Buch Hofstetter Kurt: Ich schaue in den Himmel, um mich zu erden

Mit einem Essay von Barbara Doser und einem Textbeitrag von Bazon Brock

Übersetzung ins Englische: Peter Waugh

Erschienen
01.01.2021

Autor
Brock, Bazon | Doser, Barbara

Herausgeber
Konzett, Philipp

Verlag
Verlag für moderne Kunst

Erscheinungsort
Wien, Österreich

ISBN
978-3-903796-54-6

Umfang
300 S.

Seite 280-293 im Original

Das Unding an sich: Die endliche Unendlichkeit

Hofstetterkurt als Magier der irrationalen, also theoretischen Kunst

Unter den Repräsentanten der „theoretischen Kunst“ ist Hofstetterkurt (auch Google, Amazon und Gott haben keinen Vornamen) ohne Zweifel ein Großmeister, denn die Konsequenzen seiner Arbeit sind schier unabsehbar. Er hat den Geltungsanspruch der Kunst in einer Position gestützt, die bisher nur Mathematikern und Philosophen als verbindlich zugesprochen worden war. Ausgerechnet ein bildender Künstler konnte mit einem Gedankencoup für die Gleichheit von Wiederholung und Abweichung im beständigen Abweichen sogar eine der ältesten Kulturtechniken, nämlich die Weberei, entscheidend erweitern. Mit der Hofstetterkurt-Bindung hat die Webtechnik einen neuen Höhepunkt erreicht. Die traditionelle Verknüpfung von Fäden zum Stoff, wie sie die Heimwebstühle und seit 1800 die mechanischen Webstühle leisten, wurde schon einmal durch den Jacquard-Webstuhl revolutioniert mit Bildschablonen, deren Lochgefüge auffällig von der gewohnten Horizontal-Vertikal-Bewegung von Kette und Schuss abweicht. Aber mit der Fadenführung durch die Löcher der Bildschablone bleibt es bei einem evidenten, augenscheinlichen Nachvollzug einer Vorgabe, die die zuvor gestaltete Schablone liefert.

Mit der Hofstetterkurt-Bindung folgt der Webvorgang weder der traditionellen noch der Schablonenführung. Die Fäden werden aperiodisch und asymmetrisch geführt und erzeugen dennoch eine über die traditionelle Leistung hinausgehende Festigkeit und Luftdurchlässigkeit des Stoffes. Das Irrationale der Einheit von Chaos und Ordnung oder die spirituelle Form der wiederholten Einmaligkeit wird auf eine Weise materiell, die alle bisherigen Verfahren der Realisierung von Konzepten überbietet. Sogar das Informel als Technik der Maler der 1950er Jahre, von Pollock 1949 initiiert, wird überholt, denn im Unterschied zur informellen Vorgehensweise braucht die Hofstetterkurt-Bindung nicht einmal mehr den individuellen menschlichen Impuls. Auch für die in den 1960er Jahren weltweit auffällige Op-Art leistet Hofstetterkurt Entscheidendes, indem er die bloße Serialität durch Aperiodizität übertrifft. Bei Hofstetterkurt wirkt der Weltgeist, der Geist der Mathematik höchstselbst. Er ermöglicht die praktische Demonstration dieser Kraft für unsere Alltagswelt. Man sollte deswegen von Hofstetterkurts Entwicklungsarbeit sprechen, die die Einheit von Erfinden und Entdecken bildet.

Von besonderem Interesse ist die an Hofstetterkurts Verfahren geknüpfte Frage, ob etwa die menschlichen Träger der in Hofstetterkurt-Bindung hergestellten Textilien ein bisher weitgehend vernachlässigtes Sensorium für Unanschaulichkeit und Unvorstellbarkeit entwickeln. Ich trage, wo ich gehe und stehe, ein Hofstetterkurt-Hemd wie ein Gedankengefüge auf dem Leibe. Ich trainiere mich gerade darauf, über das materielle Objekt hinaus so etwas wie metaphysisches Gespür zu entwickeln, denn der Meister behauptet mit seiner Ambient Tactile Art im Verweis auf Untersuchungen zum Phänomen des Atmosphärischen, es gebe über den Tastsinn eine besondere Wahrnehmung der Beziehung zwischen Körper und Umwelt.

Um diese Behauptung nachvollziehen zu können, müssen wir einen kleinen Spaziergang durch die blühenden Gärten der Theorien absolvieren. Achtung: Theorie heißt hier nicht gedanklicher Vorlauf des praktischen Handelns, sondern ganz im altgriechischen Sinne das Resultat der Tätigkeit eines Zuschauers, Zuhörers oder Betrachters, die vielen einzelnen Elemente eines ihm vor Augen geführten Geschehens in einen Sinnzusammenhang zu bringen. Theoretiker war und ist der Rezipient. Für die theoretische Kunst gilt Joseph Beuys’ Übersetzung der Tempelinschrift Erkenne dich selbst zu Wer nicht denken will, fliegt raus.

Die hausväterliche Unterscheidung von Ding an sich, Ding für sich, Ding für uns muss es bei der Kennzeichnung des Anderen, des Undings, des Gegenstands der Erkenntnis als eines Dings (als einer Gegebenheit in der Menschenwelt und nicht jenseits der Menschenwelt) belassen. Das aber heißt, dass Kants Unterscheidung von Transzendentalität und Transzendenz, von dem der Erkenntnis Zugänglichen und dem der Erkenntnis nicht Zugänglichen als überflüssige Klassifizierung verstanden werden sollte; das Transzendentale als das Innerweltliche, uns angeblich Zugängliche ist, wie spätestens die Astro- und die Kleinteilchenphysiker erfahren mussten, genau so rätselhaft und fragenswürdig wie das von vornherein so gekennzeichnete Transzendente. Wenn das Innerweltliche, Diesseitige als rational darstellbar gekennzeichnet wird, dann ist das Jenseitige der Rationalität eben das Irrationale, was aber zu dem Schluss zwingt, dass Rationalität nur als Erkennen des Irrationalen definierbar ist, wodurch die behauptete angebliche Irrationalität als Transzendenz des Rationalen hinfällig wird.

Im Verständnis der Alltagsmenschen wird die scheinbare Entgegensetzung von Rationalität und Irrationalität durch das Verhältnis von Wissen und Glauben gekennzeichnet. In der Sphäre des Wissens operiert man rational, d.h. mit logischen Schlüssen aus vorgegebenen Prämissen. Das entspricht der Erfahrung von Endlichkeit in abzählbarer Wiederholung einzelner Messungen oder Verknüpfungen. Dagegen kann in der Sphäre des Glaubens das Messen und Verknüpfen niemals an ein Ende kommen; es bleibt unendlich als unbeendbar wegen der unbestimmten Prämissen der Ausgangspunkte einer Gedankenführung. Ebenso alltäglich wird die Sphäre des Glaubens als die der Transzendenz gekennzeichnet und die Sphäre des Wissens als die der Transzendentalität.

Auf wissenschaftlicher Ebene ist das vermeintlich grundlegende Problem der Entgegensetzung von rational und irrational, von endlich und unendlich, von Wissen und Glaube, von Transzendentalität und Transzendenz spätestens durch Leibniz’ Entfaltung der Infinitesimalrechnung mathematisch verbindlich beantwortet, so sehr sich auch Denker aller Klassen nach Leibniz herausgefordert fühlten, das Denken von der Verhexung durch Sprache zu befreien. Das Unendliche, zeigte Leibniz, ist nicht das ganz Andere der Endlichkeit, sondern eine Form der Bestimmung des Endlichen. Endlichkeit und Unendlichkeit stehen sich nicht entgegen, sondern erweisen sich wechselseitig in der Einheit des Unterschiedenen.

Wenn man die radikal einander entgegengesetzten geometrischen Formen von Dreieck und Kreis ineinander überführen will, um z.B. die Größe einer gekrümmten Fläche zu bestimmen, dann, so Leibniz, muss man das Dreieck immer weiter verkleinern, bis es sich schließlich in den Kreisbogen einfügt. Und Leibniz zeigte in der Rechnung mit dieser unendlichen Annäherung, dass das Unendliche tatsächlich eine bestimmbare Größe ist. Aber durch die nur in der Mathematiktheologie prinzipiell unbeendbare Annäherung an das Unendliche im Denken wie im Handeln fühlen sich Geisterseher, Gottsucher und Trotzköpfe bedroht. Sie bestehen auf der Unendlichkeit, die nicht im Endlichen erfassbar sei, obwohl die sich bedroht Fühlenden ja ganz und gar nur im Endlichen des Leibes und der Naturgesetze leben. Die Aufgeklärten, d.h. die zwischen Sprechen und Denken Unterscheidenden, empfinden die derart behauptete Unendlichkeit als schlechte Unendlichkeit, so nannten das F. Schlegel und Hegel.

Warum bestehen Menschen überhaupt auf derart schlechter Unendlichkeit? Weil in ihr Sprache und Denken identisch sind. Man behauptet das Jenseits gegenüber dem Diesseits, das Transzendente gegenüber dem Transzendentalen, das Göttliche gegenüber dem Menschlichen …, um bei entsprechender Problemlage die Verantwortung auf den Einbruch des unerkennbar Anderen, des Schicksals oder des Willens Gottes in die Welt des Menschen abschieben zu können.

Leibniz hob zum ersten Mal mathematisch verbindlich diesen Gedanken auf und ließ so das gute Unendliche als hilfreiche Denknotwendigkeit vertraut werden. Er befreite das Denken von den höllischen Gespenstern des bloß sprachlich Undenkbaren, Undarstellbaren und Unvorstellbaren, indem er die mathematische Darstellung und Vorstellung dachte. Das formulierte er als das Konzept der besten aller Welten und begründete für die Menschheit die Hoffnung, endlich denken zu lernen, anstatt der Klapp- und Schnappmechanik der Sprachalgorithmen/Grammatiken unterworfen zu bleiben. Der Unterschied zu allen früheren Versuchen dieser Art bleibt, dass Leibniz mit der Infinitesimalrechnung einen unüberbietbaren Beweis für unsere Fähigkeit bietet, die schlechte Unendlichkeit in eine gute zu überführen.

Generationen von Künstlern und Theologen haben seit Leibnizens Erweis versucht, außerhalb der Mathematik die gute Unendlichkeit zu Gestalt zu bringen, evident werden zu lassen. Das wurde schlichtweg zur Definition der Leistungsfähigkeit der bildenden Künste, der Poesie, der Denkkunst, der Heilkunst, der Kochkunst: die unberechenbare, willkürliche, bösartige, bedrohliche Unendlichkeit als Unerfassbarkeit und Unbestimmbarkeit unter Kontrolle zu bringen, das Undarstellbare eben als undarstellbar darzustellen, das Unvorstellbare als unvorstellbar vorzustellen und das Undenkbare als undenkbar zu denken.

Das gesamte Zeitalter des Barock triumphierte mit Berninis rein sinnlicher Erfassung ehemaliger Gottesekstase, mit Calderóns Traumhaftigkeit des Realen oder mit Bachs Übersetzung der Ewigkeit in die uneinschränkbare Wiederholung durch Variation. Den Gedanken des Unendlichen, herkömmlich mit dem Begriff Transzendenz erfasst, gaben besagte Barockkünstler nicht auf, sie erkannten in der Diesseitigkeit unseres Lebens genügend Spielraum für innerweltliche Transzendenz, zum Beispiel im Missverstehen über das hinauszugehen, was der Sprecher je glaubte gemeint zu haben. Und das Heilige als Markierung der Jenseitsverehrung verlor nichts an seiner Aura, wenn man das Schöne, Gute und Wahre gerade angesichts der Hässlichkeit, der Lüge und der Bösartigkeit zu behaupten lernte. Insgesamt kennzeichnet auch die nachbarocke Aufklärung, dass das Sakrale erst im Säkularen, das Heilige im Profanen, die Ersten in den Letzten erkannt wurden und man sich nicht mehr erlaubte, im Jenseits der Menschenwelt nach Bestimmungen für das Gelingen des menschlichen Lebens zu suchen.

Nachdem sich in der Französischen Revolution erwiesen hatte, dass Gottesgnadentum in Wahlen und Schöpfung in Arbeit nur verwirklichbar ist – das war die zeitgemäße transformatio im Metabolismus alles Lebendigen –, war das schlechte Unendliche nur noch als Legitimation totalitärer Gewalt verfügbar. Hegels und F. Schlegels Begriffsschöpfung Gute Unendlichkeit ist das folgenreichste Produkt des vom Sprachdiktat befreiten Denkens. Die Apokalyptiken der schlechten Unendlichkeit wurden Thema der Erkenntnis durch Karikieren, denn Wahrheit lässt sich nur aus dem als falsch Erkannten, dem Inakzeptablen, dem Unangemessenen postulieren: als eine Denknotwendigkeit, ein theoretisches Konstrukt, ein Katalysator. Das wussten Freilichtdenker wie Nietzsche oder Freilichtmaler wie Monet, Realisten, Konstruktivisten, Minimalisten, Konzeptualisten. Formstille, stehende, bleibende Form ist im unaufhaltsamen Zeitlauf, also Wandel, nur ein Gedanke, der, so weit er vergegenständlicht werden muss, weil es keinen unvergegenständlichten Geist geben kann, als theoretisches Objekt in Erscheinung tritt. Dagegen blieben die Kosmiker, die Blauen Himmelsreiter, die Waldgeistspiritisten von Blut und Boden zwar politisch, sozial virulent, aber bloß chaotischer Machtwillkür verhaftet und damit vormodern. Auch viele Land-Artisten oder Lichtfresser/Photophagen von Fotografie bis Elektronik blieben weitgehend in der Beschwörung des Jenseits befangen, als müsse man es nur zur Offenbarung zwingen. Darüber machten sich Alfred Jarry und die Dadaisten von Herzen lustig: Ein absoluter Gott, ein absolutes Werk, eine absolute Macht wären eine gute Sache, wenn sie endlich Ruhe garantierten. Leider gab und gibt es sie nicht. Die Götter der alten Ägypter, der Perser, der Babylonier, der Griechen und Römer und die auf sie gestützten Imperien starben nicht in voller Pracht, sondern als Bekundung ihrer eigenen Unmöglichkeit. Das Ewige steht nicht gegen den Wandel, sondern der Wandel ist das einzige ewig Wirksame.

Dichter und Denker

Bitte merken: Man sollte natürlich nicht in pseudomathematischer Absicht behaupten, man könne ohne sprachliche Vergegenständlichung denken. Der sprachliche Ausdruckverdankt sich der Forderung nach Kommunikation, nach sozialem Metabolismus. Das Denken aber zielt auf das Verstehen, vor allem das Verstehen der Abhängigkeit des Denkens von der Sprache. Die sprachliche Kommunikation, das zeigen ja Politik oder Warenpropaganda zur Genüge, kommt ganz ohne Verstehen aus, denn die Natur muss mit der Erfindung der Kommunikation für schnelle Einpassung mutativ hervorgebrachter Lebensformen in Überlebensnischen sorgen, bevor die neuen Lebensformen je in sich selbst und aus sich selbst die Bedingung der Möglichkeit des Überlebens erfüllt hatten.

Der überwiegende Teil unserer täglichen Orientierung auf die Welt ist völlig unabhängig vom Verstehen; es reicht, zu kommunizieren ohne jedes Verstehen. Wir schalten den elektrischen Strom ein, ohne etwas von der Physik des Elektronenflusses zu wissen oder vom Funktionieren des Verbrennungsmotors, wenn wir das Auto starten. Für den überwiegenden Teil unseres Alltagslebens reicht es, zu funktionieren, statt den Dingen auf den Grund zu gehen, sei es in Geboten oder Verboten.

Eine nicht durch ihre Wirksamkeit erfassbare Energie kann man nicht verstehen; oder allgemein gesagt, unvergegenständlichten Geist gibt es nicht: Selbst die Naturgesetze mussten in den Anfangssekunden des Urknalls geschaffen werden, indem sie sich als wirksam erweisen konnten. Auch Denken lässt sich generell erst aus der sprachlichen Kommunikation erschließen. Da bekanntlich selbst das Nicht-kommunizieren-Wollen ein Kommunizieren ist, verläuft die Kommunikation sehr häufig gegen die Intention der Kommunizierenden, die dann durch immer neuen sprachlichen Anlauf das Misslingen zu korrigieren versuchen. „Mit anderen Worten“, „mit eigenen Worten“, „nochmals anders ausgedrückt“ wird diese Absicht signalisiert. Sprachkompetenz durch Üben des Sprechens zu erwerben, gelingt eben dadurch, dass man akzeptiert: „Wie kann ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?“ Sprachen sind nur Verkörperungsformen des Denkens, aber unverzichtbar, weil es eben kein unverkörpertes Denken gibt. Ein anrührendes Beispiel für das Verhältnis von Dichten und Denken, von sprachlichem Vorlauf der Poesie und Nachdenken liefert Heidegger. Ohne die Hilfestellung durch den Zwang/die Chance, einzelne Operationen in ein systemisches Ganzes bloß noch einpassen zu müssen, benötigt das Weiterdenken ohne Systemschablone immer erneuten Vorlauf von Poesie. Heidegger hat sich schon früh, kaum dreißigjährig, dafür entschieden, das Denken durch Sprache initiieren zu lassen. Er kam auf den Gedanken, die Sprache der philosophischen Begriffsbildung selbst wie Poesie zu nutzen. Die Begriffspoetik ließ ihn ungeheuer produktiv werden, denn er brauchte nur den poetischen Ausdruck gedanklich zu entfalten, um über eine unerschöpfliche Antriebskraft für Denken zu verfügen. Er wagte sich darüber hinaus an poetische Formulierungen, als seien sie vom Dichter wie Begriffe gebildet. So etwa las er, vor allem in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens, Hölderlin’sche Poesie als Begriffsbildung. Bis heute ist es nicht gelungen, den Heidegger’schen Wechselbezug von Dichtung und Denkung über die Beschäftigung mit seinem Werk hinaus zu nutzen. Selbst Hölderlin-Philologen können sich nur hie und da auf Heideggers gedankliche Fortführung Hölderlin’scher Poesie einlassen, weil sie das von Hölderlins Sprachwerk fort führt; der Wunsch, stets zu wissen, ob man sich mit Heidegger im Denkwerk oder im Dichtwerk bewegt, behindert häufig den lustvollen Marsch durch das theoretische Gelände.

Da der Theoretiker, wie gesagt, seit altgriechischen Theaterzeiten als derjenige bezeichnet wird, der dem Sprachakteur auf der Szene nachdenkend folgt, ist mit Theorie nicht der gedankliche Vorlauf der Praxis gemeint, sondern das gedankliche Konstrukt, das der Zuhörer/Zuschauer als Reaktion auf eine sprachliche Zumutung entwickelt, z.B. als Sinn der Zusammenfügung von Worten, Gesten, Mimiken und Handlungen vor seinen Augen. Wir nennen dieses Resultat der Herausforderung des Denkens durch eine bild- oder wort- oder musiksprachliche Konfrontation ein theoretisches Objekt und die Arbeit der Rezipienten die Erzeugung theoretischer Kunst.

Die Arbeit des Zuschauers/Zuhörers sollte nicht ihrerseits als ein Werkschaffen verstanden werden, das dem auslösenden Theater- oder Bild- oder Literaturwerk entspräche. Soweit es objektiviert wird, wenn die Zuschauer/Zuhörer selber Künstler sind, also sprachmächtig, ist das Resultat der Rezeption von Kunstwerken „nur“ in der Erarbeitung von Werkzeug des künstlerischen Schaffens zu sehen. Und diese Werkzeuge sind eben theoretische Objekte und nicht Manifeste einer bloßen Umschöpfung des Gesehenen und Gehörten. Zwar wird an Volkshochschulen propagiert, man könne pinselnd, hämmernd oder mit Zupf und Tritt selbst „etwas mit Kunst machen“, aber jeder Beteiligte erkennt in der Selbsterfahrung, dass er Zugangsweisen zu ihm konfrontierten Werken notieren kann, die selber nicht den Status von Werken, sondern den von Werkzeugen haben. Seine Antworten auf die rezipierten fremden Werke bleiben theoretisch. Wenn er mit ihnen arbeitet, erzeugt er theoretische Kunst, die man durchaus sekundär nennen mag, die aber für das Wirksamwerden zumeist größere Bedeutung hat als das Primärwerk. Von Kants Primärwerken bleibt der Hinweis, er habe systematisch entfaltet, was jede sekundäre Rezeption mit der Maxime aufruft: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!“ Von Goethes Faust bleibt das theoretische Konstrukt jener Kraft, die stets das Gute will und doch das Böse schafft. Für Kafkas Schloss reicht es, das Bild der Systemzwinge aufzurufen, wie es etwa Immendorff verbildlicht hat. Die Bildschöpfungen von Malern als ihre identifizierbare Ikonografie sind Sammlungen jener theoretischen Objekte, die Künstler selber in der Konfrontation mit Kunstwerken als ihre Form der produktiven Aneignung der Theoriearbeit zu erreichen wussten.

A Star Is Born

Jetzt gibt es durch die Arbeiten von Hofstetterkurt begründete Hoffnung auf neue und tatsächlich leistungsfähige Kraft theoretischer Objekte. Er ist ein Meister des Metiers Theoretische Kunst. Er vereinigt schon in seinen frühen, unter dem Begriff des Pendelns zusammengefassten Arbeiten Wiederholung und Einmaligkeit oder Periodizität und aperiodische Strukturen und bändigt, wie seine mathematischen Generationskollegen, die kleinbürgerliche Angst vor dem Chaos, indem er die Entfaltungslogiken des Chaos sinnfällig macht.

Alle Künstler sind ihrerseits Rezipienten von bereits vorgefundener Kunst. Also werden sie zu Theoretikern. Hofstetterkurt ist primär Rezipient der Mathematik als einziger tatsächlich universal geltender Manifestation des dauernden Wechsels in verlässlicher Ewigkeit. Er benutzt die Poesie als Werkzeug zur Sprengung der anscheinend undurchdringbaren Einheit von Sprechen und Denken, wie sie vornehmlich in der Mathematik vorgegeben wird. Mit der Eineindeutigkeit der mathematischen Ausdrücke als Gedanken kann man nur als Mathematiker arbeiten. Wie, fragt Hofstetterkurt, lässt sich Mathematik außerhalb der Profession der Mathematiker als Werkzeug nutzen? Kann man einfach Mathematikern dabei zuschauen, wie sie leben, also außerhalb der Mathematik mit den Anforderungen des Lebens mathematisch fertig werden? Das geht ganz sicherlich nicht nach dem Muster: Ein Psychiater erwirbt seine Qualifizierung sicherlich, um behaupten zu können, er selber habe keine psychischen Irritationen oder gravierenden Störungen zu gewärtigen, weil er ja über sie Bescheid wisse.

Hofstetterkurt demonstriert Übereinstimmung mit den Haupttendenzen der Kunstentwicklung durch „Theoriebildung“, dass das Fruchtbarwerden der Mathematik für das Leben der Mathematiker oder der Theologie für den Kommerz (Kapitalismus als universeller Glaube) oder der Genetik für die Prozesssteuerung nur durch die Poetisierung der Begriffe möglich ist. Die gute Unendlichkeit auf dem eigenen Leib zu tragen, entspricht der weißen Romantik der jungen Dichter und Philosophen um 1800. Novalis nannte das Romantisieren, wir entsprechen dem mit guten Gründen im Begriff des Theoretisierens.
Novalis: Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich. Theoretiker Hofstetterkurt: Indem ich den hohen Sinn im Gemeinen (dem Hemd auf den Leibe) finde, das geheimnisvolle Ansehen des Gewöhnlichen (im Pendeln der Pendler) erkenne, dem Unbekannten die Würde des Bekannten (in Pi- und Phi-Größe), dem Unendlichen die Form der Endlichkeit (ewiges Licht jenseits der Erdrotation) gebe, theoretisiere ich, das heißt, ich bringe das Vielgestaltige, Unvereinbare, kaum Identifizierbare in einen Sinnzusammenhang.

siehe auch: