Das Lehrstück des Hauptmanns von Köpenick traf die Preußen ins Herz: sie wollten mehr sein als scheinen. Die obrigkeitsgläubigen Berliner hielten indes den Schein für das Sein, den uniformierten Schuster für einen tatsächlichen Hauptmann. Die Uniform ist ein Repräsentationssystem. Sie repräsentiert den Status des Offiziers. Offensichtlich hatte aber der Schuster Voigt Rolle und Status des Offiziers derart verinnerlicht, daß er der Offizier auch in Person glaubhaft zu sein vermochte. Wenn aber Voigt den Offizier inkorporierte, also ein Offizier zu sein vermochte, war er in den Augen der Berliner auch tatsächlich einer. Er war, was er zu sein schien.
Jüngst versuchte Ulrich Wildgruber, sich ins Ozeanische aufzulösen. Er war ein großer Schauspieler, weil er nie eine Rolle spielte, die er nicht zu inkorporieren verstand; vielmehr inkorporierte er stets sich als großen Schauspieler, der in allen Rollen nur als er selbst auftreten konnte.
Auch an Helmut Kohl läßt sich beispielhaft die historische Differenzierung von Inkorporation, also leibhaftiger Verkörperung, und zeichenhafter Repräsentation ausmachen. Kohl inkorporiert das, wofür er steht, kann es aber nicht repräsentieren, d.h., er ist unfähig, Aussagen auf einer zeichenhaft-symbolischen Ebene zu treffen, also beispielsweise zu behaupten: „X gab mir Geld und sagte mir, ich sollte dieses oder jenes tun“. Stattdessen wird das Prinzip der Treue, des Eides, der Diskretion durch beharrliches – und in diesem Fall durchaus zerstörerisches – Schweigen unverrückbar inkorporiert.
Bemerkenswert immerhin bei einem Mann der Politik, mithin der Systembildung, daß er glaubt, Programmatiken nur verkörpern zu brauchen, ohne sich um eine jahrhundertealte Tradition der Repräsentation, z.B. durch politische Ikonographie, zu scheren.
Übertragen auf die Ebene der Kunst, müssen wir uns fragen, was inkorporiert ein Künstler, der uns eben nicht nur einen zeichenhaften Wahrnehmungsanlaß vor Augen setzen will?
Der Arzt und Maler Adolf Bierbrauer mutet uns die Beschäftigung mit dem Wechselverhältnis von Inkorporation und Repräsentation zu, eine grandiose Herausforderung und eine einmalige Chance für die Stadt Düsseldorf, sich gegenüber seinem Œuvre in besonderer Weise zu verpflichten.
Jemand, der das, wovon er spricht, vollständig anverwandelt, hat einen extrem hohen Grad von Selbstbezüglichkeit, von Reflexivität, erreicht. In psychopathologischer Hinsicht ist dies etwa beim Phänomen der Schizophrenie zu beobachten.
Adolf Bierbrauer hat mit seinem Formalismus bewußt ein Terrain ausgelotet, in dem er sich zwischen Einverleibung und Repräsentation bewegen kann, ohne in die reine Selbstbezüglichkeit der psycho-sozialen Auffälligkeiten abzudriften.
Der Kreativitätspsychologe und Maler Jean Dubuffet machte darauf aufmerksam, daß wir in allen Bereichen als Angehörige der westlichen Kultur primär auf die symbolisch repräsentierten Äußerungen trainiert seien. Demnach hätten wir verlernt zu verstehen, was die Inkorporation als semantisches Gegenprinzip bedeutet.
Hierzu eine historische Reminiszenz: ein aufgeklärter westlicher Zeitgenosse, der als solcher zwangsläufig im Kontext einer christlichen Zivilisation aufgewachsen ist, wird unzweifelhaft in der Veranstaltung des Abendmahls, im Überreichen der Oblate einen Akt der symbolischen Repräsentanz des Leidens Christi erkennen.
Selbst als bekennender Christ wird er jedoch kaum zu akzeptieren bereit sein, daß in diesem Akt der Übergang von der symbolischen zeichenhaften Repräsentation zur Inkorporation, also zur buchstäblichsten Leibwerdung Christi im Gebäckstück, stattfindet. Bereits vor mehr als 1.500 Jahren war dies der wesentliche Streitpunkt innerhalb der Kirche, weswegen es schließlich zu einer Trennung von Orthodoxen und Katholiken sowie später von Katholiken und Protestanten (jedweder Couleur) kam.
Wir müssen verstehen, worin der grundsätzliche Unterschied zwischen zeichenhafter Repräsentation und Inkorporation besteht, auch wenn eine Formulierung wie „Dies ist mein Leib“ oder „Dies ist mein Blut“ den Anspruch erhebt, mehr als nur eine symbolische zu sein. Sinnvoll scheint das Ziel für Christen, als jeweils jetzt Lebende selbst zur Inkorporation dessen zu werden, wofür Christus stand und steht.
Für die westliche Kunstpraxis hat dieser Konflikt immer schon bestanden: zwischen den Profikünstlern, die aufgrund ihrer formalen Fertigkeit imstande waren, ihr physisches Leiden, ihre empirischen Erfahrungen, ihre Probleme mit der Gesellschaft allein auf der Ebene der zeichenhaften Repräsentation in Gestalt von Werken abzuarbeiten, und den Künstlern, die sich selbst für die Verkörperung der Themen hielten, die sie darstellten: zu ihnen gehörte in exemplarischer Weise Caravaggio, der um 1600 mit seiner physischen Individualität die Dramen durchlitt, die er in formal trainierter Meisterschaft zunächst nur gemalt hatte – bis hin zu Mord und Totschlag, sowohl als Täter wie schließlich auch als Opfer.
Später, ungefähr zu Goethes Zeiten, wurde aus der Entgegensetzung von Fleischwerdung und Repräsentation die Frage nach der Glaubwürdigkeit abgeleitet: kann jemand mit seiner Arbeit für glaubwürdig gehalten werden, der von sich selbst absieht? Mit anderen Worten: kann z.B. ein Autor eine leidvolle Liebesaffäre darstellen, ohne selbst geliebt und gelitten zu haben oder darf er erst dann für schöpferisch wirksam erachtet werden, wenn er die angesprochenen Problematiken selbst verkörpert (darf er also erst als leidvoll Liebender zur Feder greifen?)?
Allgemein gilt die Frage: muß ich als Künstler das, was ich zum Thema mache, anverwandeln? Muß ich das sein, was ich zeige, darstelle und vorführe? Oder repräsentiere ich meine Themen lediglich als bloße symbolische Zeichengefüge, wie in üblichen kommunikativen Zusammenhängen?
Adolf Bierbrauer mußte sich in seiner Eigenschaft als Arzt und Künstler erst recht fragen, ob die Patienten in ihren Erzählungen während der therapeutischen Sitzungen Lebenssituationen wie Eifersucht, Affären, psychisches Versagen, elterliche Unterdrückung etc. lediglich repräsentieren (weil sie davon gehört haben, daß es so etwas gibt), oder ob sie diese selbst erfahren haben und nun inkorporieren. Natürlich muß gerade ein Arzt davon ausgehen, daß seine Patienten das Vorgetragene verkörpern, denn ihr Problem besteht darin, Schwierigkeiten selber zu haben und sie nicht nur schauspielerisch darzustellen.
Hier knüpfte auch schon die kunsttherapeutische Tradition an, die Psychiater in Berlin um 1900 unter Berücksichtigung genau des Verhältnisses von Repräsentation und Einverleibung mit heute noch gültigen Ergebnissen entwickelt haben.
Als krank im psychisch auffälligen Sinne gilt, wer das, was er zeichenhaft repräsentiert, nicht inkorporieren kann und das, was er inkorporiert, nicht zeichenhaft repräsentieren kann (Dann wäre Kohl krank!). Wem Leid, Liebe etc. so „in Fleisch und Blut übergegangen“ sind, daß er das Leid oder die Liebe nicht mehr zeichenhaft repräsentieren kann, wird Behandlungsbedürftigkeit zugesprochen. Der therapeutische Impetus von Bierbrauer bestand darin, seine Patienten dazu zu bringen, daß sie das, was sie verkörpern, auch zeichenhaft repräsentieren können. Die Ergebnisse der Bilder, die daraufhin entstanden, sind letztlich so bedeutsam, weil sie künstlerisch-formal auf dem absolut höchsten Niveau seiner Zeit stehen. Es gibt nichts Vergleichbares für die 50er Jahre. Gleichwohl hat Bierbrauer an seinem künstlerischen Tun festgehalten, ohne seine Werke je im institutionellen Rahmen, in Museen und Galerien vorzustellen – und das ist eigentlich die Nagelprobe. Er schafft Werke nicht, um uns einen Anlaß zu bieten, etwas von der Welt in neuer, spektakulärer Weise repräsentiert zu finden, sondern er arbeitet im Hinblick auf die Frage, inwieweit wir das, was wir repräsentieren, auch Fleisch werden lassen.
Bierbrauer hat als Arzt therapeutische Erfolge erzielen können, weil er akzeptierte, daß die Patienten ihre Aussagen (nach denen er seine Bilder schuf), tatsächlich inkorporierten. Beeinflußt von Rudolf Steiner und Joseph Beuys (der sich wiederum auf Steiner bezog), nutzte Bierbrauer das Wechselspiel von professioneller, zeichenhafter, geläufiger Äußerung (als Text, Bild etc.) und der Notwendigkeit der Verkörperung für sich selbst in genialer Weise.
Heraus kam dabei eine europaweit einmalige Kunstproduktion, die über die Ansätze von Dubuffet und seiner Art brut hinaus das Verhältnis von Inkorporation und zeichenhafter Repräsentation neuformulierte: im (gestalt-)therapeutischen Ansatz wird die eigene Anverwandlung zeichenhaft repräsentiert, und umgekehrt – das ist das Riskante – die zeichenhaften Repräsentationen anderer (hier der Patienten) werden durch Bierbrauer selbst inkorporiert – so etwa in dem 1999er Zyklus der „Gesichter“: Bierbrauer zeigt sich in Physiognomien als Selbstbildnissen nach Einverleibung der Anderen. Damit entspricht er der berühmten Formulierung von Karl Marx: „Man ist, was man ißt“ – bei uns „essen“ wir Bilder, in anderen Gesellschaften ißt man Götter und nicht nur deren Symbole.
Während bereits Bierbrauers formale Könnerschaft kaum ihresgleichen hat, muß erst recht jeder Künstlerkollege vor seiner einzigartig professionellen Attitüde der Inkorporation zurückstehen, denn diese kann nur jemand einnehmen, der auch als Arzt, als Psychologe und Therapeut trainiert ist. Vermutlich haben seine Kollegen von der Akademie, die ihn 1974 wegen Überqualifizierung zurückwiesen, genau dieses Manko empfunden; sie wußten nämlich, daß sie sich selbst nur auf der Ebene der zeichenhaften Repräsentation wirklich professionalisieren konnten und ihm somit hoffnungslos unterlegen waren.
Eine weitere Meisterschaft entwickelte Bierbrauer mit seiner unglaublichen Kraft der poetisch-metaphorischen Inskriptionen, begrifflicher Einschreibungen, wie er sie etwa im 1999er Zyklus verwendet. Dort taucht beispielsweise der alte Begriff Satanus auf; er repräsentiert aber gerade nicht das Böse oder die Aberwelt des Antichristen etc., sondern er steht für die Entdeckung, daß alles, wovon man mit Recht sagen kann, daß es böse sei, in jedem von uns selbst entdeckt werden kann. Bezogen auf den Fall Kohl dürften ihn nur diejenigen als amoralisch, verkommen und mafiös bezeichnen, die sich selbst als verderbte Machttypen erfahren haben und ihr Negativ-Potential einzugestehen bereit sind.
Nicht zur Anklage berechtigt sind all jene Kleinbürger, die ihre privaten Haftpflicht-Versicherungen betrügen, die in der 30 km/h-Zone mal eben 60 fahren, sich aber für erhaben über diese Art von Regelverstößen halten.
Warum? Weil sie eben nicht zu den entscheidenden Einsichten der Künstler und Therapeuten gelangt sind: Sich selbst zum Fall zu machen, anhand von vorliegenden Sachverhalten über sich selbst reden zu lernen – das empfinden nämlich alle als skandalöse Zumutung. Gerade Künstler aber reden von sich selbst, indem sie zeichenhaft repräsentieren, was ihnen in Fleisch und Blut übergegangen ist – und das heute so gut wie im 17., 18. oder 19. Jahrhundert. Nur, wer sich selbst zum Gegenstand einer bestimmten Betrachtung macht, kann (und darf) in dieser Hinsicht auch über andere urteilen. Wir haben uns angewöhnt, den Begriff der Selbstreflexivität als Qualitätsmerkmal systematisch auszuweisen, ihn über alles zu setzen und damit zu jonglieren, ohne aber zu wissen, was dieses Selbst ist. Dieses Selbst ist nichts geringeres als unsere Fähigkeit, selbst zu verkörpern, worüber wir reden, wofür wir die Welt halten.
Der Skandal Kohl zeigt der Bundesrepublik jedenfalls eines: keiner, der den Stein zum Wurf erhebt, ist in der Lage, sich selbst als Skandalfall darzustellen ... Genauso gilt für Ärzte und Therapeuten, daß sie sich selbstreflexiv auf ihre Patienten einlassen müssen, wenn sie bei ihren Kunden unterscheiden wollen zwischen dem, was sie nur in symbolischen Zeichen repräsentieren (also z.B. simulieren) oder in welchen leiblichen Befindlichkeiten sie tatsächlich leben.
Die Arbeit Adolf Bierbrauers verpflichtet uns einmal mehr, Künstlerbeiträge daraufhin zu befragen, wie sie das Verhältnis von Repräsentation und Inkorporation zur Geltung bringen. In der Politik und der Wirtschaft wird uns das Prinzip der Verkörperung gegenwärtig vorgeführt, auch wenn französische Theoretiker versucht haben, uns einzureden, es ginge inzwischen völlig ohne sie oder es sei ein Ausweis zurückgebliebener Naivität, wenn Christen beim Empfang der Kommunion tatsächlich die Fleischwerdung im Sinne von „dies ist mein Leib“, „dies ist mein Blut“ zu empfinden glauben.
Bisher galt die Einsicht in die symbolische Repräsentation auf der Zeichenebene als höhere intellektuelle Leistung, als größere Kraft zur Selbstreflexion. Die Einzelzeichen verabschieden sich jedoch völlig von dem Bezeichneten, die Ebene der Zeichengefüge ist „autonom“ geworden. Sie drückt keinen Weltgeist mehr aus, sie hat keine Bedeutung mehr, außer im Kontext der Zeichen selbst. Die berühmte Aussage, alles sei möglich, ist dennoch falsch, denn alles, was geht, geht nur im Hinblick auf die ultimative Grenze der Inkorporations-Verfahren, die wir in unserer leiblich-physischen Existenz darstellen. Wenn man symbolische Repräsentationen nicht mehr auf seine eigene sinnlich wahrnehmbare körperliche Existenz, seine Natur, beziehen kann, provoziert man genau den Wahnsinn, wie ihn die Leerlaufmaschine der nur noch psychiatrisch Anverwandelten stigmatisiert: Die Verrückten sind gerade die Zeichenakrobaten schlechthin, weil sie uns einreden wollen, der Bezug auf unsere leiblichen Gegebenheiten sei entbehrlich. Nicht einmal die Kunst kann auf diesen Bezug verzichten, denn selbst die höchste künstlerische formale Befähigung, Zeichen und Welten nach Belieben zu erfinden, ist ohne Bezug auf die reale Existenz, auf die sogenannte Wirklichkeit, völlig bedeutungslos. Die Folgen wären katastrophal, wenn – z.B. nach Vorgaben klassischer Rhetorik – formale Zeichen nach Belieben verknüpft werden dürften ohne jeglichen Anspruch darauf, daß jemand mit seiner Person auch für das einsteht, was er sagt – sei es als Künstler oder Therapeut, Banker oder Bundeskanzler.
Es ist eben falsch, anzunehmen, ein Kunstwerk an sich sei per se nur eine symbolische, zeichenhafte Repräsentation und als solche z.B. von einer gut gestalteten Werbekampagne als gelungene Verknüpfung von Wort und Bild nicht zu unterscheiden. Das Kunstwerk ist im Gegensatz zu herkömmlichen Zeichengefügen selbst als physischer, sinnlich wahrnehmbarer „Körper“ aufzufassen, als Materialisation dessen, was es bezeichnet. Deswegen ist die Begegnung mit dem Original in der Kunst unabdingbar.
Ein Kunstwerk können wir zwar auf der zeichenhaften Ebene der Reproduktion als Katalogabbildung dokumentieren; ohne Bezug auf seine physische Präsenz als realer Körper, als gerahmte Leinwand oder als Plastik bzw. Skulptur läßt es sich aber nicht beurteilen.
Dies macht den entscheidenden Qualitätsunterschied zu einem Plakat, einer Anzeige, einer Wohnzimmerdekoration aus: wer einem Kunstwerk als dinglicher Repräsentation des Inkorporierten gegenübertritt, wird die Begegnung mit Originalen auch künftig für unverzichtbar halten.
Soweit es die Arbeit Adolf Bierbrauers betrifft, sollten es sich wenigstens die Düsseldorfer Kulturinstitutionen angelegen sein lassen, die leibhaftige Konfrontation mit seinen Werken zu ermöglichen, denn wer auch nur eine leise Ahnung von dem haben will, was in den letzten hundert Jahren passiert ist, muß sie gesehen haben!