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Ekstase des Blicks

Barock als jesuitische Gegenreformation

Mit dem Bau der Kirche Il Gesu im Rom der 1540er Jahre formieren sich die Jesuiten als Gegenbewegung zur lutherischen Reformation. Der protestantischen Opferpathetik, abgeleitet vom Kreuzestod Jesu, stellen sie die Siegerpathetik der erneut triumphierenden Kirche gegenüber. Die Dramatik dieser Konfrontation zeigt sich am deutlichsten in der Entgegensetzung von Individualität und Kollektivität oder von Individuen als Autoren, Künstlern und Wissenschaftlern gegen die Repräsentanten der kulturellen Institutionen, in deren Zentrum die katholische Kirche mit dem Konzept der Einheit der Welt im christlichen Glauben stand.

Kaum hatten sich die Künstler aus der Bevormundung der Kirche zur Autonomie aus Selbstbehauptung emanzipiert, sollten sie nach Meinung der Gegenreformation einsehen, dass sie im Dienste der Kultur und ihrer unvergleichlich größeren Macht mehr wirken könnten als in ihren kleinen Bodegen oder selbst fürstlich ausgestatteten Ateliers. Denn die Fürsten wollten nur ihrem eigenen Ruhme als großen Männern der Geschichte Geltung verschaffen, die Kirche aber ziele auf das Heil der Menschheit ab. Daran als Künstler und Wissenschaftler, also als höchst befähigte Individuen mitzuwirken, versprach eine größere Belohnung als der bloße Wettbewerb unter Meistern.

Die Jesuiten boten ein raffiniertes Konzept der Vermittlung von Individualität und Kollektivität in der Stellung des einzelnen Mitglieds zum Orden. Der einzelne Jesuit war weitgehend autonom in der Entscheidung über Strategien und Mittel zum Erreichen der Ziele der Gemeinschaft, die allerdings durch den Gründer Ignatius ein für alle Mal festgelegt worden waren. Daraus leitete sich schon bald der Verdacht gegen die Jesuiten ab, als Geheimagenten der Kirchenherrschaft zu agieren. Entsprechend entwickelte sich eine Gegnerschaft gegen die Jesuiten, die über Jahrhunderte anhielt.
Gestählt durch die ausdauernde Einübung in die Selbstbeherrschung nach den Regeln des Ignatius entwickelten die Gotteskrieger in Verhalten und schöpferischer Kraft jenen Ausdruck von Siegesgewissheit, die den Barock prägen. Nach naivem Verständnis scheinen sich Askese und Sinnlichkeit, Einübung in Pflichtprogramme und Überschwang des Gefühls auszuschließen. Wegen dieser vermeintlichen Unvereinbarkeit wurde der Begriff „barock“ als Schimpfwort eingeführt, im Sinne von schwülstig, übertrieben, unkontrolliert.

Die Opferpathetik der Lutheraner war umso überzeugender, als sich einige katholische Orden auch um das Ziel „weniger ist mehr“, Gottgefälligkeit durch Anspruchslosigkeit, Demut und Gehorsam bemühten. Heutzutage wird dieser Anspruch auf weltlicher Ebene durch die Formstrenge des Bauhaus repräsentiert: Einfachheit und Klarheit = Wahrheit.

Nach den religiösen Auseinandersetzungen und ihren unübersehbaren, katastrophalen, weil Stadt und Land zerstörenden Folgen (erster Höhepunkt die Bauernkriege 1522ff., 2. Höhepunkt die Abschlachtung der Protestanten in Paris 1571ff., 3. Höhepunkt die totale Verheerung des 30-jährigen Krieges 1618ff.) sehnten sich die Zeitgenossen nach der Fülle des Lebens, wie sie paradiesische Natur oder menschliche Hinwendung in Freude und Lebensgenuss bieten. Die Energien für solche Befreiung aus dem Elend der Kriege und sozialen Verwüstungen lieferten die biblischen und theologischen Erzählungen. Aber der Hoffnungsglanz und die erwartbare Erfüllung der Lebensanstrengungen musste als irdischer Vorschein des Paradieses realisiert werden. Die protestantische Verweltlichung des versprochenen Heils hat insofern auch die Psychodynamik der Katholiken tangiert.

In jedem Augenblick des Genusses erfüllten sich Programme kirchlicher und weltlicher Baukunst, bürgerlicher oder adeliger Verhaltensweisen, privater oder öffentlicher Vorträge, literarischer Visionen und musikalischer Kompositionen. Sie blieben aber weiterhin gleichzeitig Verweise auf den Glanz himmlischer Sphären, die naturgemäß erst nach dem Tode erfahrbar sein würden.
Erfolgreichstes Medium des Genusses wurde das Sehen, das in der „schönen Aussicht“ oder im „Belvedere“, in der malerischen Vedute bis hin zum Panorama der ausgemalten Barocksäle oder in musikalischen Illustrationen die Betrachter und Hörer bezauberte.

Schlussendlich kennzeichnet der Stilbegriff „Barock“ die alles umfassende Dynamisierung der Lebenskraft bis zur Ekstase. Es ist zwar übertrieben wie die barocke Gestik selbst, aber immerhin gerechtfertigt, diesen Zustand mit der Wirkung von Rauschmitteln zu vergleichen. Wie alle zunächst stimulierenden Gewohnheiten sich langsam abschwächen, reduzierten sich auch die großen barocken Gesten des Einverständnisses mit Welt und Walten zu überfeinerten und damenhaft zarten Andeutungen im Rokoko. Man kann nicht ständig im Hochgefühl der Offenbarungssehnsucht und der Wunscherfüllung leistungsfähig bleiben und begrüßt erleichtert wieder Klarheit, Formenstrenge und Stille nach dem Sturm im Klassizismus.