, von wem man sich zu unterscheiden wünscht. Und da man sich ungern von Unbedeutendem unterscheidet, wird die Anerkennung der Anderen gerade darin liegen müssen, ihre Kraft und Stärke zu betonen. Kulturelle Identität können also nur diejenigen für sich reklamieren, die durch vielerlei Kenntnisse die Auffassungen der Anderen wertzuschätzen wissen, von denen sie sich unterscheiden wollen. Denn Würde hat nur, wer Andere zu würdigen weiß. Würdelos sind diejenigen, die den Anderen jegliche Würde absprechen wollen, um sie dem Machtbelieben zu unterwerfen.

So entsteht die Verpflichtung gerade von Künstlern und Wissenschaftlern, im Kampf der Kulturen darauf zu bestehen und dazu beizutragen, dass Formen der Würdigung der jeweils Anderen entwickelt werden. Sie müssen in der Öffentlichkeit, in Theatern, Ausstellungen, Publikationen, Filmen derartige Würdigungsformen beispielhaft demonstrieren. Das zeitigt die Konsequenz, ausgerechnet im Namen der Autorität der Autoren, der Individuen also, das hohe Lied des Humanismus immer neu vorzutragen, also zu zeigen, welche Kenntnisse der Geschichte und der Entfaltung von Kulturen nötig sind, um gerade diejenige Kultur zu würdigen, von der man sich zu unterscheiden wünscht. Wenn Derartiges den angeblichen Verteidigern ihrer kulturellen Identität tatsächlich vor Augen schwebte und erreichbar wäre, könnten alle verstehen, dass Einheit – wie etwa die der Europäer – erst durch die würdige Wahrung der Unterschiede möglich ist. Statt die Vielfalt zur Einheit zu zwingen, entstünde Einheit aus der wechselseitigen Anerkennung und der kenntnisreichen Würdigung der Unterschiedenheit. Daran zu arbeiten, ist heute die Aufgabe der Künstler und Wissenschaftler, um ihre Autorität als Autoren tatsächlich zur Geltung bringen zu können.

siehe auch: