Magazin Stilwerk Magazin

Stilwerk Magazin 1/2021
Stilwerk Magazin 1/2021

Erschienen
01.01.2021

Herausgeber
Alexander Garbe

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Issue
1/2021

Seite 114 im Original

Ever Never

Wer würde nicht bis zur Tränenseligkeit entzückt jenen zur Volksweise geadelten Liedern immer wieder verfallen, die den schönen Titel „Schlager“ tragen? Erst recht denen der deutschen Wellen seit Beethoven über Wagner bis zur Neuen Deutschen Welle der 80er? Wie philosophisch tiefsinnig ist man da beschlagen, man weiß Bescheid, man gibt sich freimütig der Einsicht hin, dass alles Große einfach ist. Und einfältig. Man fühlt sich überwältigt, ja erschlagen vom Pathos der Normalität, von dem durch Kitsch offenbarten Glauben an eine bessere Welt, der tieferen Liebe, in vorbehaltloser Hingabe an das wohlige Gefühl, sich ganz und gar den Sehnsüchten öffnen zu können. Das ist die grandiose Leistung des Kitsches, für Intellektuelle von Susan Sontag camp genannt, und von den Jungen vor 45 Jahren als Punk gefeiert. 

Warum Kitsch des Ewigen, der Beständigkeit, der Kontinuität? Weil jedermann im Kitsch sofort versteht, was an allem Falschen tatsächlich wahr ist. Jede Jubiläumsfeier mutet uns doppelsinnig an: Einerseits kann nichts den Fortbestand garantieren, andererseits sollen wir mit allen Religionen Dauer/Ewigkeit erzwingen. Die Gefühlswallungen von Hoheitssehnsucht zu Vergeblichkeitserfahrung versuchen wir in der kleinen Ewigkeit des Jubiläums zu bewältigen.

Wie nahe uns das geht, zeigen vor allem jene großen Feiern des Abschieds, die der Vermählung inzwischen zwangsläufig nachfolgen. Ja, man bindet sich nur noch unter der Bedingung, sich jederzeit trennen zu können. Aber nicht in seelischer Qual und ökonomischer Not, sondern in der Festigkeit des Einverständnisses. Deswegen sind inzwischen unsere Dienste für die Inszenierung von Scheidungen häufiger und intensiver gefragt als die Service-Angebote für Hochzeiten. Die Läden für Hochzeitskleidung und die Einrichtungshäuser für Neufamilien erweitern ihr Angebot um Ritual-Gewandungen für Scheidungsenthusiasmus und die Erhebung der Scheidung zur tiefsten Sozialerfahrung. Dafür braucht es wirklich angemessene Möblierung: Das ist wahres stilwerk!

Allein in Berlin gibt es zahllose Künstler:innen, die die Jubiläen ihres Scheiterns feiern und sich damit über die bloße Akzeptanz eines Schicksals erheben. Man erinnere sich an den „Club der polnischen Versager“ und die zahllosen Jubiläen von Todestagen. Logischerweise stehen sie trotz Weihnachten höher als die Feiern der Geburten, denn erst nach dem Ende, nicht am Anfang weiß man, was man unbedingt gesehen haben sollte, aber verpasste und nun im Nachhinein sich anzueignen vermag. Gegenwärtig feiern wir 250 Jahre Hegel und Hölderlin, 70 Jahre Bundesrepublik, 30 Jahre Mauerfall, 100 Jahre Weimarer Verfassung, 100 Jahre Frauenwahlrecht, 25 Jahre stilwerk. Es bestätigt sich also: Tatsächlich ist "death" so permanent, also wahrhaft nachhaltig, ein klassischer Evergreen. Was sagt er? Die Vergangenheit ist das Einzige, das nicht vergeht. Ist das makaber, ist das Zukunftspessimismus? Ganz im Gegenteil. Wir müssen Vergangene werden, um zu bleiben und damit auch zukunftsfähig zu sein: neuer ever. Oder eben ever never. Nur Apokalyptiker sind zu wahrem Optimismus fähig, denn sie rechnen mit dem Schlimmsten, das aber nichts anderes ist als eine Wiederkehr des ewig Vergangenen, also der Dauer. Die Angst vor dem ungewissen Ende wandelt sich in ersehnte Gewissheit. Evergreens werden Solant Greens in der Bestätigung, dass das von Jubiläen doch nicht aufhaltbare ewige Werden durch Vergehen die Ewigkeit erfüllt. Schöne Gewissheit: Wir bleiben uns unter allen Umständen erhalten — gerade als Vergangene. Beispiele sind im stilwerk jene Artefakte, die in Form und Machart deutlich zu verstehen geben, dass sie aus den 50ern, aus den 60ern oder 70ern oder aus den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts stammen und als historisch gewordene Dauer repräsentieren.