Buch Natalia Nikitin: Kunst-Orte

Natalia Nikitin: Kunst-Orte. Graz 2007
Natalia Nikitin: Kunst-Orte. Graz 2007

Ausstellungskatalog

Erschienen
01.01.2007

Herausgeber
Peer, Peter | Weibel, Peter

Verlag
Neue Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum

Erscheinungsort
Graz, Österreich

ISBN
3902241241

Umfang
86 S., überw. Ill.

Einband
Softcover

Seite 38 im Original

Fotografieren als Evidenzkritik durch Evidenzerzeugung

Natalia Nikitins Ereignisse mit Erscheinung

Wie schützt man sich vor den medialen Tsunamis, vor den Bilderfluten und Appellkaskaden der Elektronik, der Call Center und Powerpoint-Präsentationen? Bisher flüchtete ich zu den großen stillen stehenden Bildern der Malerei (siehe B.B. Der Barbar als Kulturheld).

Ich bemerke aber in jüngerer Zeit, dass ich auf dem Weg in die Museen zur Adressierung der heroischen Formate Kataloge benutze, die mich fotografisch auf meine Fluchtpunkte vorbereiten. Oft kehre ich dann befriedigt von der Vergewisserung durch Fotografien an den Schreibtisch, das Kampfterrain der „Ein-Mann-Armeen“ zurück, ohne hinter die schützenden Wälle der Museumsbauten geflüchtet zu sein.

Mich überkommt mehr und mehr ein bemerkenswertes Zutrauen zu einzelnen Fotografien, die mir deren Urheber zugänglich machen, wobei eben die Person des Fotografierenden wie der Ort der Übergabe dieses Zutrauen zu begründen scheinen. Ich möchte in den Lichtkünstlern, in den Lichteraten (Photo = Licht, – graphein = schreiben) Hüter meines Verlangens nach Bleibendem sehen, Retter des Augenblicks aus dem Zeitstrudel, wo alle sich pathetisch in bloße Versprechen eines erst Werdenden flüchten und niemand mehr Behauptungen wagt und Setzungen schafft, sondern bloße Verweise auf Möglichkeiten in der Zukunft vage andeutet, ohne jede Verbindlichkeit. War nicht diese Flucht aus der Verpflichtung zum Widerstand durch Bleiben erheblich mit dem beliebigen Spiel der Medien seit der Massenverbreitung der Fotografie vorangetrieben worden? Das trifft zu. Aber die geschichtliche Entwicklung der technischen Massenmedien scheint inzwischen, wie jede Historie, eine innere Logik zu demonstrieren, der zu Folge aus ruhigem, unauffälligem Anfang die sich steigernde Dynamik der Furie des Verschwindens entsteht. Von heute aus gesehen erscheint die gute alte Fotografie nicht mehr als technisches Medium, sondern als drittes Auge der offenbarenden Inspiration, als Vergegenwärtigung der Evolution unserer Weltwahrnehmung, als Hilfsaggregat des Gehirns, um seine Repräsentationen der Welt auf längere, nachhaltige Untersuchungsdauer zu stellen.

Derartige Fotografien der Anfangszeiten nutzen wir wie ein Seinsregister, weil die getätigte Fotografie glaubwürdig behauptet, die Beziehung des einen Bildes zu den vielen und das Singuläre zu dem Kontinuierlichen in grundlegender Weise/grundsätzlich/urtümlich zu vermitteln. Dazu gehört vor allem die Einheit von Ort und Zeit, von Individuum und Gesellschaft, von Bewusstsein und Kommunikation.

Eine solche Einheit stiftet die Fotografin Natalia Nikitin in ihrem Ausstellungskonzept „Kunst-Orte". Wie weitgehend ich sie als Stifterin in Anspruch nehme, sei daran zu ermessen, dass ich jüngst eine Reihe ihrer Arbeiten erwerben konnte, um sie für meine Selbstvergewisserung an Ort und Stelle, also zur Fixierung in meinen Arbeitszusammenhängen zu nutzen. Orte der Kunst erinnert an die Formulierung der Orte des Erinnerns, womit eine gewisse Anbindung von Örtlichkeit und psychischer Aktivität angedeutet wird. Der ältere Begriff heißt Geopsyche oder Topologie des menschlichen Lebensraumes. Es scheint sogar auf gewisse Weise selbstverständlich zu sein, von inspirierenden oder bedrückenden Ortserlebnissen zu sprechen, von Stimulierung oder Störung durch Gegebenheiten des Ortes. Deswegen galt es seit Alters her, die Örtlichkeiten so zu definieren und zu gestalten, dass der jeweils gewünschte Effekt erzielt werden Konnte. Das galt für die Stadtgründung und die architektonische Gestaltung der Städte schon seit den antiken Zeiten, mit der besonderen Betonung der Stadtkrone, der Markt- und Gerichtsplätze, der Bäder und Theater, der Tempel und Archive.

In neuerer Zeit entwickelten sich in diesem Schema die Orte der Kunst, also seit dem 14. Jahrhundert ausgehend von Norditalien in ganz Europa. Das waren Paläste, Studioli, Bodegen, Ateliers, schließlich Kunst- und Wunderkammern, Lehrsammlungen, Museen, Kunstvereine und Galerien.

Als generelle Tendenz ist das Bemühen seit 150 Jahren auszumachen, auch die Landschaften zu Orten der Kunst werden zu lassen (Freilichtmalerei) bzw. das Theater in den Straßen fortzuführen, oder die Ausstellung an Nicht-Orten wie in Kommunikationsstrukturen (Telefonpoesie) oder in umgewidmeten Arealen statthaben zu lassen. Inzwischen, so zeigen auch die Arbeiten von Natalia Nikitin, sind die Orte der Kunst eben jene Orte, an denen Künstler sich entschließen, Aktivitäten zu entwickeln. Die Aktivitäten folgen Ablaufschemata wie Aufbau und Abbau, Beginnen und Enden oder Verhüllen und Enthüllen, Entstehenlassen und Zerstören, wobei die Künstler ihre Aktionen daran ausrichten, für den Betrachter einerseits Sinnfälligkeit der Begriffe und Konzepte zu bieten, andererseits diese Sinnfälligkeit durch Mehrwertigkeit der Zeichen und Vieldeutigkeit ihrer Verwendung kritisierbar werden zu lassen. Das entspricht der allgemeinen menschlichen Erfahrung, dass wir jederzeit mit Sinnestäuschungen zu rechnen haben, also man sich vom eigenen Augenschein kritisch distanzieren, dann aber doch zu einer Bewertung kommen muss. Wir nennen diese Bewertung „Verstehen", wenn wir mit anderen die Bewertung teilen.

An der Arbeit Zarko – Glühend aus Nikitins Serie Art Klyasma lassen sich diese fotografischen Vermittlungen von Kritik der Sinnfälligkeit und dem Beweis des Verstehens durch Evidentwerden des Zweifels nachvollziehen. Zunächst geht es um die Differenz von Hitze und Kälte, von Feuer und Eis. Der Schnee ist real, das Feuer in doppelter Weise schriftlich und zeichenhaft repräsentiert (das Zeichen scheint direkt aus Gemälden von Matisse entnommen zu sein, wie sie etwa in der Sammlung Berggruen/Berlin vorhanden sind). Durch diese symbolische Repräsentation von glühendem Feuer auf dem Schnee wird die beschneite Fläche zu einem Schreib- und Malgrund wie Papier oder Leinwand. Diese Evidenz wird kritisiert durch das Auftreten realer Personen, die symbolische Figuren wie „Großväterchen Frost“ oder „Weihnachtsmann“ in reale Gestalten überführen. Die Realisierung ist das Glühen ihrer Leiber, das einerseits die volkstümliche Gewohnheit der Nutzung von Wärmsteinen und andererseits die Bezeichnung psychischer Energien als „glühende Verehrung“, „inneres Feuer“ oder als Beseeltheitsodem (heute noch in dem Begriff Fumetti = Räuchlein = Sprechblasen = Atemdampf) anspricht. Die offensichtliche Ironie, der Bilderwitz und das Pointenfeuerwerk sind der sinnfällige Ausdruck, also das Evidentwerden der Evidenzkritik. Eine derartige Pointe liefert die Freilegung von Zeichen im Eis durch Fegen als Säubern oder Radieren. Zum Vorschein kommt die populäre Ballettfigur des „Sterbenden Schwans“, womit endlich Verständnis des Sterbemotivs als schlichtes „Erfrieren im Eis ermöglicht wird – kein Wunder, wenn man nur leicht bekleidet einen Wasserbewohner im Winter darstellt und die symbolische Repräsentation sich als lebende Gestalt realisiert. Die spezifischen fotografischen Vermittlungsleistungen von Ereignis und Erscheinung, von Künstler und Kunst, von symbolischer Repräsentation und realem Symbolträger gelingen Natalia Nikitin, indem sie die einzelnen Fotografien, wie deren thematische Zuordnung, betontermaßen ohne jede Steigerungsdramaturgie oder Effekthascherei präsentiert.

Die bemerkenswerte Leistung der Fotografin Natalia Nikitin sollte man darin sehen, dass sie stets darauf zu achten scheint, die überall zugänglichen, die selbstverständlichen Techniken der Vereinzelung und Verknüpfung zu umgehen, also nicht zu montieren, nicht zu collagieren, nicht zu solarisieren, nicht doppelt zu belichten, nicht zu paint-boxen etc. – sondern? Die überzeugende Wirksamkeit ihrer Fotografien liegt gerade darin, jede technische Manipulation zu vermeiden, um den eigentlichen Begriff des Mediums von der technischen Seite des Fotografierens auf die psychische Leistung des Imaginierens zurückzuführen. Auf den ersten Blick bieten sich ihre Fotografien als lapidare Feststellungen an: eine Bühne, ein Atelier, eine Galerie oder eine schneebedeckte Waldwiese. Aber die Wirksamkeit dieser lapidaren Geste bemerkt man durch die Kraft ihres Appells, nämlich zu imaginieren, was auf der Bühne oder in den besagten Aktionsräumen passieren konnte, wobei man immer einerseits an etwas schon Erlebtes erinnert wird, und andererseits auf ein etwas spukhaft undefinierbares Geschehen verwiesen wird. Diese Eröffnung des Zusammenhangs von Erinnerung und Erwartung, von konkreter Situation und allgemeinem Ereignismuster nennt man Konstellation. Die Fotos von Natalia Nikitin eröffnen durch die Wahl der Bildausschnitte als Ereignishorizonte stets derartige Konstellationen. Dem realen Ereignis, auf das sie durch das Fotografieren verweist, entspringt eine Erscheinung. Um sich zu vergegenwärtigen, welches Erkenntnispotential in Nikitins Konstellationen steckt, sollte man sich, auch wenn das zunächst sehr weit hergeholt zu sein scheint, an zwei Komplexe theologischer Begriffsarbeit erinnern, an die Evidenz für Epiphanie und an die trinitäre Struktur jeder Beziehungsdarstellung.

Ereignis mit Erscheinung nannte ich in den 1960er Jahren die Vorführungen von Beuys. Das zielte auch damals schon auf eine Verdeutlichung der theologischen Epiphanie. Damit ist ursprünglich die Vergegenwärtigung des auferstandenen Christus in der Vorstellungswelt seiner Jünger gemeint. Hervorgerufen wird die Erscheinung (als das Durchscheinen einer ideierten Gestalt), indem die Jünger jene Landschaften immer erneut durchstreiften, in denen sie einst mit dem realen Jesus ihre Tage verbracht hatten. In den Arbeiten von Natalia Nikitin geht es analog um die Epiphanie der Kunst. Wir durchstreifen immer erneut die Orte der Kunst, wie die Jünger die Orte der Erinnerung an Jesus. Anders denn als Epiphanie kann man sich der Kunst nicht mehr vergewissern. Aber Epiphanie bezeichnet nicht nur das Wiedererscheinen des Vergangenen als herrschende Vorstellung, sondern auch den Vorschein des Kommenden, des als unsere Erwartung Realen. Die Fotografien Natalia Nikitins entfalten sich als reale Erwartung, wo es ihnen gelingt, derartige Epiphanien zu stiften. Sie markieren dann prägnant im Wahrnehmungsfeld eine Konstellation von gegebenen Wahrnehmungsanlassen, von Ereignismustern und Imaginationen derart, dass die Imagination zu arbeiten beginnt und aus der Kraft der Erinnerung der Vorschein des Gewünschten oder Gefürchteten im „als ob“ der Kunst entsteht. Wir sehen es, als sähen wir nicht.

Die spezifischen Vermögen, welche die Fototechniken als Werkzeug der Werktätigkeit (der handwerklichen wie künstlerischen) eröffnen, liegen in der neuartigen Erzeugung des Verhältnisses von Kontiguität und Kontinuität oder von Einzelnem und seinen verschiedenen Zusammenhängen mit anderem. Auch die Darstellung des Verhältnisses von Diskretem zur Einheit des Vielen (etwa als ein Ganzes oder als eine Summe, u.ä.) gelingt Nikitin fotografisch in besonderer Weise: Wenn Erzeugen als ein Zur-Erscheinung-Bringen verstanden wird, stellt sich unabdingbar die Frage, wie die Erscheinungen zu qualifizieren sind, etwa als Halluzinationen, Träume, Projektionen, Wahrnehmungsstörungen, optische Täuschungen oder Zauberei. Es ist beim bloßen Fotografieren herkömmlicher Art nicht möglich, die Echtheitsprüfungen durchzuhalten, weil es in der Natur der Fototechniken liegt, jede beliebige Manipulation zu ermöglichen.

Da Nikitin derartige Manipulationen strikt ablehnt, wird die Qualifizierung der Erscheinungen, also der Evidenzerlebnisse, dem Wahrnehmenden abverlangt, etwa nach folgendem Beispiel: Der Zeuge vor Gericht bekundet ein Evidenzerlebnis, wenn er sagt, er habe einen Verkehrsvorgang mit eigenen Augen in ganz bestimmter Weise wahrgenommen. Der Zeuge erscheint nach den Kriterien unserer Alltagskommunikation als ebenso glaubwürdig, also „dem wirklichen Geschehen“ verpflichtet, wie andere Zeugen im gleichen Fall vor Gericht, die aber ihrerseits den Verkehrsvorgang in erheblich anderer Weise wahrgenommen haben, wobei sie sich auf das gleiche Kriterium des Evidenzerlebnisses überzeugend berufen. Dem Richter obliegt es, derartige Evidenzerlebnisse als Wahrheitsbeweise kritisch zu bewerten, indem er die polizeilichen Feststellungen als Protokoll und Bilddokumente sowie die verschiedensten Evidenzerlebnisse der Zeugen in einen neuen Zusammenhang zu bringen versteht. Medientechnisch heißt das, die einzelnen Bilddokumente in den Zusammenhang mit jenen zu bringen, die ihnen voraus liegen mussten, aber nicht als Protokollsätze oder Fotos realisiert wurden. Der Richter entwickelt also eine Vision möglicher Zusammenhänge des Dokumentierten mit dem Nicht-Dokumentierten. Die einzelnen diskreten Dokumente werden auf einen Zusammenhang von Handlungen bezogen, die ihnen in irgendeiner Weise zu Grunde liegen müssen. Dazu erörtert der Richter, welche Art von Zusammenhängen zwischen den dokumentierten und den nicht dokumentierten Ereignissen sinnvoller Weise vorauszusetzen sind.

Zum anderen sieht sich der Richter genötigt, die unterschiedlichen Evidenzerlebnisse aller Zeugen des gleichen Verkehrsvorgangs nicht mehr nach den herkömmlichen Kriterien der Unterscheidung von Wahr und Falsch zu beurteilen. Ihm ist vielmehr zugemutet zu akzeptieren, dass jedes Evidenzerlebnis gerade durch die natürlich gegebene Möglichkeit der Täuschung, der Halluzination oder Schockreaktion, der Motivations- und Interessenslage bestimmt ist. Der Richter hat also die spezifische Erkenntnisleistung zu erbringen, dass man von den natürlichen Täuschungsmöglichkeiten der menschlichen Wahrnehmung und Urteilsformen zur Erzeugung von Evidenz als Wahrheitsbeweis nur durch Enttäuschung Gebrauch machen darf. Diese spezifischen Anforderungen an Selbstaufgeklärtheit des Gebildeten entwickelten sich zwar schon vor der Fotografie (erst recht vor Film, Fernsehen und der computergesteuerten elektronischen Bildgenerierung) – etwa zu Zeiten der systematischen Nutzung des trompe l‘oeil-Effekts. Durch die „Augentäuschermalerei“ des 17. Jahrhunderts wurden etwa die Bürger bei ihrem Kampf um die gesellschaftliche Vorherrschaft darauf trainiert, sich gegen billige Manipulationen, Tricks, Zaubereien, Versprechungen zu feien. Aber die Möglichkeiten eines Malers, eines Architekten, eines Tuchmachers, eines Wollfärbers, etc. einen Kunden zu täuschen, waren ja relativ beschränkt im Vergleich zu jenen Täuschungsmöglichkeiten, die durch die Fotografie und erst recht durch die jüngeren Technologien der Evidenzerzeugung ermöglicht werden. Deswegen kann man von Gemälden, Architekturen, Designstücken nie derart enttäuscht werden wie das bei den avancierten Medien der Fall ist (obwohl die Entwicklung der Zentralperspektive doch schon staunenswerte Täuschungen in den Dienst des Weltbeweises gestellt hatte).

Ergebnis: Seit der Entwicklung des Werkzeugs Fototechnik stellen alle Medien der Evidenzerzeugung an die Adressaten Anforderungen wie an den oben angesprochenen Richter. Nikitins Konstellationen eröffnen derartige Verhandlungen, und ihre Adressaten machen dann einen angemessenen Gebrauch von den Fotografien, wenn sie sich enttäuschen lassen.

Von medialen Effekten werden nur unaufgeklärte Naivlinge überwältigt. Der Kenner genießt seine Fähigkeiten, im selben Augenblick durch Evidenzerlebnisse getäuscht zu werden und zugleich die Täuschung zu durchschauen. Indem besagte Medientechnologien diesen Effekt der zeitlichen und sachlichen Einheit von Evidenzerzeugung und Evidenzkritik ermöglichen, sind sie tatsächlich Erkenntniswerkzeuge. Die Erkenntnis selber erweist sich erst in der Fähigkeit, Evidenzerzeugung und Evidenzkritik ihrerseits wieder evident werden zu lassen. Genau das nennen wir in Europa seit Beginn des 14. Jahrhunderts die spezifische Leistung von Künstlern in den verschiedensten Feldern der Evidenzerzeugung also als Bildwerk, Architektur, Musik, Poesie, Literatur (von den damals entstehenden Wissenscharten ganz zu schweigen). Die christliche Theologie war dafür eine Voraussetzung. Zum einen hat die ethische Forderung des Paulus, zu haben, als hätten wir nicht, die Philosophie des „Als ob“ in der Nachantike zur Geltung gebracht und damit die Wirkungskraft des Symbolischen enorm verstärkt, zum anderen überwand spätestens die Bildtheologie des Suger von Saint Denis, des Programmatikers der Gotik, die Einfältigkeit alttestamentarischer oder mohammedanischer Bilderverbote. Denn das Verbot, Gott abzubilden, wird ja nur umgangen und nicht befolgt, wenn man es vermeidet, Gott darzustellen, aber damit nicht die inneren Bilder, die ideellen Bilder löschen kann, die der Gottesbegriff in jedem Menschen natürlicher Weise zur Vorstellung bringt.

So wie die christliche Theologie philosophisch unabweisbar jeden Gottesbegriff als dreifaltig angeben muss (als Gott, als Gottesbegriff des Menschen sowie die Beziehung zwischen Gott und Mensch), so ist auch die Bestimmung der Zeichen für die Darstellung von irgendetwas, also auch von Gott, nur im Hinblick auf die Dreifaltigkeit von Semantik, Syntaktik und Pragmatik funktionstüchtig. Erst die mittelalterliche Unterscheidung von Symbol, Allegorie, Anagogie (und schierer Materialität der Zeichen) ermöglichte es, die blutige Auseinandersetzung um den Wirklichkeitsanspruch der Zeichen (als byzantinische Bilderkriege zwischen 730 n. Chr. und 840 n. Chr. in schrecklicher Erinnerung) zu beenden. Mit der Feststellung, dass jedes Bild Gottes ein bloßes Zeichengefüge ist, also ein Verweis auf die Unterscheidung zwischen begrifflicher Fassung, innerer Vorstellung und symbolischer Repräsentation, wurde die Gottesdarstellung möglich, ja, Gott muss geradezu dargestellt werden, um die Undarstellbarkeit darzustellen und im erweiterten Sinne das Unfassbare zu fassen und das Undenkbare zu denken – aber als Unfassbarkeit, Unvorstellbarkeit und Undenkbarkeit. Darin erweist sich die grandiose theologische Leistung, den Heiligen Geist immer schon als Bestandteil des Dreifaltigen zu bestimmen: Er wird zum Medium, in welchem erst die Relation Gott – Mensch als Bestandteil des Gottesbegriffs in Erscheinung tritt. Nun ersetze man in diesen Philosophemen den Heiligen Geist durch Malerei, Fotografie etc. und Gott durch den Kunstbegriff, so hat man den Übergang von einer bloß substantialistischen Kunstauffassung zu einer relationalen. Auf diesen Übergang von Kunst als dinghafte Gegebenheit zur Kunst als relationale Konstellation von Künstler, Betrachter und der medialen Werktätigkeit ist die fotografische Arbeit von Natalia Nikitin ausgerichtet. Man könnte sogar sagen, dass sich in ihren Arbeiten über die „Kunst-Orte“ eben jene konstellative Trinität erfüllt, weil sie es ermöglicht, sowohl als Künstler wie als Publikum herauszutreten in die Enttäuschung, die aber Erkenntnis stiftet. Mit der spezifischen Leistung ihrer Fotografien haben wir die Chance, den gewünschten Aufklärungseffekt zu erreichen, vom bloß kunstgläubigen Paulus zum Saulus der Kunstreflexion zu werden.

Wem diese Hinweise angesichts der zeitgenössischen Medienpraxis als zu abgehoben, zu „theoretisch“ erscheinen, möge sich an die heftigen Auseinandersetzungen um die Errichtung eines Holocaust-Denkmals erinnern. Die gleichsam alttestamentarische Position meldete sich in der Auffassung zu Wort, dass man das unfassbare, unvorstellbare und undenkbare Ereignis industriell systematischer Tötung von Menschen nicht darstellen könne, wenn man die Entwürdigung vermeiden wolle, das Unvorstellbare auf die alltägliche Erfahrung von millionenfacher Tötung Seuchen tragenden Viehs herunterzuziehen. Die Aufklärerposition der Kunst behauptete hingegen, es ginge gerade darum, das Undarstellbare als undarstellbar darzustellen, wie Undenkbarkeit zu denken und Unvorstellbarkeit vorzustellen. Natürlich liegt es nahe, für diese Aufgabe hinreichend abstrakte, das heißt kaum Vorstellungen provozierende Zeichen zu wählen, mit dem Ziel, den Betrachter möge gerade das Problem des Denkens von Undenkbarem, Unvorstellbarem, Undarstellbarem bewegen. Wer möchte es nicht gerne als Zeichen der Aufgeklärtheit deutscher Berlinbesucher werten, wenn er sie bekunden hört, das Holocaust-Denkmal sei doch sehr enttäuschend.

Wie kommt eine derart kognitive Leistung zustande? Wer ein Templum bildet, also durch Linienziehung das Diesseits vom Jenseits der Linie, das Rechte vom Linken, das Obere vom Unteren scheidet, macht die Erfahrung, dass er das gerahmte Blatt oder das umfriedete Beet oder das einzelne Buch stets in Konstellationen des Zusammenhangs (wie Bibliothek, Garten oder Galerie der Bilder) sehen muss. Seit Aristoteles Zeiten werden grundsätzlich zwei Typen des Zusammenhangs unterschieden: Die Kontiguität und die Kontinuität. Für die erstere steht etwa die Vorgehensweise von Künstlern, die in einem Präsentationsraum verschiedenste Objekte verschiedenster Materialität, Größenverhältnisse und Anmutung akkumulieren, aufeinander schichten oder nebeneinander platzieren. Das heißt, die einzelnen Dinge bleiben in ihrer Besonderheit bestehen, bilden aber als Skulptur (wie im „Environment“ von Meese) eine neue Einheit.

Kontinua hingegen entstehen, wenn durch mediale Techniken wie das Ein- und Zusammenschmelzen, durch Mehrfachbelichtungen, durch Paint-Box-Bearbeitung einzelner Aufnahmen, durch Hypermediatisierung elektronische Zeichengefüge, aus der Vielheit der Elemente eine Einheit wird (wer Bücher zu einem Stapel zusammenlegt, bildet eine Kontiguität – einen Zusammenhang des verschiedenen, des diskret Bleibenden; wer aber die gescannten Seiten aller Bücher in einem Computer zusammenführt, lässt ihre Inhalte ein neues Kontinuum des Themendiskurses führen).

Man kann das Diskrete, das Einzelne als Bruchstück, als Unterbrechung des Kontinuierlichen bemerken, wie umgekehrt der kontinuierliche Verlauf als Passage über die distinkten Elemente, wie ein Schritt über Schwellen, vorgestellt werden kann. Jede Vereinzelung verweist also auf die Möglichkeit der Verknüpfung, und die Verknüpfungen verweisen auf die harten Schnitte der Vereinzelung. Dafür stand die moderne Gestaltungstechnik des Cuttens und des Montierens. In Eins gesetzt ergab dies Erscheinungsbilder wie die Kontinuität als Collagen, als Überblendungen, als Schichtungen. Im Zeitalter elektronischer Gestaltungsmöglichkeiten sind solche Formen der Vermittlung des Diskreten und des Kontinuierlichen zu jedermanns Verfügung. Sogar die Programme zur Stiftung von Zusammenhängen in Unzusammenhängendem (Kontiguität) werden jedem vorgegeben, etwa als Anordnungsvorschläge für die Präsentation von Waren, genannt Displays.

Allmählich setzt sich die Auffassung durch, die Herstellung der Produkte stifte mühelos Kontinuität, ihre Vermarktung beruhe auf jederzeitiger Eröffnung von Kontiguität, für die etwa der Einkaufskorb kennzeichnend ist. Es sieht so aus, als verschaffe sich der Zeitgenosse sein Evidenzerlebnis des Schöpferischen als Urheberschaft in der Zusammenstellung der ausgewählten Waren.

Damit sind die bedeutendsten Kontigua und Kontinua angesprochen, die wir kennen: genannt kommerzieller Verwertungszusammenhang. Das trinitäre Medium Heiliger Geist ist in das Geld als einzig allgemein anerkannte Vermittlung von diskreten Dingen in der Kontinuität ihrer millionenfachen Reproduktion und in der Kontiguität ihres Tausches auf dem Markt verwandelt worden.

Es ist die herausragendste Leistung der Künstlerin Nikitin, gezeigt und zugleich kritisiert zu haben, was die Einheit von theologischen, ökonomischen und techologischen Evidenzerzeugungen ausmacht. In allen drei Feldern resultiert die verlässliche Geltung aus der Bereitschaft und Fähigkeit, die zauberhafte Evidenz radikal zu kritisieren und das Resultat seinerseits evident zu machen als Affirmation. In Arbeiten wie denen von Natalia Nikitin wird das Resultat der Kritik naiver Kunstbastelei oder Schöpfungsimitation als Negation der Negation tatsächlich affirmierbar. Diese Arbeiten sind weder Kunstbehauptung noch Pathos der Kritik, sondern Vermögen der Erkenntnis stiftenden Enttäuschung. Auf die personale Konstellation übertragen, in der sie sich bewegt, heißt das, sie ist weder Groupie von Künstlern noch Nike durchdringender Kritikermacht, sondern lebenserfahrene Hermeneutin für Selbstaufklärung der Zeitgenossen, die sich nicht nur als Konsumenten, Wähler und Patienten, sondern vor allem als Publikum professionalisieren müssen: sie werden glückliche Enttäuschte des bloß anmaßlichen Schöpfergetues und der ebenso peinlichen Prätention radikaler Kritik.

siehe auch: