Das erfolgreichste Programm, unserem Bedürfnis nach Behausung und Beheimatung zu entsprechen, hieß in den zurückliegenden Jahrzehnten „Unser Dorf soll schöner werden!“. Zunächst war mit Dorf die ländliche Siedlung gemeint. Die Provinz als Lebensraum sollte aufschließen zur ehemaligen Lebensqualität der alteuropäischen Städte, die inzwischen unwirtlich geworden waren, weshalb die Bürger aus ihnen flüchteten. Die Urbanisierung der Provinz im landschafts- und siedlungsgestalterischen Zugriff auf die Dörfer zeitigte jedoch schnell das Resultat: Durch Pflege zerstört. Die Stadtflüchter mußten zur Kenntnis nehmen, daß Lebensformen Urbanität stärker prägen als die architektonische Umgestaltung von Fachwerkhäusern oder die Verdichtung von Infrastrukturen mit Verkehrs- und Kommunikationswegen, mit der Ansiedlung von Supermärkten und Schulzentren.
Den Stadtflüchtern wurde klar, daß es ihnen selber an Urbanität gebrach, denn der Mensch lebt nicht in Ziegelsteinen, Beton, Marmor, Glas und Stahl, sondern in der Architektur des menschlichen Geistes, deren Fundamente jenes menschenwürdige Verhalten in Gemeinschaften tragen, das Urbanität definiert. Die provinziell dörfliche Beschwörung der Gemeinschaften durch die Stadtflüchter ließ sie in Scharen Schützengesellschaften, freiwilligen Feuerwehren, Reiterclubs und anderen Feiergemeinschaften beitreten, die sie indessen gerade durch ihre Beteiligung zu Varianten der städtischen Partybeliebigkeit bei Sekt und Häppchen, Rockmusik und kaschiertem Gruppensex umformten – ein Umbau der dörflichen Sitten, der von der Landjugend vorbehaltlos adaptiert wurde. Die Mediatisierung der Alltagskommunikation (TV, Video, Telefon) tat ein übriges. Da saßen sie nun im preisgekrönten dörflichen Ensemble vor renovierten Katenfassaden mit Kunststoffenstern, vor „modernisierten“ Haustüren und ließen den Verkehr an sich vorbeirauschen, dessen Lärmemission sie in der angeblichen ländlichen Idylle stärker nervte als in der Stadt. Plötzlich nahmen sie die Unwirtlichkeit des Lebens in Postkartenträumen zur Kenntnis. Sie entdeckten, daß ihnen die besonnte Natur umso mehr abhanden kam, je mehr Menschen sich auf sie orientierten. Wem die Landflucht zurück in die Stadt gelang (dafür besaßen nur wenige die ökonomischen Voraussetzungen), sah überrascht, daß sich die städtischen Lebensräume inzwischen mehr und mehr den provinziellen angeglichen hatten; denn auch unsere Stadt war mittlerweile schöner geworden mit betongerahmten Grünzonen, verkehrsberuhigten Sitzplätzchen, renovierten Kunststoffassaden und vor allem mit ihren Fußgängerzonen, die an Idyllik des vermeintlich streßfreien Lebens jeden Dorfanger überboten. Kurz: die dörfliche Provinzialität prägte inzwischen auch die Städte. Das globale Dorf war Realität geworden. Selbst in Universitäten und Großraumbüros, in Supermärkten und in den wenigen verbliebenen Kinos herrschte der kommunikative Gestus der dörflichen Beschränktheit, der Primat des Privaten und Individuellen. Die Lebensäußerungen verkürzten sich auf die Sorge fürs egoistische Wohlergehen, dem alle sozialen und politischen Interessen, die die Bürger nicht mehr selber vertraten, sondern von Dienstleistungsfunktionären erwarteten, sich strikt einzupassen hatten.
Es ist klar, daß man mit diesen Einstellungen und Verhaltensweisen von Dörflern den Anforderungen der sich ständig verschärfenden Konkurrenz der Weltwirtschaft immer weniger gewachsen war. Deswegen starteten die Unternehmer, Banker und Politiker, die um den Wirtschaftsstandort BRD besorgt waren, ein Programm der Reurbanisierung. Diesem Ziel dienten die Neugründungen, Erweiterungen und Umgestaltungen von Kulturinstitutionen seit Ende der 70er Jahre („Museumsboom“). Reurbanisierung durch kulturelle Aufrüstung erreichen zu wollen, schien einigermaßen begründet zu sein, wenn man unter kultureller Befähigung die Orientierung der Bürger auf überindividuelle und entprivatisierte Interessen verstand – wenn man also den Bereich des kulturellen Lebens als politisch und wirtschaftlich brauchbare Ausprägungen von Öffentlichkeit faßte.
Hatten die 68er gerade die Politisierung der Kultur, vornehmlich ihres spektakulärsten Bereiches – den der Künste – als Weg gesehen, sich Öffentlichkeit zu verschaffen, so wollten die Kultivatoren der 80er Jahre das Politische und Ökonomische zu synonymen Ausprägungen des kulturellen Lebens werden lassen. Sie etablierten die politische Kultur (gar als Streitkultur), die Wirtschaftskultur (als Unternehmenskultur) und fixierten sie auf Unterscheidbarkeit nach Stimulationsmustern, wie sie in der Warenwelt als Aneignungsattraktivität erlebbar geworden waren. Die Kultur wurde designed, d.h. eingepaßt in das Spektrum von Anforderungen, die für die erfolgreiche Teilnahme an Wirtschaftsprozessen in Produktion und Konsum vorherrschten. Unschön und grob gesagt, bedeutete das die Ausweitung pädagogischer Strategien der Erlebniswelt von Disney Lands, pleasure domes, Einkaufsparadiesen und Freizeitanlagen auf die Kulturinstitutionen. Die entscheidende Strategie war die der Animation, also animierte man Kultur. Die Retortenkünstlichkeit dieses Vorgehens wurde nicht erst sichtbar, als die wirtschaftliche Rezession die Finanzierbarkeit sich überbietender Kulturattraktionen einschränkte und der Kunstmarkt zusammenbrach. Schon in den Endachtzigern wurde klar, daß diese Art von Kulturpromotion keinerlei Auswirkung auf die Urbanität der Städter hatte, denn der neue Typ des kulturanimierten Städters, der Yuppie, kam über die Rekultivierungsstufe gepflegten Umgangs mit seinesgleichen in Champagnerclubs kaum hinaus. Das Gros der Klientel begnügte sich mit der Teilnahme an Eröffnungsbuffets und der Ausweitung des Museumsbesuches zum Familienausflug.
Von einigen Bedenken gegen hochstaplerische Aspekte des Kulturbooms abgesehen, hätte man sich in dieser Situation gerade deswegen einrichten können, weil sie politisch und sozial folgenlos blieb. Die Veränderung dieses friedfertigen Bildes des Kulturstaates BRD kam von außen durch die zunehmende Zahl von Zuwanderern aus anderen Kulturen, durch den Zerfall des sozialistischen Lagers und durch neue Instabilitäten der Zukunftsorientierung. In kürzester Zeit entpuppte sich der Primat der Kultur für das urbane Leben als eine gefährliche Fiktion, die die gesellschaftlich prägende Kraft der Kultur darin behauptete, daß sie Identitäten schaffe. Mit Hinweis auf diese kulturellen Identitäten stimulierten die Kulturinitiativen der Städte Kulturkämpfe zwischen Minoritäten, z.B. der Opernliebhaber gegen die Musicalfans, der Stadtteilkultur gegen die Stadttheater und Museen, der Sozialpädagogik als Kulturarbeit gegen die Intendantenkultur, der laizistischen Kultur gegen die religiös überformte, der Kultur der Ethnien und Sprachgemeinschaften gegen den Kulturanspruch der Universalisten. Bis auf letztere argumentierten alle mit der kontrafaktischen Behauptung ihrer je unterschiedlichen kulturellen Identitäten und legitimierten ihre Ansprüche mit Hinweis auf das Kultur- und Sozialstaatsgebot sowie auf von der Verfassung ausgewiesene Rechte auf kulturelle Selbstbestimmung und Selbstbehauptung.
Für die Urbanisierung der Städte und Städter hat das fatale Folgen. Die kontrafaktisch vorgegebene kulturelle Identität von Minderheiten und ihres Kampfes um Autonomie führt zu Ghettoisierungen, in die sich die Mitglieder solch fiktiv-legitimierter Kulturgemeinschaften festsetzen. Sie reklamieren gleichsam staatliche Hoheit für sich in einem Territorium, weil sie es beherrschen. Innerhalb dieser Territorien besteht man auf jederzeit abrufbaren Loyalitäten – formell als deklarierte Zugehörigkeit zur strikt homogenen Kulturgemeinschaft, informell als Unterwerfung unter das Diktat der kulturellen Identität. In den Kulturghettos der Städte schwindet selbst der letzte Rest eines urbanen Verhaltens. In ihnen herrscht die Rigidität dörflicher Stammesgemeinschaften. Je mehr die sich als Macht im Kampf um kulturelle Hegemonie, d.h. als Überlebensgemeinschaften glauben behaupten zu müssen, desto legitimer erscheint ihnen sogar die Zerschlagung der Stadt als Zivilisationsareal, also der Stadt als allen Bewohnern gleichermaßen zugängliche Formation von für alle geltenden Standards des Verhaltens, der Kommunikationsfähigkeit und der Anpassungsbereitschaft.
Wenn kontrafaktische Behauptungen normative, d.h. das Verhalten, die Urteile und die Sozialformen bestimmende Kraft gewinnen, erhalten sie den Status von Mythen, von Fiktionen als Realität. Stammeskosmologien sind solche Mythen. Jetzt erleben wir die Mythologisierung von Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit, also der gerade gegen kulturelle Identitäten von Ethnien und Regionen durchgesetzten zivilisatorischen Standards. Sichtbares Zeichen dafür ist die Verwüstung der Stadt als Zivilisationsraum durch die Behauptung kultureller Autonomieansprüche. Mit Bezug auf verbriefte Menschenrechte (z.B. freie Religionsausübung als Kern kultureller Selbstbestimmung) setzt man dogmatische Abgrenzungen durch, die, rücksichtslos zur Geltung gebracht, jene verbrieften Rechte anderen zu verweigern erlauben. Jeder Verstoß, jede Mutwilligkeit gegen zivilisatorische Standards des Zusammenlebens werden durch die Verpflichtung legitimiert, die eigene kulturelle Identität offensiv zu behaupten. Strafrechtliche Sanktionen wertet man als brutalen und rücksichtslosen Versuch, Minoritätenkulturen zu zerschlagen, Sitten und Gebräuche, Glaubensüberzeugungen und Enkulturationsformen vernichten zu wollen.
Durch den Wandel des Zivilisationsraumes „Stadt“, d.h. seiner Mythologisierung als Kulturraum, werden wir mehr und mehr daran erinnert, daß Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Kulturstaatlichkeit historisch nicht als Leistung irgend einer Kultur konzipiert und streckenweise verwirklicht wurden, sondern zivilisatorische Leistungen darstellen, die die Kulturen übergreifen sollten, um deren sinnlos zerstörerischen Kämpfen Einhalt zu gebieten. Stadtluft machte frei, insofern Städte die Chance boten, den erpreßten Loyalitäten in den Kulturkämpfen der Clans, der Ethnien, der Glaubensgemeinschaften zu entgehen, indem man sich einem Regelwerk der Rationalität verpflichtete, dessen Funktionalität an der zivilisatorischen Aufgabe entwickelt wurde, die Stadt als Lebensraum der freien Bürger zu schaffen und zu erhalten.
Die Mythologisierung der Kulturen zur identitätsstiftenden sozialen Prägung etabliert Identität als legitime Form der Unfreiheit. Die historischen Unfreiheiten der feudalen, der ständischen und der Klassengesellschaft, die mit großen Opfern zurückgedrängt wurden, kehren mit den emphatisch postulierten Kulturgesellschaften zurück, weil viele der Autonomie beanspruchenden Kulturen selber noch feudal-ständisch geprägt sind oder aus Angst vor zivilisatorischer Homogenisierung in archaische Formen der Verbindlichkeit sozialer Beziehungen zurückkehren wollen. Deswegen wird die Ghettoisierung unserer Städte, obwohl objektiv freiheitsbeschränkend, als Rückkehr in stabile Verhältnisse nicht nur akzeptiert, sondern freiwillig gesucht. Soweit man Kulturinstitutionen auf Repräsentation kultureller Identitäten verpflichten will, verwandelt man auch sie in Ghettos. Daran beteiligen sich Künstler und Intellektuelle, Wissenschaftler und Politiker, denen die Musealisierung der Kultur die Kulturferne einer universalen Zivilisation zu beweisen schien. Aber welch anderen Gebrauch kann eine Zivilisation von Kulturen machen, als sie zu musealisieren, wenn sie sie einerseits erhalten und andererseits entmachten muß?
Selbst aus den kurzfristigen, aber äußerst blutigen Rückfällen in die entmusealisierte Kulturbarbarei des Dritten Reiches und des Sowjet-Totalitarismus glaubte man noch den Schluß ziehen zu können, daß die Beschwörung von Blut und Boden respektive paßamtlicher Nationalitätenzugehörigkeit dem Druck zur technischen, wirtschaftlichen und kommunikativen Universalisierung nicht standzuhalten vermögen. Eine naive Überschätzung des Projektes der Moderne? Müssen wir demzufolge damit rechnen, daß sich der Zivilisationsraum „Stadt“ in ein Nomaden- oder Flüchtlingslager zurückverwandelt? Auf jeden Fall können wir die Initiativen als verfehlt erkennen, die die Reurbanisierung durch massenhafte Vermehrung von Kulturinstitutionen und Kulturereignissen erreichen wollen. Vielleicht bieten die leeren Kassen der öffentlichen Haushalte jetzt eine Chance, die gesellschaftszerstörerische Geltung des Primats der Kultur nachhaltig einzuschränken und der bisher missionarisch geförderten Kulturbarbarei den institutionalisierten Boden zu entziehen.