Buch Stephanie Senge: Konsumbibliothek

Stephanie Senge: Konsumbibliothek. Wien 2022
Stephanie Senge: Konsumbibliothek. Wien 2022

Mit Beiträgen von Stephanie Senge, Melanie Ardjah, Bazon Brock, Eva Paulitsch, Eva Tillig und Wolfgang Ullrich. Anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Kunstverein Göppingen. 

Erschienen
01.01.2022

Herausgeber
Ardjah, Melanie

Verlag
Verlag für moderne Kunst

Erscheinungsort
Wien, Österreich

ISBN
978-3-903439-40-5

Umfang
544 S.

Einband
Broschur

Seite 50 im Original

Bazon Brock über Stephanie Senge

Transkript des Online-Vortrags am 15.07.2020 anlässlich der Ausstellung in der Kunsthalle Göppingen

„Ich finde es ist eine grandiose Arbeit, dass eine Künstlerin mit der gleichen Evidenz, also wirklich vor Augen geführter, Sinnfälligkeit und Argumentation arbeitet wie ein Denker. Stephanie Senge steht so auch in der Tradition von Walter Benjamin und den Kulturwissenschaftlern und Kunsthistorikern Aby Warburg und Kirk Varnedoe. Das ist eine ganz erhebliche und so niemals erwartbare Leistung.“
Bazon Brock

Die Konsumbibliothek

Seit Jahren habe ich mich für die Arbeit von Stephanie Senge interessiert, und zwar in ganz dezidierter Hinsicht, weil sie meine eigene Arbeit betrifft, die Vermittlung von Ästhetik in der Alltagswelt. Es nutzt ja nichts mehr, sich in seinem Atelier künstlerisch auszutoben, wenn von dieser Leistung her kein Einblick in die Welt und unser Alltagsleben möglich ist. Also kommt es darauf an, das, was Künstler und Wissenschaftler in ihren Ateliers herausfinden, was sie als Erkenntnisse vermitteln und als Bildgebungsverfahren entwickeln können, auch für den User nutzbar zu machen, also wirklich brauchbar zu machen – to use. Und das heißt, die Ästhetik, die Überlegungen zum künstlerisch-wissenschaftlichen konzeptuellen Arbeiten oder zur Bildgestaltung oder Bildwerdung in den Alltag zu übertragen. Und da war Stephanie Senges Gedanke, sich mit ihren ästhetischen oder künstlerisch-skulpturalen und malerischen Themen auf die bedeutendste Sphäre der Alltagswelt, nämlich auf die Warenwelt und vor allem auf die Distributionswelt der Waren, also auf die Kaufhäuser/Supermärkte zu beziehen, ganz grundlegend. Noch nie vorher hat jemand das gemacht.

Dann hatten wir den Gedanken, diese unglaubliche Leistung, die sie für sich schon längst erbracht hatte, lange bevor wir, also Wolfgang Ullrich und ich, mit ihr zusammengearbeitet haben, jetzt noch zu erweitern im Hinblick auf zentrale Aspekte unserer Kulturellen Vermittlung – zum Beispiel auf die Bibliotheken, weil ja heute die Menschen in die großen Kaufhäuser wie früher in eine Bibliothek gehen, um sich über ihr Alltagsleben zu informieren, um zu sehen, was sie im Hinblick auf Reinigung, Ernährung, Haushalt, Gesundheit für sich selbst mit Ihren jeweiligen Budgets erwerben können. So wie sie heute in die Supermärkte gehen und dort die Warenangebote in den Regalen betrachten, sortieren, beurteilen, so ging man früher in Bibliotheken. Die Gestaltanalogie ist ganz auffällig, aber auch die funktionale, strukturelle Analogie zwischen dem Display, das im alten Bibliothekszusammenhang entwickelt wurde: nämlich Bücherreihen, die nach Autor und Sachgebieten geordnet wurden, und der heutigen Warenpräsentation, die ebenfalls nach Autoren – in diesem Fall Firmen – oder Sachgebieten geordnet ist, nach Angeboten oder nach Produkt-Klassen.

Da hat Stephanie Senge etwas ganz Fabelhaftes gemacht. Sie hat nämlich die Hauptkriterien in der Unterscheidung von Findungsstrategien, die die Bibliotheken entwickelt haben, auf die Warenwelt übertragen, und zwar nicht mutwillig, sondern anhand der Betrachtung der Waren selber, denn auf den Packungen steht längst das, was wir in der Bibliothek als ordnende Begriffe kennen: Schönheit, Männlichkeit, Gesundheit, Freundschaft, Liebe, Krieg und so weiter. Senges Arbeit zeigt, wie diese Kriterien der Unterscheidung von Sachgebieten, nach denen in den Bibliotheken Bücher geordnet und dem Publikum angeboten werden, jetzt in Relation zu den Begriffen gestellt werden, die auf den Produkten stehen. Das heißt, in der Bibliothek finden wir zu einem Aspekt wie „Liebe im Sommergarten“ 250 Seiten, und die vielleicht von zehn Autoren; auf der Produktseite sehen wir von 150 Anbietern auf den Produkten selber vielleicht insgesamt zehn Zeilen. Und die Frage ist, wie die Informationen, die in diesen zehn Zeilen auf den Produkten stehen, bei einer Variante, sagen wir mal, von 150 verschiedenen Produkten wie zum Beispiel Waschmittel auf der einen Seite mit der zigfachen Informationsmenge in Bibliotheken auf der anderen Seite in Relation stehen.

Wie erklärt man das? Was ist es eigentlich, was beim Lesen von großen Autoren für das Publikum herauskommt? Wer liest heute noch Kant? Kant liest man, um am Ende zu sagen: Kant, das ist doch der Philosoph, der bewiesen hat, dass das, was das Volk immer schon sagte, richtig ist, nämlich: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Und die Summa von Kant-Leserei kann sich tatsächlich in diesem einen Satz zusammenfassen lassen. Oder ein anderes Beispiel: Musil, das ist „Der Mann ohne Eigenschaften“.

Alle Autoren, Thomas Mann und Gottfried Benn und Goethe und Schiller und weiß der Teufel wer, werden von ihren Lesern auf solche Standard-Rezeptionscluster, solche Erkennungssentenzen reduziert, zusammengeschnurrt. Und man unterhält sich dann über Musil eigentlich nur noch im Hinblick auf das, was einem von der schönen Bezeichnung „Mann ohne Eigenschaften“ im Kopf übrig geblieben ist. Selbst in den eher Klassischen Bildungsanstalten reduzieren die Nutzer Hunderte Seiten von Büchern auf wenige zentrale Sätze, auf Fangworte, sogar auf Kinderphrasen, auf das, was eben attraktiv genug ist, um es weiterzutragen. Und da stellte sich heraus, dass die Nutzung der Bibliotheken mit Eindampfung der tollsten Autoren auf wenige Satze ungefähr dem entspricht, was die Produzenten der Angebote im Supermarkt mit den Produkten und den Inschriften machen.

Und so stellt sich eben heraus, dass etwa die Kategorien „Seele“, „Mann“, „Träumen“, „Schönheit“, „Zeit“, „Kraft“ auf den Produkten im Regal des Supermarktes genauso aussagekräftig sind wie das, was in den Verlagsankündigungen über ein Buch gesagt wird. Das sind auch nicht mehr als anderthalb Zeilen. Und diese Analogie ist ein ungeheurer Erkenntnisgewinn, der bei Stephanie Senge ungefähr da anknüpft, wo Walter Benjamin in den 1920er Jahren stehen geblieben ist, das heißt, bei der Vermittlung der hochkulturellen Ebene mit der subkulturellen Ebene, bei der Überlagerung dieser beiden Sphären.

In der Popkultur ist das in den 1960er/1990er Jahren mit der Überblendung von „high and low“ umgesetzt worden, also mit der Überblendung von „high culture“ und „low culture“, das heißt von Pop als „low culture“ auf der einen Seite und der großen konzertphilharmonischen Arbeit und der Musikgeschichte als „high culture“ auf der anderen Seite. Diese Überlagerung wie sie Benjamin oder Autoren wie Kirk Varnedoe – zum Beispiel in der großen New Yorker Ausstellung „High and Low“ zu Pop und Klassik angestellt haben, hat Senge genauso stringent und genauso einprägsam geleistet wie Benjamin oder Varnedoe oder wie in den gegenwärtigen kulturkritischen Anmerkungen, die hier und da in der kritischen Literatur zur Zeitsituation zu lesen sind. Ich finde, es ist eine grandiose Arbeit, dass eine Künstlerin mit der gleichen Evidenz, also wirklich vor Augen geführter, zur Sinnfälligkeit geführter Argumentation arbeitet wie Denker wie Benjamin oder Kulturwissenschaftler und Kunsthistoriker wie etwa Aby Warburg oder Varnedoe. Das ist eine ganz erhebliche und so niemals erwartbare Leistung.

Der zweite Aspekt meines Interesses an der Arbeit von Stephanie Senge, der mich auch zur Kooperation mit ihr veranlasst hat, war, dass Wolfgang Ullrich, Stephanie Senge und ich 2007 in München die Gesellschaft „Asketen des Luxus – Konvent der goldenen Eßstäbchen“ gründeten, ebenfalls mit dem Interesse, Alltagsphänomene – Ästhetik in der Alltagswelt ist mein Thema seit ungefähr 1965 – so zu erschließen, dass man sich den großen Umweg über die Bildungstraditionen nicht ersparen, ihn aber sinnvoller gestalten kann.

Man kann zielgerichteter lernen, man kann zielgerichteter argumentieren, und zwar daraufhin, dass entgegen den Aussagen der Popkultur, der Subkultur, der „low culture“ eben nicht mit der Absenkung der Preise die Verfügungsgewalt über die Dinge gestiegen ist. Wer auf der Niedrigpreisebene einkauft, muss alle drei Jahre, alle fünf Jahre den ganzen Kram auf den Müll werfen. Das ist aber ein ökonomisch vollkommen sinnloses verhalten. Gerade bei jungen Leuten, die ökologisch sinnvoll und nachhaltig leben wollen, ist der Billigpreiskonsum das Gegenteil ihrer eigentlichen Absicht. Nachhaltig ist nur das Teure, in dem ein wirkliches Äquivalent zwischen Qualität und Preis besteht. Nur das Teure und Kostbare ist das wirklich Billige.

Wir sind nicht angetreten, um ein Regelwerk aufzustellen, nach dem sich alle richten müssen, sondern um eine generelle Wertschätzungsstrategie und damit zur Respektbekundung über die Fertigkeit von Menschen anzuleiten, die so etwas herstellen können. Wir wollen dazu anleiten, die Qualifikationskriterien der Unterscheidung, die erst Bedeutung herstellen, zu entwickeln. Denn für Menschen gibt es auf Erden nur ein Kriterium, um Bedeutungen in die Welt zu bringen, das ist das Unterscheiden von Dingen. Wer nicht unterscheiden kann, kann in der Welt nichts Sinnvolles erleben. Man muss lernen zu unterscheiden, und die Unterscheidung nach Qualitäten auf den verschiedenen Ebenen ist dabei das wichtigste Kriterium.

Es war die Absicht der Gesellschaft „Asketen des Luxus“ zu zeigen, dass wir trainiert werden müssen, in ökologischer Hinsicht, in ökonomischer Hinsicht, in kulturhygienischer Hinsicht, in kommunikativer Hinsicht, uns auf das Kostbare auszurichten und den Standard der Hochwertigkeit wieder einzuführen, denn nur das ist wirklich nachhaltig.

Also ist die größte Bedeutung, die wir der Welt geben können, die Wertschätzung für das, was wichtig ist, was Kostbar ist, was bedeutsam ist, aber nicht, weil es irgendwo normativ angesetzt wird – wie wenn man sagt, Goethe an der Schule ist Pflicht –, sondern weil es der eigenen Fähigkeit entspricht, Einsichten, Erkenntnisse, politische Formulierung, Erweiterung des Bewusstseins, der Einbildungskraft für sich selber als produktiv zu erkennen.

Die starke Konsumentin

Das Dritte, was mich an der Kooperation mit Stephanie Senge interessiert, ist, dass sie Feministin ist, und zwar nicht eine der ausgewiesenen Propagandistinnen der Frauenrechte. Diese Rechte sind inzwischen selbstverständlich, auch wenn sie nicht überall gelten und man sich immer noch datur einsetzen muss. Aber darin endet Feminismus nicht. Feminismus heißt zu erkennen, dass heute, nach Ende der Diskussion um die Klassengesellschaft, eigentlich nur noch eine Gruppierung von Menschen Hoffnungsträger für Veränderungen der Zukunft sein kann, nämlich die Frauen, weil sie faktisch nicht gleichberechtigt sind, weil sie ein eigenes Motiv haben, sich für Gerechtigkeit einzusetzen. Gerechtigkeit ist der Grundbegriff des Aufbaus jeder Gesellschaft, zumal der Demokratie, das ist seit 2500 Jahren klar. Wir anderen – welche Aspekte der Männerwelt auch immer gemeint sind – könnten das bestenfalls mit einem unglaubwürdigen Goodwill oder was auch immer für Maskeraden tun. Aber Frauen kann man abnehmen, dass sie ein genuines Interesse daran haben, Gerechtigkeit in der Gesellschaft einzuklagen. Und das heißt, wenn Stephanie Senge die starke Konsumentin aufruft, zu sagen, die Wirtschaft, jetzt an Absatzzahlen von Waren gerechnet, sei abhängig vom Votum der Frauen, wenn die Frauen sich dessen bewusst sind, dass sie über den Abverkauf von Waren entscheiden, weil sie Kriterien der Qualität ins Spiel bringen – denn sie benutzen diese Kriterien der Qualität selber in ihrem Einkaufsverhalten –, dann ist das heute ein Feminismus, der sachlich richtig, psychologisch glaubhaft und vor allem alltäglich praktizierbar ist. Das beginnt an der Ladenkasse, indem man sich weigert, den Betrug von 1,50 Euro für ein T-Shirt weiter mitzumachen, nur damit ein paar verbrecherische Unternehmer weiter ihre Villen bezahlen können.

Stepanie Senges Einsatz für den Feminismus geht weit über die einkaufenden Frauen als Konsumregentinnen hinaus. Das betrifft im Wesentlichen politische Aspekte, die sie an historischen Bewegungen wie den Suffragetten festmacht, dass also Frauen, daher der Name Suffragetten, für ihr Wahlrecht eintreten, für ihr Behaupten von Positionen im gesellschaftlichen Bewusstsein, dass man das nicht geschenkt bekommt, sondern erkämpfen muss. Der wichtigste Aspekt des unsinnigen Arguments des Eurozentrismus, dass also das, was die Europäer hier treiben, ja nicht universal geltend sei, sondern eine spezifisch europäische Tradition, wird damit widerlegt. Dass die Europäer so etwas wie Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit hätten, die der Rest der Welt nicht brauche, oder dass Frauen auf der ganzen Welt nicht gleichgestellt seien, weshalb es unverständlich sei, warum das in Europa anders sein sollte – alle diese dummen Argumente werden entkräftet, weil die Suffragetten und andere Frauenbewegungen seit 150 Jahren gezeigt haben, dass man die Position der Gerechtigkeit, der Gleichheit, der Freiheit erkämpfen muss. In Europa gab es mindestens so heftige Kämpfe – in Europa unter Europäern –, wie sie je von Europäern gegenüber Asiaten, Afrikanern und Chinesen geführt wurden. Deshalb richten wir uns mit Stephanie Senge ausdrücklich gegen das Argument, wir trieben hier eurozentristische Spielchen, während die ganze Welt längst wisse, dass Frauen nun mal in die Küche und unter das Kopftuch gehörten, dass sie nun mal in die zweite Reihe gehörten und nichts zu sagen hätten. Dieses Argument ist nicht zu akzeptieren, der Kampf um Gerechtigkeit muss auch in Europa als erkämpfte Dimension der Einsicht erkannt werden. Das heißt, der Feminismus ist eine Formulierung derjenigen Verhaltensweisen, die man im Alltagsleben einsetzen kann, um den Grund, die Basis, das statische Grundgefüge für eine Gesellschaft, die demokratisch organisiert und auf Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gegründet ist, durchzusetzen. Alle anderen Akteure sind damit nicht mehr so glaubwürdig befasst, wie wir am Beispiel der Arbeiterbewegung sehen, wenn man sich ansieht, was die Gewerkschafter als Mitglieder der Geschäftsführung von VW mit ihren Millionengehaltern gemacht haben.

Das ist alles längst vorbei. Dahin gibt es keine Umkehr. Keine Gewerkschaft hatte je die Absicht, Gerechtigkeit walten zu lassen. Frauen aber, egal von welcher Partei oder Religionszugehörigkeit, haben Aussicht und das genuine Interesse, das zu ändern, und das heißt Feminismus in dieser Art von Verständnis. Feminismus ist uns durch Stephanie Senge besonders nahe gebracht worden. Ende des Gebets.

siehe auch: