Auf den Documenta-Ausstellungen durchlaufen die Besucher stets eine merkwürdig gezackte Reaktionsskala. Einerseits tobt man mit Wutgeheul durch die Ausstellung, es sei ein Jammer, was einem da als Höhepunkt der vorausgehenden Kunstentwicklung vorgeführt werde. Andererseits möchte man als Liebhaber der Kunst seinem Bedürfnis, zu bewundern, wertzuschätzen und zu lieben, nachkommen und versucht mit wilden Gesten der Überhöhung, dieses oder jenes zu einem Großereignis herauszubilden.
Auf der Documenta IX (1992) sind diese extremen Reaktionen besonders ausgeprägt. Die Presse hat mehr oder weniger einheitlich radikale Urteile, also Wutgeheul, über diese Documenta verlauten lassen: „Fest der angepaßten Dilettanten“, „Treffpunkt hilfloser Eitelkeiten“, „Verlogene Mammutschau“, „Bankrotterklärung der Kunst“. Und die Kritiker hatten für ihr Urteil auch gute Begründungen. Denn von Kunst im Sinne einer allgemeinen Erwartung war auf dieser Documenta tatsächlich kaum die Rede. Man sollte aber diese extremen Reaktionen nicht als Beweis dafür ansehen, daß die Leute der Kunst nicht wüßten, womit sie es eigentlich zu tun haben. Die Begeisterungsgemeinschaft Kunst ist nämlich eine, die nicht aus dem Konsens ihrer Mitglieder lebt, also nicht aus der Übereinstimmung, nicht daraus, daß alle die gleiche Meinung haben, sondern diese Gemeinschaft lebt vom Dissens ihrer Mitglieder, aus der Eigenständigkeit der verschiedenen Urteile. In diesem Modell „Gemeinschaftsbildung durch Abweichung“ ist die Kunst oder die Gemeinschaft derer, die an Kunst interessiert sind, doch noch ein Vorbild für zukünftige Gesellschaften.
Also: Belasten wir den Besucher der Ausstellung weder mit Vorerwartungen auf große und schöne und edle Kunst noch mit der Erwartung darauf, daß da nur Schrott und Müll zu sehen sein soll. Was dürfen wir dann erwarten? Der Documenta-Organisator Jan Hoet bekundete, er wisse nicht, was Kunst sei. Daß es bei seinem Konzept um das körperlich erfaßbare Geheimnis der Kunst gehe, hatte er sich doch entlocken lassen. Immer wieder tauchte bei ihm der ominöse Begriff des Körpers auf. Wer ist gemeint? Natürlich der Körper des Betrachters, der mit diesen verschiedenen in Kassel gebotenen Wahrnehmungs-, Aktions- und Reaktionsanlässen konfrontiert ist.
1. Der Körper des Begehrens
Auf der Documenta IX war auffällig, mit welcher Naivität oder Mutwilligkeit Künstler Tatbestände präsentieren, die normalerweise zur Pornographie zählen. Diese penetranten Gesten kennen wir von den Titelseiten einschlägiger Magazine oder aus der Verkaufsförderung von Wirtschaftsgütern. Natürlich haben auch die Künstler früherer Jahrhunderte ihre Wahrnehmung auf den menschlichen Körper des Begehrens, auf die Sexualität, auf die Aneignungs- und Ausscheidungslust gerichtet. Warum eigentlich? Weil Darstellungen dieses Begehrens offensichtlich die stärkste Blickfesselung von Menschen bewirken. Von diesen Bildern geht die intensivste gefühlsbetonte Wirkung aus. Heute wissen wir, daß alle Bildwirkungen, egal welchen Typs, nach dem Wirkungsmechanismus ablaufen, der auch für die Pornographie gilt.
Die Naturevolution unseres Zentralnervensystems hat uns diese Bindung an Reizquellen beziehungsweise Reizfigurationen mitgegeben. Ohne diese Orientierung auf die Reizquellen fänden wir weder Futter noch Paarungspartner, weder Lebensraum noch sozialen Kontakt.
Seit jeher waren die Künstler dieser pornographischen Bildwirkung, oder besser gesagt: diesem Mechanismus, nach dem auch Pornographie wirkt, auf der Spur. Denn dieser Naturmechanismus wirkt auch dann, wenn statt eines schwarzen Schenkeldreiecks ein gemaltes schwarzes Quadrat, meinetwegen von Malevich, dem Betrachter vor Augen gestellt wird, um seine Gefühle, seine Vorstellung und sein Denken zu stimulieren.
Die Documenta-IX-Teilnehmerin Zoe Leonard (ohne Titel, 1992) hängt Fotos von solchen schwarzen Schenkeldreiecken von Frauen in unmittelbare Nähe und Beziehung zu klassischen Gemälden. Sie tut das als Feministin und will damit sagen, daß wir, zumal Männer, Bilder zu allen Zeiten immer schon im Hinblick auf diesen Gewinn, diesen Sehgewinn der pornographischen Energieübertragung hin betrachtet haben. Und sie tut das auch im Detail und in der Analogie und sagt damit weiter, daß Bilder eben nicht nur gesehen werden, sondern auch getastet, gespürt, atmosphärisch und über Druckerfahrungen erfaßt werden. Die Hand einer Tischbein-Dame umschmeichelt ja nicht nur ihr Haupthaar und die Hautpartie ihres Schlüsselbeins, sondern es ist die Hand des Bildbetrachters, welche diese Bewegung ausführt.
Die Wirkung von Bildern, von Fotos, von Gemälden, von Skulpturen besteht also darin, daß sie im Betrachter etwas bewirken, eine Zustandsveränderung seines Körpers und seines psychischen Systems. Nicht die Bilder, die Gemälde, die Skulpturen realisieren ihre Wirkung, sondern der Betrachter in seinem Körper, in seinem psychischen System.
Wenn das so ist, dann führt das zu einer erschreckenden Tatsache, nämlich daß das, was immer wir in der Welt sehen und von dem Wirkung auf uns ausgeht, immer nur eine Selbstwahrnehmung ist. Wir können nie etwas anderes wahrnehmen als uns selbst und die Veränderung, die von uns selbst durch den Anblick von Bildern ausgeht. Zum Beispiel die pornographische Bildwirkung: eine nackte Frau, ein Mann, Bildwirkung = Zustandsveränderung im Körper des Mannes.
Mit dieser grausamen Einsicht, daß wir auf alle Zeiten daran gefesselt sind, von der Welt nur das zu fühlen, zu spüren, wirklich wahrnehmen zu können, was in unseren Körper, in unsere Seele eingeht, beschäftigt sich ganz offensichtlich Charles Ray mit seiner Figurengruppe (Oh Charley, Charley, Charley, 1992). Denn auch in der höchsten Erregung, meinetwegen der sexuellen Lust, besteht die Wahrnehmung des Partners eigentlich in einer Selbstwahrnehmung. Jede Lust ist Lust an sich selbst. Demzufolge hat Charles Ray seine Partner in einem offensichtlich banalen pornographischen Sexualspiel als sich selbst abgegossen. Alle Figuren sind er selbst, denn der Partner würde eben nichts bringen, nicht mehr jedenfalls, als was er in sich selbst spüren kann. Diese grausame Einsicht läßt mitunter gestandene Philosophen in Ohnmacht fallen. So sagte Ernst Bloch, als ihm klar geworden sei, daß er für sein ganzes Leben aus der Empfindung seines eigenen Körpers und seiner seelischen Bewegung nie hinauskommen könne, sei er in Mannheim, am Ufer des Rheins, ohnmächtig zusammengebrochen.
Aber wir sind ja nicht nur den Bildern der Außenwelt, die auf uns einwirken, ausgesetzt. Jeder weiß aus dem Traumgeschehen, wie die von uns selbst produzierten Bilder auf uns wirken, unseren körperlichen und seelischen Zustand verändern, bis zum Nachtschweiß, bis zur Schreckenserregung. Louise Bourgeois (Precious Liquids, 1992) baut in einem Körperinnern eine Reihe solcher Bilder nach, verschlossene, undurchdringliche Bilder, die sie seit ihrer Kindheit geradezu obsessionell beherrschen, die sie ängstigen, weil sie sie nicht versteht. Mit Phiolen deutet sie den Kreislauf der Lebenssäfte an, der ihr zum ersten Mal in der Sexualität ihres Vaters begegnet ist. Die Macht dieser inneren Bilder will sie bannen. Das Bildermachen, sagt sie, sei die Garantie für die seelische Gesundheit. Sie will sich freikämpfen vom Terror der inneren Bilder, die auf uns wirken und uns verwirken.
Das intensivste Organ des Körpers ist die Hand. Mit ihr greift der Körper in die Welt. Aber wir haben ja nicht nur eine Hand, wir haben zwei Hände, und die Welt zwischen sie genommen, formen sie die Welt durch Wegnehmen, durch Übertragung unserer Formvorstellung auf das Material, und sei es Seife an einem Ständer, wie das Michel François in seiner Installation (Le monde et les bras, 1992) zeigt.
Wir alle erinnern uns, wie schwierig es als Kind war, die Schuhbändel zum ersten Mal zu einer Schleife zu binden. Das Bild kam von außen, die Hände brauchten aber dieses Bild aus unserem eigenen Inneren; das wollte erst gelernt sein. Schließlich arbeiten die Hände auch ohne Kontrolle des Auges, wie bei den Blinden, die mit ihren Händen Bürsten herstellen, die wir leider nur als profane Instrumente und nicht als Kunstwerke zu verstehen glauben.
Der Körper ist keine gestopfte Wurst oder ein Paket, dessen Verpackung man beliebig verändern könnte. Die Haut formuliert die Grenzen des Körpers zur Welt, es ist sein extensivstes Organ des Weltbezugs. Über die Haut ist der Körper ausgespannt in die Welt, und wie alle Grenzen eines Systems ist auch die Haut der gefährdetste Teil des Körpers. Carroll spannt in seinen Skulpturen (Always listening, 1990-1992), die zu den wenigen gehören, die man auch in Kunstausstellungen betasten darf, die Haut der Körper aus, als seien sie unsere eigene Haut. Zerschunden von den Spuren des Lebens, den Bewegungen, den Gesten, den Einwirkungen aller Art.
Heutige Spitzensportler, die körperlich und technisch alle das gleiche können, betonen immer wieder, wie sehr ihr Erfolg von ihrer geistigen Leistung abhängt. Wenn ein Kampf um diese geistigen Energien geführt wird, dann ist es ein kultischer Kampf. Ousmane Sow (Le lutteur assis, Nubien, 1984) führte uns auf der Documenta IX in einer außerordentlich übertragungsstarken Arbeit zwei nubische Kämpfer eines solchen kultischen Kampfes vor, kenntlich an ihrer Gesichtsbemalung und an ihren Armbinden. Der Körper des Betrachters sollte diese Figuren in sich nachvollziehen, um zu spüren, was es bedeutet, vollständig von seinem Lebensgeist abgeschieden zu sein.
Der Maler Francis Bacon (Tryptich, 1991) hat sich sein Leben lang mit dem Schicksal des Körpers, unseres Körpers des Begehrens beschäftigt. Er versteht diesen Körper von seinem Ende her, von dem unabweichlichen Verlauf in den Verfall, den Tod, die Verwesung. Das Leben des Körpers von seinem Ende her zu sehen, heißt seine Energien in eine andere Richtung zu lenken: Scham über die Anmaßung, in dieser Welt überhaupt vorzukommen, anstatt der triumphalen Behauptung, hier zu sein.
2. Der soziale Körper
Ilya Kabakovs Wohnklo (Die Toilette, 1992) ist eine im heutigen Rußland übliche Form der Gefängniszelle als Lebensraum. Nichts ist daran schrecklicher als die unmittelbare Nähe von Scheißkübel, Eßtrog und Pritsche. Dies kennzeichnet die Asozialität des Gefängnisses.
Nach Kabakovs Auffassung ist die Zelle des asozialen Vegetierens bereits zu einem weltweit realisierten Behausungsprogramm geworden, dem Wohnkübel. Menschen werden zur Fäkalie der Gesellschaft. Die Gesellschaft scheidet den Menschen aus, wie der Körper sich seines Kots entledigt. Was bereitet uns dabei Schrecken? Es ist die gestörte Balance von Intimität und Einpassung in die Gemeinschaft. Beide Sphären haben ihre eigene Aura. Der Duft der Intimität ist der Gestank der Gemeinschaft.
In einer intakten Zivilisation ist die Toilette der geachtetste Ort der Intimität, denn die intensivsten Selbsterfahrungen macht der Körper mit seiner Ausscheidung. Gemeinsam eine Toilette unter Wahrung der Intimität zu benutzen, ist der Kern des Sozialen. Der Abort ist das Sanktuarium der Gemeinschaft. Seine Duftmarken außerhalb der Intimität zu setzen, führt zu sozialen Konflikten, wenn Abort und Gemeinschaftsraum räumlich nicht mehr zu trennen sind, vermengen sich Privatheit und Gemeinschaft bis zur Entwürdigung der Individuen: Das Leben endet in der Scheiße. Im Wohnkübel zerfällt der soziale Körper.
Auffällig viele Arbeiten auf dieser Documenta beschäftigen sich mit der Entleerung der Körper. Als könnte man an den Toiletten den Zustand der Gesellschaft am präzisesten darstellen.
Nirgends im sozialen Verband ist die Geschlechterunterscheidung so deutlich wie bei der Beschriftung und der Form der Toilettentür (Erika Rothenberg, Difference, 1991). Zum Beispiel als bloße Sichtblenden, die Beine und Kopf freilassen und so die Phantasie des schamlosen Betrachters stimulieren.
Apropos Geschäft: Der alte Sigmund Freud hat uns gelehrt, das Geschäftemachen als eine Fortsetzung des Geschäftes der Intimität zu verstehen. Wer Probleme mit dem Stuhlgang hat, geizt und krankt sein Leben lang in den Beziehungen von Geben und Nehmen, von Intimität und Gesellschaftlichkeit. Bei der Wichtigkeit des intimen Geschäfts ist die gestalterische Überhöhung der Toilette Dienst an der Gemeinschaft. Gute Gemeinschaftseinrichtungen wie Hotels erkennt man daran, daß sie der Gestaltung ihrer Toiletten genausoviel Aufmerksamkeit widmen wie der Gestaltung des Ballsaales oder der Empfangshalle.
Auf diese Kulturleistung zielt möglicherweise das Pissoir im Grünen von Attila Richard Lukacs (Eternal Tea House, 1992), das den Stoffwechsel auf alle unser Leben bestimmenden Wechsel bezieht. Zum Beispiel auf den Wechsel der Jahreszeiten, Frühling, Sommer, Herbst und Winter, dem Lukacs in altmeisterlicher Manier auf uringoldenem Grund Gestalt gibt.
Die Toilette ist der Tempel der Körperlichkeit. Schließlich war für die antiken Römer die Cloaca maxima eine Göttin. Kein Wunder, denn Ausscheiden ist eine Grundfunktion unseres Lebens, genauso wie Essen oder Sexualität. Dem Essen, der Nahrung haben die Künstler immer schon ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Von alters her arrangieren wir die Nahrung zu einem Ensemble, zu einem Bild, das gegessen werden will. Bei der Sexualität tun wir uns schon schwerer, sie kann leicht in der Gestaltung als Bild in Pornographie entarten. Dem Kot, diesem unabweisbar notwendigen Stoffwechselprodukt, dieser Ausscheidung der Körpermaschine, die nicht zurückgehalten werden kann, haben bisher nur wenige Künstler ihre Aufmerksamkeit geschenkt.
Wim Delvoye (Mosaik, 1992) tut das, indem er den Kot, den wir bisher immer nur als unseren eigenen zu betrachten, manchmal ausführlich zu betrachten gewohnt sind, den Blicken aller aussetzt. Er zeigt uns das Strukturprinzip der Kotablagerung: als Haufenbildung, als Fladen und als gekringelte Wurst.
Bruce Naumann (Anthro/Socio [Rinde spinning], 1991) führt in seinem optisch-akustischen Ornament die Bewegungsformen der sozialen Maschine vor, in der der einzelne Mensch, Anthropos, steckt. Er lebt in der Erwartung, daß ihn die anderen Körper ernähren, schreit also „feed me“, und empfindet gleichzeitig die Angst, daß sie ihn dabei verschlingen, repetiert also „eat me“. In der sozialen Maschinerie steckt der Mensch als soziales Wesen, Socio. Er hofft, daß ihm die anderen helfen: „help me“, und lebt in der Furcht, daß sie ihn dabei erst recht verstümmeln: „hurt me“. Bruce Nauman hat einen Klagegesang installiert, den der Menschen über die ihnen von der Natur aufgezwungene Notwendigkeit, mit anderen zusammenzuleben. Es ist ein sehr übertragungsstarkes Arrangement, das den Besucher schon nach wenigen Minuten panikartig in die Flucht – in eine Einsamkeit – treibt.
Eine Prägung unseres sozialen Körpers steckt uns, glaube ich, allen noch in den Knochen: die Schule. Noch heute spüre ich mein gnadenloses Eingepaßtsein in die Sitze und Bänke. Ich kam mir vor wie mumifiziert, als würde mir das Blut ausgesogen. Statt dessen erhielt ich eine Infusion mit Tinte. Nur im Kunstunterricht gelang es, die Kolonnen der Schönschriften und Zahlen mit wilden, freien, anarchistischen Gesten nach draußen zu schleudern, in die Welt, in die unser Blick immer schon durch das Fenster des Schulzimmers gegangen war. An dieser anarchistischen Gestalt ließen wir uns hinab ins Leben, wie Rapunzel ihre Haare aus dem Turm herabließ. Wir schossen das fliegende Klassenzimmer raketensteil auf den Mond. Oder wir erhoben uns über die Schule, über die Stadt, über den Kontinent, über die Erde bis an den Glanz des Mondes.
Tadashi Kawamata (Favela, 1992) nimmt mit seinen Dorfbauten in der Aue in Kassel die Tradition der englischen Gartengestaltung auf. In diesen englischen Gärten des 18. Jahrhunderts wurden antike Ruinen aus ganz neuem Material aufgebaut und kleine Schäferidyllen, Hüttchen der Landbevölkerung, von denen der Adel annahm, daß sie ein friedfertiges Leben der Urmenschen führten. Wie diese Bauten in den englischen Gärten des 18. Jahrhunderts an den Ursprung unserer europäischen Zivilisation, die bäuerliche Kultur einerseits, die römisch-antike andererseits, erinnern sollten, so erinnern die Bauten von Kawamata an das absehbare Ende unserer europäischen Zivilisation. Ein Ende, das wir in den Favelas der südamerikanischen Großstädte bereits erleben, aber auch in den verlassenen Wehrdörfern Vietnams.
Der soziale Körper lebt in den Siedlungen, in den verdichteten Lebensräumen der Städte. Wenn diese Lebensräume zerfallen, zerfällt auch die Gesellschaft, sie löst sich auf in eine bloße Addition von lauter egoistischen Individuen, die als Schrebergärtner ihr eigenes Elend züchten.
Eine Installation von Cildo Meireles (Fontes, 1992) zeigt, daß die Gemeinschaft der Körper ihre größte Gewalt erhielt, als sie sich einen meßbaren Raum und eine kalkulierbare Zeit schuf. Die einzelnen Körper kannten ihr eigenes Maß: den Fuß, die Elle, und ihre eigene Zeit: die Zeit der Ermüdung, die Zeit der Konzentration.
Der Körper des Betrachters ist auch träge. Er setzt sich gern an einem Ort fest. Da sitzt er dann und besitzt und hält die Welt für ein Wohnzimmer. Aber Achtung: In Guillero Kuitcas Installation (ohne Titel, 1992) ist der Abstand zwischen der Schrankwand und der Sesselkolonie nicht kleiner als der zwischen Sarajevo und Frankfurt. Mit dem Kopf in Kassel und den Füßen im Feuer des Balkans messen wir unser Bett, das er mit einer Weltkarte bezogen hat.
3. Der fremde Körper
Als Touristen genießen wir die Exotik der Fremdheit. Aber wenn diese Fremden zu uns kommen aus aller Herren Ländern, in ihren Trachten, mit ihrem merkwürdigen fremden Aussehen und ihren Gebräuchen, dann erscheinen sie uns fremd im Sinne von nicht zu uns gehörig. Wir haben Probleme mit ihnen, weil wir glauben, daß sie außerhalb unserer Welt stehen und diese fremde Welt in unsere transformieren wollen.
Die eigentliche Erfahrung der Fremdheit können wir auch in unserer eigenen Kultur machen. Die der klassischen Antike nachempfundenen Gestalten auf dem Dach des Kasseler Fridericianums sind den meisten unserer Mitbürger mindestens genauso fremd wie irgendwelche Menschen aus Afrika oder Asien. Die Fremdheit, die Künstler am meisten fasziniert, ist nicht darauf hin gedacht, irgendwann vertraut zu machen durch vieles Hinsehen, durch langes Hinsehen, durch Analysieren, Betrachtung, Vergleichen, durch Analogiebildung. Es ist vielmehr eine ungeheure Leistung von Künstlern, etwas schaffen zu können, das auf immer fremd bleiben soll und nicht angeeignet werden kann.
Jimmie Durham (An approach in love and fear, 1992) läßt uns selbst Christus, die zentrale Gestalt der christlichen Zivilisation, als fremd erscheinen. Nicht etwa nur deshalb, weil er ihn einerseits als schwarz und weiß, andererseits als halb schon verwest und dennoch dem Leben zugehörig zeigt. Durhams Christus wird ein Fremder, weil ihn der Künstler zugleich als Mensch und als Tier zeigt. Die Erfahrung von Fremdheit ist immer von der kulturellen Prägung abhängig. Was in der einen Kultur als völlig vertraut gilt, ist für die Mitglieder einer anderen Kultur etwas Absonderliches, Angst Machendes, Aggressionen Auslösendes. Ich frage mich, ob die Skulptur von David Hammon (ohne Titel, 1992) auf einen Afrikaner, einen Jamaicaner oder auf einen Schwarzen in den USA nicht völlig anders wirkt als auf uns. Für uns ist sie etwas Bedrohliches, spinnenartig Fremdes, etwas auf uns Zukommendes, vor dem wir uns zu schützen versuchen. Dabei handelt es sich um nichts anderes als darum, daß Hammon die in einem New Yorker Frisiersalon abgeschnittenen Haare von Schwarzen auf kleine spitze Drähte gesteckt und in diese Haarwülste nach Rasta-Art ein paar kleine Schmuckbinden oder Ornamente hineingefügt hat. Haare sind für unsere Kultur immer mit einer besonderen, auch symbolhaften Bedeutung belegt: Samson-Motiv. Die Haare, die Antennen des Menschen, die in die Welt herausragen, verraten etwas über seine Art von Gefühlsleben, seine rebellische Seele. Wir haben als Europäer die Menschen aus dem afrikanischen Genpool als nicht sehr freiheitlich gesonnen oder eben sklavisch auch deswegen empfunden, weil sie kurze krause Haare hatten. Das Zeichen ihrer Freiheit, ihrer inneren Energie, die nach draußen will, war für unsere Augen relativ schwach ausgebildet. In Hammons Skulptur zeigt sich nun plötzlich auch die Rebellion des Gedankens in den Haaren derer, die für uns nur dunkel und erdig waren.
Die wahrscheinlich schrecklichste Erfahrung von Fremdheit, die der Körper des Betrachters überhaupt machen kann, ist die Unfähigkeit, sich selbst wahrzunehmen. Wir kennen dieses Phänomen normalerweise unter dem Begriff Autismus. Autisten sind Menschen, die ihren Körper nicht spüren können und die körperlich nicht ausdrücken können, was sie seelisch empfinden.
Mike Kelley (Private address system, 1992) beschäftigt sich mit diesen Autisten, die in unserer heutigen Zivilisation sehr zahlreich sind, indem er ein Ensemble von Objekten aufbaut, die er einerseits den Lehrbüchern der alten Psychiatrie entnommen zu haben scheint, andererseits vielleicht den Foltereinrichtungen heutiger Gefängnisse in aller Welt. Im Kern steht die merkwürdige Tatsache, daß Autisten sich selbst in extremer Weise Schmerz zufügen müssen, um überhaupt noch irgendwie das Gefühl von Lebendigsein zu haben.
Wahrscheinlich machen wir den richtigsten Gebrauch von Kelleys Objekten, wenn wir sie benutzen, um uns in die Situation solcher Autisten hineinzuempfinden. Wir könnten uns vorstellen, in Kelleys Isolationskammer hineinzugehen, von jedem Außenkontakt vollkommen abgeschnitten zu werden und die Erfahrung zu machen, in der Autisten leben. Mit einer anderen Gebrauchsanleitung wäre Kelleys Hinweis auf die Hormonkammer des Psychoanalytikers Wilhelm Reich nicht zu verstehen. Denn wir können uns in diese Kammer begeben, um Phantasien über unsere körperliche Transformation zu entwickeln, aber gerade das ist dem Autisten unmöglich.
4. Der Sprachkörper
Für unsere Erfahrung, daß der Körper des Betrachters ein Sprachkörper ist, ein sprechender Körper, der gehört und gelesen werden will, gibt Harald Klingenhöller im Titel seiner Skulptur Alle Metaphern werden wahr (1992) geradezu das Motto aus.
Himmelstürmerei ist eine Metapher. Jonathan Borofsky (Man walking to the sky, 1992) nimmt sie wörtlich, macht sie also wahr. Kraftvoll vorwärtsschreitend, zügig, ungehindert, steigt die Figur himmelwärts. Der Himmelstürmer ist nicht nur eine Metapher für den künstlerischen, sondern für den allgemein menschlichen Furor der Welteroberung.
Was meint der Ausdruck „Sprechende Körper“, wenn es um Dinge geht, die selbst nicht sprechen? Ulrich Meister (Hommage à Francis Ponge, 1992) übersetzt mit seinen Worten den Körper der Dinge, als hätten sich diese Dinge auch in der Sprache der Menschen selbst geschaffen. Zum Beispiel der Spazierstock: „Auf der Spitze thronend, stieg er senkrecht hoch und bestand darauf, trotz oder gerade wegen seines kühnen Bogens, mit dem er stolz auf sich selbst zeigte, eine vollkommene Gerade zu sein.“ Zum vollen Papierkorb: „Obwohl sie dichtgedrängt beieinanderlagen, waren sie einander leicht, und es war einem, als ob eines dem anderen entgegenkäme bei der Entfaltung seiner verformten Gestalt.“
5. Der abwesende Körper
Die simpelste Form der Abwesenheit ist das Abgegrenztsein, das hinter-einer-Wand-ausgegrenzt-Sein. Die Installation von Haim Steinbach (Black Forest wall, 1992) in der Neuen Galerie, scheinbar ein Scheunentor, schließt den Besucher vor der Ausstellung hinter der Wand aus.
Die schmerzlichste Form der Abwesenheit ist der Tod. Auf den Steinen vor der unteren Stufe des Porticus beim Fridericianum wird von Tom Fecht (Denkraum) an die an Aids gestorbenen Künstler erinnert. Die abwesenden Toten tragen die Kunstgeschichte.
Die grausamste Vorstellung von Abwesenheit für uns Menschen ist die Vorstellung, daß es die Welt ohne uns geben könnte, daß die Natur ohne den Menschen auskäme. Der Raum von Ricardo Brey (ohne Titel, 1992) teilt uns diesen Gedanken mit. Die Menschen sind aus der Welt verschwunden. Die Dinge leben ihr eigenes Leben mit den Spuren der ehemals in ihnen vorhandenen Menschen weiter. Niemand wird sie je betrachten noch gebrauchen können.
Aber das Abwesende kann auch anwesend sein. Die Leere zum Beispiel als Form des Nichtvorhandenseins kann in Erscheinung treten. Diese Art des Vorhandenseins des Nichtgegebenen, der Gestalt der Leere und ihrer Sichtbarkeit zeigt Anish Kapoor in seiner Bodenskulptur (Descent into Limbo, 1992), die eigentlich ein Loch ist, aber als plastische Oberfläche wie zum Beispiel als ein auf dem Boden liegendes schwarzes Samttuch unseren Augen erscheint.
Auch die schriftliche Überlieferung ist eine Form der Anwesenheit derer, die ehemals gesprochen oder geschrieben haben, oder derer, die jetzt an einem anderen Ort sind. Durch Verhüllen der normalerweise in einer Ausstellung gezeigten Bilder und Skulpturen kann man Abwesenheit thematisieren, wie das Joseph Kosuth (Passagen-Werk, 1992) in der Neuen Galerie tut. Bei seinem Verfahren hat die lesbare Sentenz auf den Tüchern mit den jeweils sie verhüllenden Werken nur eine zufällige Beziehung. Oder ist gerade das gemeint? Soll gesagt werden, daß die Kommunikation über Kunstwerke sich vollständig von den Werken selbst gelöst hat? Dann wäre das Kunstwerk das Abwesende, weil es uns nur noch als Anlaß zu kommunizieren dient.
Viele Kunsträume werden so inszeniert, als dürfte es den Betrachter in ihnen gar nicht geben, als störte eigentlich der Betrachter im Ensemble. Für wen ist der Stuhl von Mariusz Kruk (ohne Titel, 1992) in der suggestiven Leere perspektivischer Fluchten gedacht? Wer oder was könnte erwartet werden? Denn daß jemand erwartet wird, zeigt eben der Stuhl. Wird vielleicht die Wiederkehr des Abwesenden erwartet? Die Wiederkehr des göttlichen Künstlers, des Weisen und Gerechten, des Menschen also?
Während wir auf der Documenta IX den Videokatalog Der Körper des Betrachters drehten, quälten mich nachts heftige Rückenschmerzen, der Körper des Betrachters rebellierte. Immer wieder zwang er mich auf alle viere, auf die Knie und die Ellbogen gestützt, den Kopf zwischen die Hände gelegt, den Rücken lang zu machen. Ich nenne es die Kasseler Vor-Tod-Stellung. Dabei gab es doch auf der ganzen Documenta IX kein Werk, das mich hätte in diese Form pressen können. Woran lag es dann? Wahrscheinlich an den Gefühlen quälender Vergeblichkeit, sich heute mit Kunststückchen beschäftigen zu sollen, wo uns doch täglich schon die Welt um die Ohren fliegt.