[Frage:] Die ersten Tierdarstellungen, die wir kennen, stammen aus den Höhlen von Lascaux. Welche kulturanthropologische Bedeutung haben solche Tierdarstellungen überhaupt? Wie wichtig sind sie für die Entwicklung des Menschen als Kulturwesen?
Bei den Stier-Darstellungen in Lascaux handelt es sich um eine Art von Antizipation des Jagens; diese prähistorische Gemeinschaft der Clanmitglieder in Lascaux lernt also anhand dieser Tierdarstellungen das gemeinsame Jagdgeschäft. Dieses Lernen ist zugleich auch ein Beschwören, ein sich Vertrautmachen, ein sich Einstellen, vergleichbar mit dem Verhalten von Fußballmannschaften, die sich vor dem Spiel kennenzulernen versuchen. Jeder Spieler sieht vor dem Match Videos von seinem Gegenspieler, lernt dessen Tricks, Eigentümlichkeiten, Bewegungsformen. So ähnlich lief das auch in Lascaux ab. Man machte sich vertraut mit den Tieren, mit ihren Gewohnheiten.
Die zweite Bedeutungsebene berührt den Aspekt der Versöhnung mit den Naturgeistern, den animistischen Kräften in den Tieren. Weil man sie jagte, also tötete, ist die Darstellung eine Art Kompensation für das Töten, das Verschwinden des Tieres. Das getötete Tier lebt in der Darstellung weiter. Es wird gleichsam musealisiert, würde man heute sagen. Was man vernichtet, wird kompensatorisch abbittend und ausgleichend erhalten, indem man es eben ins Museum stellt, die Natur, die Tiere, die alten Kulturzeugnisse usw. Daß man sie im Museum, also in der Darstellung aufbewahrt, ist dann die Entlastung von dem Schuldvorwurf, daß man sie vernichtet und getötet hat. Die Tierdarstellungen sind in diesem Sinne auch eine Art von Versöhnung und Danksagung.
Das Dritte wäre, was im Totemismus der nordamerikanischen und kanadischen Indianer untersucht wurde, daß die Darstellung gleichzeitig die Garantie der Übertragung von Kräften ist. Die Darstellung des Adlers, des Bären, des Elches, des Bibers ist gleichzeitig eine Übertragung von dessen Eigenschaften und Kräften. Die Bewunderung der tierischen Sozietäten beruhte darauf, daß sie den Menschen in sich stabil erschienen. Weil in menschlichen Gemeinschaften das nicht ohne weiteres funktioniert – die Instinktbindung ist aufgehoben – hatten die Tiere den menschlichen Gemeinschaften zumindest das voraus.
Die Stammesgemeinschaften haben offensichtlich versucht, durch die Übernahme eines Totemtieres, also des Clanzeichens, auch das enge soziale Bindungsverhalten zu übernehmen oder zu beschwören, das die Tiersozietäten bestimmt.
Die Tiere waren nicht nur Nahrungsquelle, sondern auch vorbildliche Nutzer der natürlichen Ressourcen. Die Indianer sahen, daß die Tiere sich optimal an die Jahreszeiten, an das Klima, an die Futterquellen anpassen konnten. Man lernte also auch von den Tieren. Die Menschen hatten größere Schwierigkeiten, Dürreperioden, Winter und ähnliches zu überleben. Am Beispiel der Tiere sahen sie, daß es offenbar irgendwie möglich war, denn die kamen ja als Art immer wieder vor. Also verwandelte man sich selber auch in ein Tier, die Clans verwandelten sich dann in Totemgemeinschaften, um auf die gleiche Weise die schweren Prüfungen der Nahrungsknappheit, der extremen Winter- oder Sommerklimata zu überwinden. So anpassungsfähig, so stark, so instinktsicher zu sein wie die Tiere, das hieß natürlich auch, Fähigkeiten zu besitzen, die die Menschen nicht hatten, also zum Beispiel die Fähigkeit der Vögel zu fliegen, der Huftiere, schnell zu laufen, der Biber, sich in einem für den Menschen lebensfeindlichen Terrain, zum Beispiel im Sumpf, zu behaupten, exakte geschickte Bauten zu errichten, funktionstüchtig zu sein, kurz: die Tiere konnten im einzelnen mehr als die Menschen.
Durch die Totemübertragung beschwor man etwas von dieser Kraft, dieser Schnelligkeit, dieser Flugfähigkeit, dieser Orientierungs- und Anpassungsfähigkeit, dieser Überlebensfähigkeit der Tiere, um es sich selber anzueignen. Man steigerte im Grunde seine eigenen, ziemlich schwachen Kräfte.
Sicher ist dann auch fünftens noch von Bedeutung, daß die menschlichen Gemeinschaften Schwierigkeiten hatten mit der Sicherung von Territorien. Sie bekämpften sich in Stammesfehden, und wenn die einzelnen Clans oder größeren Gruppen auf tieranaloges Verhalten ausgerichtet wurden, dann bestand zumindest eine gewisse Chance, das Zusammenleben der verschiedenen Clans möglich zu machen, wie ja auch die Tiergattungen in der Natur koexistieren.
Sind diese Totemtiere, diese ersten Leitbild-Prägungen für Gesellschaftsorganisationen, in unsere Kultur eingegangen?
In unsere Kulturgeschichte ist der Totemismus metaphorisch eingegangen. Bekanntestes Beispiel ist der Löwe als König der Tiere und damit die Analogsetzung von König und Löwe, dem herrschaftlichsten und kräftigsten Tier. Diese Analogien haben sich verselbständigt, denn es gab ja nicht nur eine Identifikations- oder eine Übertragungsrichtung zwischen Mensch und Tier. Eine große Rolle spielt dabei die Physiognomik, die das äußere Erscheinungsbild in Beziehung zum inneren Wesen setzte, also die Physiognomie des Kamels, des Löwen, des Pferdes, des Maultieres auf die zu charakterisierende Person anwandte: Der eine war mutig, der andere war dämlich, der dritte war unsensibel, hochmütig, gelangweilt, falsch, verschlagen, füchsig. Diese „Menschenkenntnis“ übertrug man wiederum zurück auf die Tiere.
Dann gibt es noch die weiteren Analogiebildungen, vor allem eignen sich Vögel, um sich im Bereich der unsichtbaren Natur eine Vorstellung davon zu machen, wie zum Beispiel Engel sich zwischen Himmel und Erde bewegen.
Was hat es mit Sprachbildern wie dem von der „falschen Schlange“ auf sich?
Die Menschen haben von Natur aus Furcht vor Schlangen. Das hat sich evolutionär entwickelt, weil Schlangen eben gefährlich sind, und dann übertrug man umgekehrt bei der Schilderung der Vertreibung aus dem Paradies dieses Element der Gefährlichkeit als Verführung eben wieder auf die Schlange, weil ja bei der Schlange die Doppelzüngigkeit tatsächlich gegeben ist, eine Schlangenzunge hat zwei Spitzen, und das ist eine Kulturleistung, wie man von der empirischen Beobachtung auf die metaphorische Ebene der Doppelzüngigkeit kommt.
Die indische Kultur reagiert auf die Gefährlichkeit der Schlange mit ihrer Heiligung. Dabei handelt es sich um eine Strategie des sich Vertrautmachens mit dem Gefährlichen. Bei uns führte das zur Verfolgung und bei den Indern führte das zur Heiligung. Solche Vorgänge sind immer kompensatorisch analog: Entweder verfolgen, verdammen, ausrotten oder auf der anderen Seite verehren, kultisch überhöhen.
Weiter finden wir noch Ableitungen metaphorischer Sprechweisen: Doppelzüngige Schlange, schlauer Fuchs, die Kuhäugigkeit, etwa die kuhäugige Hera, Zeus‘ Gattin. Kuhäugig zu sein hieß, dieses riesengroße offene Auge, das eine unglaubliche Gemütstiefe und Ruhe ausstrahlt, zu haben. Alexander, Goethe und Boris Becker sind Beispiele für die Großäugigkeit, die immer mit einer bestimmten Auszeichnung verbunden ist.
Spielt das heute denn in der Werbung noch eine Rolle, bei Markenartikeln, Keyvisuals, Logos? Organisieren Tierzeichen so etwas wie Lifestyle-Gemeinschaften?
Es gibt neue Analogiebildungen. Da gibt es Camel, die großäugige Milka-Kuh, das Lacoste-Krokodil, den Jaguar. Die Hauptlinie der heutigen Beziehungen auf die Tierwelt ist im Animismus zu sehen. Tiere dienen als allegorische Darstellung des Abstrakten, der Schnelligkeit zum Beispiel, der Zähigkeit, der Gutmütigkeit und Treue.
Die entscheidenden Allegorien in der höher entwickelten Kultur, der Griechen beispielsweise, sind anthropomorph. Im Gegensatz dazu gibt es bei uns faktisch außer den von der Antike übernommenen, wie der Freiheitsstatue, gegenwärtig wohl überhaupt keine anthropomorphen Allegorien. Der Mief ist miefig, der Gilb ist eben der Grauschleier, diese Allegorisierungen lassen sich in der tierischen Gestalt viel besser verwenden, wenn es um das Begreifen und Darstellen animistischer Kräfte geht, die gerade über das menschliche Vorstellungsvermögen hinausreichen. Tiere haben eine besondere Art der Wahrnehmung, beispielsweise Radar oder Temperaturempfinden. Fledermäuse fliegen vollkommen sicher durch die schwärzeste Nacht. Da scheint eine animistische Kraft beteiligt, die über das hinausgeht, was Menschen können. Deswegen eignen sich die Tiere viel besser als Menschengestalten zur allegorischen Darstellung dieser ungeheuren Kräfte, die die Werbung gern für ihre Produkte in Anspruch nimmt. Also greift sie zur tierischen Allegorisierung als Darstellung des Produktnutzens. Das ist der Hauptantrieb für die heutige Verwendung der Tiergestalten in der Werbung.
Ist es nicht auch die Tierliebe, die sich über die Jahrhunderte aufgebaut hat, die in Kampagnen wie „Ein Herz für Tiere“ immer neue Steigerungen erfährt und der Werbung emotional den Weg bereitet?
Auf jeden Fall ist die Zivilisationsgeschichte ganz eng mit der Domestizierung der Tiere zu Haus- und Nutztieren verknüpft. Und bei der Domestizierung kommt es zu Übertragungsleistungen. Die berühmte Verwandlung des Herren in den Hund und des Hundes in den Herren, also die wechselseitige Anpassung ist damit gemeint.
Ein schlußendlicher Vorbehalt bleibt immer, daß sich das Tier in irgendeiner Hinsicht dann doch als feindlich erweist oder als nicht beherrschbar, als eigensinnig und gefährlich. Auch da gibt es wieder zwei Reaktionen: Die eine ist, mit brutaler Unterwerfergeste vorzugehen und das Tier zu knuten und in gewisser Hinsicht wie einen Feind zu behandeln, eine andere Form von Ausrottung ist die des Indienstnehmens. Und andererseits die Vergöttlichung und Verehrung, das ist dann die Einsetzung des Tieres in die Rolle des Mitmenschen, des Kindes, des Familienmitgliedes.
Der Totemismus wirkt schon noch in gewisser Hinsicht weiter, aber heute eher über die physiognomische Ausdifferenzierung, also die Rückübertragung: Es werden erst anhand der menschlichen Verhaltensweisen unterschiedliche Äußerungen des Charakters der seelischen geistigen Regungen festgestellt. Die Art, wie wir differenzieren können, nämlich schlau oder dumm zu sein, brutal zu sein oder aufrichtig zu sein, können legitimiert werden durch die entsprechende Übertragung auf die Tiere. Dann kommt die Rückübertragung aus den so gekennzeichneten Tieren wieder in die Gesellschaft. Wenn man bemerkt, daß Menschen eben schlauer oder weniger schlau sind, dann wird die Unterscheidung anhand der Gegebenheiten der Tierwelt legitimiert. Und dann überträgt man die in der Tierwelt gemachten Zuordnungen aus Physiognomie, Körperbau und Verhaltensweisen wieder zurück auf die Gesellschaft. Das ist das eine.
Das andere ist die Allegorisierung abstrakter Kräfte, und zwar solcher animistischer Kräfte, die dem Menschen selbst nicht von Hause aus zukommen, die er aber gegeben sieht, zum Beispiel an den merkwürdigen Leistungen der Tiere, die man früher vielleicht gar nicht als Wahrnehmungsleistungen erkannte. Deswegen eignen sich die Tiere am besten, besser als Pflanzen und besser als Minerale und besser als geometrische Abstraktionen, um diese allegorischen Darstellungen einprägsam und sogar durch überindividuelle Erkennbarkeit auch kollektiv im Verständnis garantiert darzustellen. Generell gilt, daß die Menschen Darstellungen von Tieren oder Vergegenwärtigungen des Abstrakten in der Tiergestalt von vornherein akzeptieren, und deswegen kann man auf diese Weise seine Werbebotschaft vermitteln.
Die Tiere sind in ihrer Existenz, Arten sind bedroht, teilweise schon ausgerottet. Die reale Kenntnis der Tiere und ihrer Verhaltens-Eigentümlichkeiten geht zurück …
… im Gegenteil, es kommen neue Tierarten dazu. Es ist doch für uns Menschen fabelhaft, was es da alles an Tieren gibt. Bis in unser Jahrhundert gibt es Neuentdeckungen. Das Fabelhafte drückt sich darin aus, daß man Fabelwesen erfindet, das bekannteste Beispiel ist das Einhorn. Daraus entwickelten sich bis heute diese merkwürdigen Zwittergestalten, also der Variantenreichtum, wie Disney und andere ihn geschaffen haben, die kulturellen Verwandlungen der Tiere. Es überträgt sich sozusagen der Züchtungsgedanke, der evolutionäre Gedanke der Mutation und des Hervorbringens immer neuer Formen, auf das Zeichenbrett. Heute arbeitet zum Beispiel die Werbung als Schöpferin neuer Tierwelten, neuer Tiercharaktere, sicherlich immer in Anlehnung an die bereits bekannten.
Im Bereich der menschlichen Erscheinungen sind solche Spekulationen des Fabelhaften auch vorgekommen: die Schlümpfe, die Zwerge, die Heinzelmännchen von Köln. Nur ist bei dem Menschen ein gewisser Spielraum gesetzt, die Heinzelmännchen haben sich auch als realitätshaltige Phantasie erwiesen, denn irgendwann wurden die Pygmäen entdeckt, die tatsächlich kleinwüchsig sind. Offenbar hatte man aufgrund der Beobachtung der Evolution eine realistische Basis für die Annahme, daß es verkleinerte Formen der Menschen nicht nur als Einzelindividuen gab.
In der Tierpopulation kommt so etwas viel häufiger vor, außerdem kannten die Menschen auch den Zuchtgedanken bei den Tieren sehr viel eher als bei den Menschen. Deswegen konnte sich die Fabelhaftigkeit im Bereich der Tierverkörperungen viel stärker und intensiver ausbilden. Das Fabeltier, das märchenhafte Tier, das war ja nicht nur das Einhorn oder die große Weltenschlange seit der Antike. Es gab die vielen Meeresungeheuer, seltsame Fabelwesen, Phantasien, die es ja seit der Antike gegeben hat, also gerade in Zeiten, als die Menschen mit der Beobachtung der Tierwelt angeblich viel vertrauter waren als heute. Da kann man sogar sagen, sowohl diese Art der Vertrautheit in den früheren Zeiten, als die Menschen noch viel naturnäher lebten wie auch das völlige Ausblenden der Natur stimuliert eben zu einer Überproduktion an Fabeltier-Phantasien.
Daß diese Tierphantasien zunehmen, je weniger wir den Tiergestalten in der realen Lebensumgebung begegnen, außer vielleicht im Zoo den realen Tiergestalten, zeigt der Zoo der Fabelwesen. Und es wäre sinnvoll, wenn man im Zoo neben das Schild am Elefanten-Gehege etc. auch eine Beschriftung mit den entsprechenden Fabelphantasien hängt.
Dann gab es natürlich sehr viele Tiere, deren Paarungsverhalten zum Beispiel den Blicken der Menschen entzogen ist. Von Otto Waalkes gibt es eine wunderschöne Parodie auf die Frage, wie Hamster sich vermehren: „Aber zu wissen, daß der Hamster sich vermehrt, ist auch schon was wert“, und dazu überträgt er die bekannten Paarungsverhaltensweisen von Tieren auf die Hamster, die das unter der Erde unsichtbar betreiben. Und dieses Unsichtbarsein eines Großteils der Lebensvollzüge der Tiere heizt natürlich auch extreme Spekulationen an …
Was wären denn Ihre Lieblingstiere in der Werbung ?
Unter den Vögeln könnte ich mich eindeutig mit der Schwalbe identifizieren, bei den Säugetieren wäre es der Hund, vielleicht ein Chow-Chow oder der Bernhardiner. Dann kämen noch der Delphin in Frage oder die Schlange wegen ihrer so herrlich angepaßten Bewegungsformen. Unter den animierten Tieren ist es eindeutig Donald Duck.
Welche Erfahrungen haben Sie selbst mit dem Animismus gemacht?
Ich kann da eine schöne Geschichte erzählen. Ich fuhr jedes zweite Jahr einen neuen Citroen DS. Und diese Autos waren bei mir sehr anfällig. Immer funktionierte etwas nicht. Ich fuhr dann Mal um Mal in die Werkstatt, dort konnte man aber den Fehler nicht recht ausfindig machen. Eines Tages war es dem KFZ-Meister zu bunt und er sagte: „Passen Sie auf, Sie dürfen Ihr Auto eben nicht als ein Stück Blech und als unbelebte Natur verstehen. Sie müssen mit dem Auto umgehen wie mit einem lebenden Tier. Welches ist ihnen denn besonders liebenswert?“ „Das Pferd“, meinte ich. „Also behandeln Sie Ihr Auto doch als Pferd.“ „Wie soll ich das denn machen?“, fragte ich und er: „Indem Sie halt nur mit Sporen fahren.“ Dann hab ich mir so kleine Sporen gekauft und bin mit denen Auto gefahren, und seither ist es einwandfrei gelaufen. Ich habe mein Auto geritten wie ein Pferd und war kurioserweise auch bereit, seine Macken wie die eines wiehernden Vierbeiners hinzunehmen …