Buch Aus der Zeit gerissen

Joseph Beuys: Aktionen. Fotografiert von Ute Klophaus 1965-1986. Sammlung Lothar Schirmer

Erschienen
01.01.2021

Herausgeber
Birthälmer, Antje | Mönig, Roland

Verlag
Von der Heydt-Museum

Erscheinungsort
Wuppertal, Deutschland

ISBN
978-3-89202-106-3

Umfang
208 S.

Einband
Softcover

Seite 31-34 im Original

Ute Klophaus

Photographien zu Joseph Beuys

Wir saßen hinter seinem Tisch vor ihm in der Wohnung am Drakeplatz, Ute links vor ihm, ich rechts. Zwei Schüler, zwei Hilfskollegen, zwei Nachmittagserscheinungen in einem seiner Vorhaben, von dem er uns nichts gesagt hatte. Auf dem Tisch die Utensilien einer Teezeremonie, am auffälligsten der rasierbürstenartige japanische Teebesen. Also sollte es Tee zur Begrüßung geben, Einstimmung in ein Gespräch zu Aufgaben für Ute und mich. Beuys reichte jedem eine Tasse, wir tranken aus und warteten entspannt ergeben auf seine Weisung.

Meiner Erinnerung nach war diese erfüllte Stille der Konzentration relativ kurz, denn ich bemerkte, und wie ich später hörte, Ute bemerkte ebenso, allerdings in ziemlicher Panik, dass unsere Muskeln steif wurden, wir uns in schneller Verwandlung in Statuen aus anderem Material als unserem Körper erlebten. Weder Arme noch Beine ließen sich bewegen, auch die Drehung des Kopfes war nicht möglich, kein Wort entrang sich uns, aber wir sahen klar und fühlten uns bei vollem Bewusstsein. Ich blieb innerlich ganz ruhig, weil ich überzeugt war, dass Beuys unser Vertrauen zu ihm auf die Probe stellte. Offensichtlich wollte er wissen, ob wir über die üblichen Annahmen, er tue nur so als ob und spiele mit der suggestiven Blendkraft seiner zauberhaften Machenschaften, hinausgelangt seien. Beuys sah uns ganz ruhig, kaum interessiert an, woraus ich schloss, dass mit uns etwas geschehe, was er schon zigmal erprobt hatte. Und so war es denn auch. Als sich die totale Lähmung unserer Körper (nach wie vielen Minuten?) löste, ging ich ebenso selbstgewiss wie Beuys über das Ereignis hinweg. Ute hingegen erregte sich heftig mit Verweis auf gewalttätige Freiheitsberaubung, die sie so ohne weiteres nicht hinnehmen wolle. Sie bestand darauf, sofort nach Wuppertal zurückgebracht zu werden — ich hatte sie in meinem Auto von ihrer Wohnung zu Beuys transportiert.

Während der Rückfahrt überlegte sie immer noch ziemlich aufgeregt, ob und wie sie sich gegen diese Behandlung zur Wehr setzen könnte. Ich versuchte ihr klar zu machen, dass es in der Sphäre der Kunst keine juristisch verhandelbaren Sachverhalte geben dürfe; man könne sich nur strikt fernhalten – oder aber die ständige Irritation nutzen, um seelische Robustheit zu erreichen, indem man den eigenen subjektiven Realitätsannahmen die objektive Wirklichkeit jenseits aller individuellen Selbstbespiegelung entgegensetzt, was schließlich das Ziel jeder Selbsttherapie sei. Sie wisse doch, dass Beuys selber seine schwere psychische Destabilisierung in den 50er Jahren gerade durch die Wirklichkeit der Materialbearbeitung unter Kontrolle gebracht habe. Die durch den Selbstausdruck beherrschte Angst verwandele sich in hohe Sensibilität für jederzeit mögliche Abweichungen vom Seelenfrieden und eine Überwältigung durch die eigenen Realitätserfahrungen. Das laufe nach dem Charakter eines Experiments, solange man das Bewusstsein behalte, dass die Wirklichkeit außerhalb der eigenen Wahrnehmung in höchstem Maße konstant bleibe.

„Im Übrigen, liebe Ute, erinnere ich Dich an die häufig auch von Dir zitierte Schamanisierung, aha, des Geheimnisträgers Joseph, denn die Schamanenprobe besteht man nur, wenn man aus einem selbst induzierten potentiell tödlichen Experiment, etwa durch Einnahme von giftigen Pilzen, unbeschadet wieder herausfindet. Das zu schaffen, ist, so wird behauptet, eine verlässlichere Prüfung als das Doktorexamen westlicher Mediziner.“

Seltsam: Soweit mir bekannt ist, haben selbst die Beuys Wohlgesonnenen sehr viel häufiger auf seinen eurasischen Schamanismus verwiesen als auf die LSD-Experimentatoren wie Timothy Leary und die Marihuana-berauschten Beatniks um Allen Ginsberg und deren zahllose in „harmlosem“ Konsum von Nikotin und Alkohol steckengebliebenen Aftersänger und Nachplapperer.

Ich weiß bis heute nicht, ob Ute sich in irgendeiner Weise, wie in Erwägung gezogen, später noch gegen das Beuys‘sche Experiment zur Wehr gesetzt hat. Jedenfalls muss es ihr Verhältnis zu Beuys in einer Hinsicht betroffen haben, denn sie machte mehrfach Bemerkungen darüber, dass angeblich Ehefrau Eva gegen die viel zu starke Ausprägung des Beuys-Bildes durch Utes „Fotos“ intrigiere.

Auch als Ute mich nach den vielen Monaten im Hospiz 2010 zum Testamentsvollstrecker berief, habe ich keines ihrer biografischen Dokumente eingesehen. Aber meine Auffassung von der Bedeutung ihrer Arbeit für die Durchsetzung von Beuys mit dem Photographieren seiner Aktionen in Deutschland bleibt bestimmt durch die Teezeremonie am Drakeplatz. Wie wir durch die Wirksubstanzen des von Beuys präparierten Tees in den AZ, den Anderen Zustand, überführt wurden, so verwandelte Ute durch die Photographie die wirklichen Elemente der Beuys‘schen Aktionen in spirituell aufgeladene Selbsterfahrung der Betrachter. Anders gesagt: Viele Teilnehmer an Beuys-Aktionen gewannen erst retrospektiv durch die Photographien von Ute Klophaus Einblick in die Bedeutung, die diese Aktionen für sie haben konnten. Die Wirklichkeit der Beuys‘schen Aktionen ließ die Teilnehmer oft zunächst relativ unbeteiligt zurück, sehr selten gab es spontane Gefühlsäußerungen. Erst durch Klophaus‘ Vergegenwärtigung der Aktionen begann man zu ahnen, was man gesehen hatte, ohne zu wissen, was man sah von dem, was geschah.

Gerade im Vergleich der Klophaus‘schen Photo-Arbeiten zu Beuys‘ Aktionen mit der großen Zahl von fotografischen Dokumentationen Dritter, etwa von Caroline Tisdall, lassen sich die überragenden künstlerischen Leistungen von Klophaus erfahren. Wenn Tisdall „Beuys am Giant's Causeway“ fotografiert, bleibt er ohne Aura in touristischer Harmlosigkeit, bestenfalls in schlecht geschauspielerten Faxen stecken. Wie er da mit beiden über dem Haupt erhobenen Fingerschaufeln ein Hirschgeweih simuliert, kommt kaum über die harmlose Mimikry eines Laientheater-Schnappschusses hinaus.

1986 stellt Klophaus eine große Zahl ihrer Beuys-Arbeiten unter dem Titel „Sprache der Bewegung — Photographie zu Joseph Beuys“ aus. Eine Einzelbildfotografie kann ja „Bewegung“ nicht als wirklich wiedergeben, sondern als Dynamik der Blickbewegung des Betrachters in der Fotografie. Dazu bietet die Photographin Klophaus ihren eigenen bewegten Blick auf den Künstler in Aktion in jeweils den Momenten, in denen die Erfassung der Aktion in ihr Assoziationsketten oder Gefühlskaskaden auslöste — wenn das nicht im Moment der Aufnahme geschah, dann aber während der Auswahl aus der Vielzahl der einzelnen Erinnerungsangebote im Fotolabor. Die fotografische Fixierung eines Moments hat dieselbe Wirkung wie die Psychopharmaka der Teemischung: Erhöhung der geistigen Wachheit durch Stillstellung der körperlichen Aktivität; seelische Bewegung zwischen den visuell erfassbaren Attraktionen durch extreme Reduktion der Wahrnehmung des eigenen Körpers. Der Blick wird zum Medium der Verbindung von Geist und Seele, von bewussterer Wahrnehmung und Intuition, von Verstand und Vernunft, vom Erkennen der Gestaltmuster zu ihrer Bedeutung. Denn zumindest Menschen unter den Lebewesen sind von Natur aus gezwungen, jeder wahrgenommenen Gegebenheit mindestens eine Bedeutung zuzuschreiben, die weder den Erscheinungen noch ihrem Funktionszusammenhang entnommen werden kann, wenn sie über die einmalige Erfahrung hinaus gelten soll. Das ist der wahre Sinn der „Sprache der Bewegung“, nämlich von Kognition zu Bewertung zu kommen. Und darin erweist sich Klophaus‘ Photographie zu Joseph Beuys als tatsächliche Parallelaktion und nicht als bloße Dokumentation. Also nicht bloße Fotografie von oder der Aktionen, sondern Repräsentanz einer tatsächlich absolvierten und gelungenen Sinnstiftung in den vielfältigen Erscheinungen der Elemente eines Blickfeldes.

Klophaus hat den Anspruch auf künstlerische Parallelaktionen zu Aktionen von Beuys immer dadurch deutlich zu machen versucht, dass sie ihre einzelnen Photographien entgrenzte: Sie legte durch das Abreißen der Fotoränder nahe, dass das Bildgeschehen nicht auf den sichtbaren Bildteil beschränkt bleiben solle. Gerade durch die scheinbar unbestimmte Vorgabe von Grenzen des Wahrnehmungsfeldes, also durch Kantenrisse definiert sie Photographie als Ereignisfeld, das nicht durch framing, durch Rahmung eingegrenzt werden kann, sondern wie durch einen Riss an der Wand, an der das Bild hängt, oder durch Alterungsspuren sich jetzt im Unsichtbaren fortsetzt. Klophaus‘ Photographien sind wie archäologische Grabungsfeldaufzeichnungen. Sie verweisen von einer Ebene auf die nächsten darunterliegenden und evozieren die Frage, wie denn diese unterschiedlichen Sinnebenen entstanden und miteinander verbunden sind. Fast in jedem ihrer Einzelphotos von Aktionen lässt sich rückschließen auf den Gesamtverlauf der Aktion. Darin erweist sich wahre künstlerische Könnerschaft, in dem Moment, im Einzelnen die Kontinuität, das Ganze ansprechen zu können. Der Betrachter möchte, fast leiblich für das Imaginationsfeld stimuliert, in das Photo einsteigen und die Aktionen selber fortführen. Wer sich darauf einließ, wie viele seiner besseren Schüler und Nachahmer, musste bald anerkennen, dass sich das Beuys‘sche künstlerische Ingenium gerade nicht im Reichtum des Initiierten ausdrückt, sondern in der Fähigkeit, zum Moment der Entscheidung zu gelangen, ob die Operation ein Ziel erreicht hat oder nur ein Segment des Beliebens repräsentiert. An Beuys‘schen Aktionen war nichts beliebig, auch wenn sie sich dem Zufall verdankten. Sicher war in Aachen 1964 der Hieb auf die Nase, aus der Beuys dann blutete, nicht geplant und schon gar nicht konzeptuell durchdacht, aber mit seiner Reaktion, dem Aggressor das Spielzeugkreuz entgegenzuhalten, bezog er die Aktion derart prägnant ins Geschehen ein, dass sie den inneren Sinn des gesamten Auftritts so zu repräsentieren in der Lage war, als hätte sie ein Dramatiker von vornherein zum Höhepunkt des Geschehens bestimmt. Diese Kraft zur Integration des Zufalls, der Beliebigkeit, des Fragments und des Unsinns in die Stiftung von Bedeutung kennzeichnet das große künstlerische Vermögen. Man kann zwar lernen, Fragmente zu collagieren, aber daraus den Sinn des Unsinns erahnbar oder sichtbar werden zu lassen, gelingt nur denen, die das nicht wollen, sondern können.

Die Kraft der Klophaus-Photographien zu Beuys sehe ich darin, mir eröffnet zu haben, was mir in der aktionistischen Wirklichkeit selten gelang: Im aktuellen Geschehen erwartet man immer den nächsten Augenblick und verpasst damit die Konzentration auf das gerade eben Gesehene. Die Stiftung einer erzählerischen Kontinuität und damit des Sinns ergibt sich aus dem tatsächlich Wahrgenommenen und nicht aus der spekulativen Erwartung. Ich habe niemanden getroffen, der eine Beuys-Aktion von sich aus an das Ziel hätte fortführen können, das Beuys schließlich erreichte. Die Logik des Ereignisses bestand nicht darin, erraten zu können, was kommen müsse, sondern überrascht zu werden von dem, was tatsächlich jenseits aller Erwartung vom Akteur erreicht wurde. Das war auch eine Qualität der Klophaus‘schen Photographie zu Joseph Beuys, dass sie ihren Betrachtern immer mehr bot, als sie von einer bloßen Reproduktion des erlebten Ereignisses erwarten konnten. Selbst bei vom mächtigsten Akteur, der Natur, erzeugten Katastrophen wie Vulkanausbrüchen oder Überschwemmungen kann man, einigermaßen trainiert, sich vorstellen, was sich wohl ereignen werde. Künstler überbieten den Vulkan oder das Feuerwerk oder das Ornament der Massen bei weitem. Was ihnen gelingt, geht weit über alles auch von ihnen Gewollte oder Geplante hinaus. Darin hatte Duchamp besonders recht, als er 1957 feststellte, dass die Wirkkraft der Werke mindestens zur Hälfte vom Nichtbeabsichtigten des Schöpfers ausgehe. Noch so eindeutige und großartige Formkraft, die bis zum abstrakten Katalog für Gestaltungsangebote mit Qualitätsgarantie gehen kann, unterliegt generell der Ambivalenz und Ambiguität aller Zeichen. Über diese Einschränkung selbst im rigidesten Kalkül kommt nur hinaus, wer das Unerwartbare provoziert und gerade damit das Verlangen nach Zusammenhängen als Sinnstiftung herausfordert. Ute Klophaus hat diese von Beuys ihr gestellte Erwartung mutig und unbeirrt erfüllt und Beuys selbst immer wieder die Möglichkeit verschafft weiterzugehen, weil er in den Arbeiten von Ute Klophaus als sein eigener bester Betrachter im Nachhinein zu seinem nächsten Vonvornherein ermutigt wurde.

In summa: Das Klophaus'sche Konzept von Photographie zu Beuys kommt in der Präsentation komplexer Aktionen auf einem kleinen Stück Papier der Stimulierung geistig-seelischer Kräfte näher als die Aktion selber, deren spektakuläre Aspekte die Konzentration auf den Gedanken und die Vorstellung allzu häufig störten. Klophaus parallelaktionistischer Ausdruck, konzentriert auf Meditation als nachhaltige Wiederholbarkeit ist das Wichtigste. Jede Form von Dauer, von Verbindlichkeit, von, von Verlässlichkeit, ja von Ewigkeit besteht nur in der Möglichkeit des Wiederholens, des wieder Holens. Wiederholung ist das Fest der Sinne wie der psychischen Konstanz.

Licht ist seit der Echnaton‘schen Bestimmung der Sonne als wahrem Gott der Lebensschöpfung das Medium auch der inneren Erleuchtung, der gedanklichen Klärung und des Wunders der schlagenden Herzen. Photographie als (wörtlich übersetzt) „Lichtschrift“ ist, allein medial betrachtet, das unmittelbarste Medium für die Anregung intrapsychischen Geschehens. Aber dieses Geschehen verlangt nach Ausdruck, den Fotografie als Eindrucksgeschehen eben nicht bietet. Jeder hat an sich selbst beobachtet, wie er/sie zum Beispiel auf Fotos in der Zeitung ganz beiläufig mit dem Stift in der Hand reagiert oder jüngere Passanten auf der Straße spontan in Bildplakate intervenieren. Der Geist will nicht nur aus der Flasche, sondern aus dem fixierten Bildwerk entweichen. In dem Fall muss man ran wie Beuys, wenn man denn kann, um den Dschinn aus jedem Stückchen Holz, Stein oder Metall oder einem Klumpen Unschlitt zu befreien.