Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
25.03.1995

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
25.03.1995

Negropontifex

Aufbruch ins 3. Jahrtausend? Online und multimedial? Eine Vision der Welt im Netzwerk? Die ganz neue Erfahrung mit ganz neuen Kulturtechniken?
Aufgefallen ist schon manchem, daß da etwas nicht stimmt: Die Gurus der neuen Medienwelt sitzen über dicken Handbüchern, aus denen sie lesend erfahren, daß sie sich aus der alten Gutenberg-Lese-und-Schreibkultur verabschieden müssen: Über die interaktiven Multimedien wird vor allem in Büchern und Zeitschriften räsoniert. Nicholas "media.mit.edu" veröffentlichte soeben unter seinem bürgerlichen Namen Nicholas Negroponte das Chefwerk über die Revolution der interaktiven Multimedia als ganz konventionelles Buch: Die digitale Existenz - gesammelte Kolumnen aus der amerikanischen Zeitschrift WIRED, dem Kultblatt der Multimediaten. Entschuldigend teilt Negroponte mit, er spiele gern mit der Ironie, die neue Medienwelt darzustellen, ohne sie für die Darstellung zu benutzen. Wenn man aber nicht einmal "Illustrationen" braucht, so N.N., um die neuen interaktiven Bilderwelten darzustellen, wozu braucht man dann diese neuen Bildmedien? Um zu kritisieren? Aber Negroponte will nicht abwehrende Kritik bieten, sondern offensive Propaganda. Ist sein Vorgehen bloß ein lustiges Paradox, wie er meint?
Als vor 20 Jahren die Pioniere der künstlichen Intelligenz die Schöpfungsvision überfiel, Computer zu bauen, die genauso leistungsfähig seien "wie natürliche menschliche Gehirne", übersahen sie, daß diese Leistung von jedem Normalbürger mit paarungsbereiter Bürgerin erbracht wird - kostengünstiger, gefahrloser und schneller als von den wissenschaftlichen Gottimitatoren.
Heute vergessen die Euphoriker der medialen Existenz gerne, daß vor allem die Leistungen "des natürlichen Gehirns" die Basis bilden für alle Beziehungen des Menschen zu seinem eigenen Organismus und zur Außenwelt, zu der eben auch andere Menschen gehören. Die Leistungskraft unseres Gehirns kann man zwar technisch/medial erweitern, aber nicht außer Funktion setzen wollen - es sei denn, man handelt mit Rauschgiften. Auch wer eine Bibliothek zur Hand hat, muß die vielen Bücher so verarbeiten wie jedes einzelne. Auch wer über noch so viele verschiedene Kommunikationsmedien verfügt, muß kommunizieren. Auch wer in interaktiven virtuellen Medienwelten herumspaziert, wird keiner anderen "Wirklichkeit" begegnen als der seines Gehirns, soweit es denn "natürlich" funktioniert. Das bewiesen schlagend die Mondfahrer, als sie ihre dortigen Erfahrungen so banal "natürlich" ausdrückten wie Tante Emma ihr schönstes Ferienerlebnis auf der Harzreise im Winter.
Um dieses natürliche Funktionieren unserer Gehirne gegenüber den damals neuen Bildwelten des Werbefernsehens zu ermöglichen und zu sichern, ging es in den 60er Jahren, als zum ersten Mal die Multimedien der technischen Evolution diskutiert wurden - besonders von Künstlern, die sich schließlich gegenüber den Medieneuphorikern als größere Realisten des menschlichen Kommunikationsvermögens erwiesen haben.
Die Künstler und Kunstwissenschaftler (der Ikonografie) wußten, daß Wortsprachen (mündlich oder schriftlich) nicht von Bilderfolgen (laufenden oder stehenden) ersetzt werden können. Auch Bilder (einzeln oder in Verknüpfung) müssen gelesen werden, um über sie zu kommunizieren. Bilder zu lesen, will genauso gelernt sein wie das Lesen von Schriften. Aber die Medienhinterweltler behaupteten mit missionarischer Inbrunst, die BildweIten der neuen Medien schafften die alten Schriftkulturen ab. Analphabetismus sei Medienavantgarde, nicht Manko. Und nun haben wir den Salat: Je dichter die mediale Vernetzung der Bildlesereliten, desto mehr naive Bildkonsumenten fallen durchs Kommunikationsnetz. Und die fängt kein soziales Netz mehr auf. Reiche Beute für Menschenfischer. Petrus Negropontifex, übernehmen Sie!