Jocks: Wie wird Zeit im Schatten von Angst und im Licht von Hoffnung erlebt?
Brock:
Angst ist, anders als die unbegründete Furcht, ein kulturevolutionär entwickelter Kontrollmechanismus, um Risiken zu vermeiden. Es gibt auch Angstpaniken, die aber nicht so leistungsfähig sind. Eine Angst oder Furcht, die auftritt, um ein zu großes Risiko nicht eingehen zu lassen, ist eine begründete und absolut positive Erfahrung. Hypochonder, die pausenlos um ihre Gesundheit bangen, leben besonders lange, weil sie gar keine Risiken eingehen. Folglich kann die Zeiterfahrung unter dem Druck der Angst außerordentlich produktiv sein. Umgekehrt kann Zukunftsantizipation unter dem Eindruck naiver Bedenkenlosigkeit oder eines gewissen Optimismus außerordentlich gefährlich sein. Auf diese von der Anthropologie her beschreibbare Bewertung der Evolution kommt es an und nicht auf den platten, allseits propagierten Hoppsa-jetzt-kommen-wir-Positivismus, der behauptet, Angst sei für zupackendes Handeln schädlich. Diese Position ist ganz falsch. Menschen, die Risiken vernünftig kalkulieren, tun das immer unter der Annahme, etwas könnte schief laufen, was natürlich scheinbar Angst macht. Umgekehrt richten Hauruck-Draufschläger, also die Vabanquespieler in der Geschichte, immer die größten Desaster an.
Jocks: Wozu neigen Sie selber?
Brock: Ich bin Pessimist aus Optimismus. Früher war ich gnadenlos optimistisch im herkömmlichen Sinn und ständig peinlich, ängstlich oder wütend berührt, wenn sich mein Optimismus nicht erfüllte. Die Menschen waren nicht so, wie ich es von ihnen erwartete, um meine Art von optimistischer Zukunftssicht verwirklichen zu können. Jetzt sehe ich die Dinge realistisch, d.h. pessimistisch. Ich bin dabei wesentlich ruhiger und gelassener, also eigentlich optimistischer, weil mich nichts von dem, was passiert, überrascht. Immer den schlimmsten Fall annehmend, versuche ich, diesen zu vermeiden. Je vernünftiger ich kalkuliere, desto risikoloser wird alles und desto optimistischer kann ich sein.
Jocks: Sehen Sie sich in der Nähe von Ernst Bloch?
Brock: Mit Bloch bin ich nicht sehr vertraut. Wenn Sie auf den Begriff der Utopie anspielen, so haben wir unsere eigenen Vorstellungen: Wir sehen die Utopie nicht mehr als anzustrebenden Idealzustand im reinen Nirgendwo, sondern als erfüllte Utopie im Überall. Nehmen Sie das Beispiel von Globalisierung etwa im Hotelwesen: Wenn Sie Kunde irgendeiner Hotelkette sind, so können Sie so gut wie an jedem Ort der Welt deren Angebot so wahrnehmen, dass Sie schon immer vorher wissen, wo sich der Lichtschalter im Zimmer befindet und was es zum Frühstück gibt. Das Nirgendwo der Utopie hat sich folglich im weltweiten Überall erfüllt. Das gleiche gilt entsprechend für die Zeit: Auch die Uchronie erfüllt sich nicht in der Nirgendzeit oder im Niemals, sondern in jedem Augenblick und im Immer, also in dem, was man mit "Ewigkeit" bezeichnet. Von uchronischer Geltung und Rechtfertigung spricht man, wenn etwas seit unvordenklichen Zeiten so ist, anthropologische Konstanten etwa. Uchronische Annahmen sind Evidenzannahmen, und bekanntlich wird das Evidente nicht thematisiert, sondern als etwas Selbstverständliches vorausgesetzt. In unserem kulturellen Alltagsleben wie auch in der zivilisatorischen Perspektive ist die Annahme von Selbstverständlichkeiten durch alle Menschen weit höher, als wir glauben. Das beginnt schon mit der Kommunikation: wir kommunizieren prinzipiell aus der Einsicht heraus, dass wir uns nicht verstehen können. Es bleibt uns von daher nur ein ganz geringer Spielraum, um mit Wahrheitsbeweisen, mit der Abarbeitung von Thesen oder mit Erkenntnisgewinn zu operieren. Man schätzt, dass das nicht mehr als zehn Prozent des bewussten Lebens von Individuen und Institutionen ausmacht. Der Rest ist unkritisch übernommenes Evidenzpotential. Man kann etwas hier und da in Frage stellen und daraus theoretische Überlegungen ableiten, wie Philosophen oder Künstler es tun. Diese Annahmen führen zu nichts weiter als zur Bestätigung der Evidenz. Kant kann soviel herumphilosophieren, wie er will. Er kommt über den Satz "Was du nicht willst, das man dir tu', das füg auch keinem anderen zu" nicht hinaus. Er untersucht die Evidenz in der Annahme von jedermann, denn jeder benutzt diesen Satz. Auf der Suche nach einer historischen Begründung fragt er, ob – und wenn ja, wann – dieser Satz im kodifizierten Recht verankert wurde. Über die Grundannahme einer Selbstverständlichkeit kommt er dabei nicht hinaus. So sehr sich Philosophen seit Platon auch bemühten, sie gelangten nicht über das Ausformulieren dessen hinaus, was wir ohnehin für gegeben halten. Egal, ob Sie die Bio- oder Neurowissenschaften nehmen, es geht stets um anthropologische Konstanten oder kulturevolutionäre Grundbedingungen unseres Erdendaseins. Auch in der Kultur werden Evidenzen produziert: viele halten es für selbstverständlich, Einfluss auf die Berufswahl ihrer Kinder zu nehmen; in vielen Familien gibt es Hierarchien; man muss sich religiösen oder sonst wie geprägten Verhaltensnormen unterwerfen. Zu wissen, dass andere Gruppen es jeweils anders halten, hindert uns nicht daran, an dem, was wir für selbstverständlich erachten, auch weiterhin festzuhalten. Menschen neigen dazu, das von ihnen für evident Gehaltene als das entscheidend uchronische Potential von Kultur anzunehmen. Folglich veranlassen sie andere dazu, dies ihrerseits zu akzeptieren. Das führt zu den bekannten Kultur-, Klassen-, Rassen-, Geschlechter- und Generationskämpfen in der Geschichte.