1. Die Häßlichkeit des Schönen
In den bisherigen Disputen über das Schöne berief man sich auf zwei gegensätzliche Annahmen: Zum einen wurde die Beurteilung von Objekten oder Konstellationen als „schön“ auf die Annahme von Qualitäten gestützt, die den Objekten oder Konstellationen „objektiv“, d.h., als Eigenschaft materiell bzw. substantiell zukämen. Zum anderen berief man sich auf die Annahme, daß die Qualifizierung „schön“ erst kulturellen Konventionen zu verdanken sei.
Die den Objekten inhärente Eigenschaft, „schön“ zu sein, beschrieb man z.B. als symmetrischen Aufbau, Gleichgewichtigkeit in der Balance der Teile, Harmonie der Proportionen und dergleichen. Der Beweis für das Vorhandensein solcher Gestalt- und Gestaltungsqualitäten wurde in der Hinwendung von Menschen auf die Objekte als Wahrnehmungsattraktoren jenseits kultureller Besonderheiten gesehen. Die Begründung gaben vergleichende Kunst- und Kulturwissenschaftler wie Anthropologen, Hirnforscher, Sozio- und Psychobiologen: Sie konstatierten anthropologische Konstanten, die sich in der Ausprägung des menschlichen Verhältnisses zur Welt in Wahrnehmung, Urteil und Verhalten durchsetzten, weil sie in der Evolution des Lebens selbst und nicht erst in der Entwicklung von Kulturen hervorgebracht wurden. Die Kulturen zeichneten sich dadurch aus, in welchem Maße sie in ihren Regelsystemen die Verbindlichkeit derartiger Grundkonstanten des menschlichen Weltverhältnisses verankerten. Diesen Grad der Entsprechung könne man objektivieren, z.B. durch arithmetische oder geometrische Beschreibungen: etwa für die Kurvatur von Gestaltprofilen, denen die Japaner in der Wahrnehmung des Fujiyama als „schön“ genauso huldigen wie die Europäer in der ästhetischen Beurteilung von Hügellandschaften. Die arithmetische Formulierung dieser line of grace and beauty könne man zeichengebenden Computern einschreiben, die dann lauter Gestaltformen generierten, die man weltweit als „schön“ empfinde. Solche gestalterischen Wahrnehmungsanlässe stellten größere Attraktoren dar als die kulturell gesetzten, weil sich ihnen Menschen vor und jenseits aller kulturellen Prägung zuwenden.
Die gegenteilige Annahme im ästhetischen Disput wurde mit dem Hinweis begründet, daß Angehörige unterschiedlicher Kulturen oder Epochen beispielsweise entweder Fettleibigkeit oder Magerkeit zu Schönheitsidealen, d.h. zu Wahrnehmungsattraktoren erhoben. Unter je gegebenen Bedingungen der Überlebensstrategien von Kulturgemeinschaften wie Klima, Nahrungsangebot, Ressourcenerschließung, Territorialsicherung, Aufbau von Herrschaft und Ausgleich sozialer Machtpotentiale entwickelten sie je spezifische ästhetische Bewertungsschemata für die Geltung von Wahrnehmungsattraktoren und ihre Bewirtschaftung (im Brautpreis, in der Auratisierung von Funktionsträgern, in der Ausgestaltung von öffentlichen und privaten Bauten, in der Repräsentanz des Sakralen).
Demzufolge sei Schönheit und deren attraktive Repräsentation ein soziales Konstrukt, das zwar auf der Natur des Menschen basiere, aber diese Bedingungen kulturell weitestgehend überformen könne.
Eine historische Ausprägung des Disputs kennen wir als den mittelalterlichen Universalienstreit oder den Realismus-/Naturalismusstreit in den Künsten des 19. Jahrhunderts. In diesen querelles versuchte man, zwischen beiden Positionen zu vermitteln. Man ging von der beobachtbaren Tatsache aus, daß Menschen objektinhärente Eigenschaften anerkannten, indem sie sie als „rot“, „belebt“, „schwer“ oder andererseits als „andersfarbig“, „unbelebt“ oder „leicht“ kennzeichneten. Diese gleichen Kennzeichnungen der verschiedenen Dinge gewinne man aus der Zusammenfassung der Eigenschaften, die den verschiedenen Dingen gleichermaßen zukommen: die Eigenschaft, rot zu sein, lebendig zu sein, schwer zu sein etc. Das hieße auch, daß die einzelnen unterschiedlichen Dinge Repräsentationen der Eigenschaften seien, die sie gemeinsam haben. Also müßten diese gemeinsamen Eigenschaften bereits vor der Ausformung der einzelnen Objekte in der menschlichen Wahrnehmung, in Urteilen und im Handeln/Herstellen gegeben sein. Die gemeinsamen Eigenschaften nannte man Universalia. Die Frage lautete: sind diese Universalia auf gleiche Weise real wie die verschiedenen Objekte, die sie gleichermaßen repräsentieren? Oder sind diese Universalia bloße Namen für die allgemeinen Eigenschaften, die wir aus den verschiedenen Objekten durch Abstraktion gewinnen?
Realist wurde genannt, wer die „Röte“ oder die „Schönheit“ oder die „Schwere“ auf die gleiche Weise für real gegeben hielt wie die als „rot“, „schön“ und „schwer“ wahrgenommenen Dinge.
Nominalist wurde genannt, wer die Universalia für bloße Substantiv-Bildungen von Eigenschaftsworten der Dinge hielt.
Nur eine gedankliche oder sprachliche Abstraktionsleistung ermöglicht es uns, von „Röte“, „Schönheit“ und „Schwere“ zu sprechen, obwohl nur die einzelnen roten, schönen und schweren Objekte real gegeben sind.
Bemerkenswerterweise nannte man im 19. Jahrhundert die Realisten „Idealisten“ und die Nominalisten „Realisten“, woraus Begriffsverwirrungen entstanden, die bis heute andauern; z.B. in der Behauptung, wir produzierten mit Computern eine „virtuelle Realität“ – eine Begriffsverwirrnis, denn die vom Computer generierten Zeichen repräsentieren als real gegebene Bildschirme, Projektionsflächen oder Datenbrillen die virtuellen Begriffe, welche die Operationen der Computer-Programme bestimmen.
Richtigerweise müßten wir demzufolge von „realisierter Virtualität“, also in Zeichen materialisierten Gedanken, sprechen.
Ich schlage vor, den Disput zwischen den Evolutionstheoretikern und den Kulturrelativisten, den zwischen Realisten und Nominalisten mit Bezug auf die Frage nach dem Schönen und der Schönheit auszusetzen. Denn ob man nun davon ausgeht, daß unsere Hinwendung zu Wahrnehmungsattraktoren weitestgehend auf Funktionsweisen unseres evolutionär entstandenen Weltbildapparates beruht oder ob die Attraktoren im wesentlichen kulturellen Setzungen entstammen – ob wir also die Geltung der Schönheit in der Wirkung des Attraktors nominalistisch oder realistisch begründen: wir haben uns in dem Disput um die Schönheit auf die Tatsache zu besinnen, daß der Hinwendung auf einen Attraktor stets eine Abwendung von eben diesem Attraktor entsprechen muß.
Die neurophysiologisch/anthropologisch Argumentierenden verweisen wir in diesem Zusammenhang auf den beherrschenden Einfluß des limbischen Systems, in dem die Bewertung von Attraktoren/Reizfigurationen als „lustvoll“ stets an eine entsprechende Bewertung als „abstoßend“ gekoppelt ist. Selbst als „lustvoll“ bewerteten Orientierungen auf Attraktoren folgt unvermeidlich eine „Unlust“-Erzeugung, die dazu führt, sich von dem Attraktor abzuwenden. Selbst der lustvollste Verzehr von Schokolade führt zu Ekel, also zum Abbruch der lustvollen Tätigkeit des Schokolade-Essens – wenn auch bei den einen diese Reaktion bereits nach Verzehr einer halben Tafel, bei anderen erst nach Verzehr von mehreren Tafeln Schokolade eintritt.
Das limbische Regulativ sorgt also stets für die Abgleichung von lustvoller Hinwendung auf den Attraktor und einer notwendigen Abwendung von diesem. Wird das limbische Regulativ, wie Sperry 1963 zeigte, außer Kraft gesetzt, führt die anhaltende Orientierung auf Lustquellen nicht nur zur Schädigung, sondern zum Tode des Organismus: Wenn Ratten unter besonderen, d.h. experimentellen Bedingungen die Möglichkeit geboten wurde, nach Belieben ihr Lustzentrum zu stimulieren, verdursteten sie – die Todesqual nicht vermeidend, weil sie sie als lustvoll empfinden mußten.
Das gleiche gilt für die kulturell gesetzten Attraktoren. Die Hinwendung auf als „schön“ empfundene, Lust bereitende Attraktoren der Wahrnehmung wie Landschaftsprofile, breite oder schmale Gesäße, Raffael-Gemälde oder Breker-Skulpturen, auf Monteverdi-Motetten oder Chinesische Opern ist der eine, erste Teil der Operation. Der andere Teil ermöglicht es, mit dieser lustvollen Tätigkeit auch wieder aufhören zu können, um nicht vor Raffael zu verdursten oder nach dreißig Tagen Philipp-Glass-Hörens in die Psychiatrie eingewiesen zu werden. Auch die stärkste Attraktion des „schönen“ Bildes und der rauschhaften Musik schlägt natur- wie kulturgemäß erst in Langeweile, dann in Überdruß und schließlich in Aggression um. Das eben noch für „schön“ und deshalb attraktiv Gehaltene bewerten wir schließlich als häßlich, ekelerregend, abstoßend. Mit dem Urteil abstoßend ist auch alltagssprachlich die Ablösung von der Reizquelle deutlich bezeichnet. Diesem Häßlichwerden des Schönen entspricht die Möglichkeit, das Häßliche als attraktiv zu empfinden – Skatologen und Freunde der Würmerküche geben Beispiele selbst für die extreme Umwertung von Attraktoren.
Wenn wir den Wechsel von Anziehung zu Abstoßung, von lustvoll zu ekelhaft hinreichend oft erfahren haben, gehen wir dazu über, das Lust Machende nur noch dadurch zu definieren, daß wir das Schöne als das Gegenteil des Häßlichen, das Lust Machende als das Gegenteil des Ekel Erzeugenden qualifizieren, ohne weitere Merkmale oder Eigenschaften beider zu benennen.
Auch wenn man die Erzeugung der Dualismen häßlich/schön, dick/dünn, schwer/leicht für bloße Konsequenzen aus der Logik unserer Kognitionsschemata hält, muß man die Gegebenheit anerkennen, daß in einem Zusammenhang für „häßlich“ Gehaltenes als „schön“, „dickes“ als „dünn“ oder „genießbares“ als „ungenießbar“ empfunden wird und umgekehrt. Deswegen sind die Fragen nach dem „Schönen“ als wirksamen Attraktoren für unsere Wahrnehmung und alle ihnen nachfolgenden intrapsychischen Operationen und Verhaltensweisen immer zugleich Fragen nach dem „Häßlichen“.
Wo, wie in der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts oder unter totalitären Regimes des 20., die Hinwendung auf „schöne“ Bildreize als Bekenntnis zur Gruppenkonvention abverlangt oder als Anerkennung normativ, d.h. verbindlich gesetzter Hierarchien der Schönheitsattraktoren verordnet wurde, waren Künstler zur Durchsetzung ihres Geltungsanspruchs auf die Repräsentation des Häßlichen, Abstoßenden, Fragmentierten, Willkürlichen verwiesen. Diese Gelegenheit nahmen sie derart wahr, daß sich der kontrafaktische Eindruck der Öffentlichkeit immer wieder bestätigt fand, die Erzeuger von Bildern als Wahrnehmungsattraktoren huldigten ausschließlich dem Häßlichen und Ekelhaften, um die bürgerlichen Schönheitsideale oder normativen Staatsästhetiken in revolutionärem Impetus möglichst weitgehend zu beschädigen – oder aber als Provokation zu nutzen, um mittels des Chocs sich selbst für die Wahrnehmung durch das Publikum attraktiv zu machen. Das konnte weder von den Künstlern noch von ihren Adressaten durchgehalten werden, weil zum einen die Strategie der Überbietung des Schockierenden nicht beliebig fortgesetzt werden kann und zum anderen das Publikum die Erfahrung machte, eben noch für abstoßend Gehaltenes nunmehr als „attraktiv“ zu empfinden (zu würdigen, zu kaufen, zu sammeln).
Auf diese Weise konnten Gruppenkonventionen der Präferenz von Attraktoren und die normativen Ästhetiken ohne Strafe oder wirtschaftliche oder sonstige soziale Nachteile vernachlässigt werden. In solchen Fällen bemerkten Künstler wie Publikum in der Konfrontation mit den als „häßlich“, „willkürlich“, „fragmentiert“, kurz: „befremdlich“ charakterisierten Werken oder sonstigen Arbeitsresultaten, daß in dieser Konfrontation ein Verlangen nach dem „schönen“, „ganzheitlichen“, „vollendeten“ Werk enstand. Tatsächlich aber boten die faktischen Werke eine Erfüllung dieses Verlangens nicht, wie umfangreich, differenziert und mannigfaltig diese Angebote auch immer waren. Diese Differenz von Erwartung und Angebot fand ihre Wirkung in der Etablierung der „nicht mehr schönen Künste“, und der Disput über die Schönheit wurde zu einem Disput über eine Ästhetik, in der das „Schöne“ und das „Häßliche“ zu randständigen Sonderformen der Wahrnehmungsattraktoren schrumpften.
Welchen Vorteil versprach diese Abkoppelung der Ästhetik von den Fragen nach der „Schönheit“?
Wie dachte man sich das? Und vor allem:
2. Was hat sich die Natur dabei gedacht?
Der wesentliche Vorteil von Ästhetiken, die sich nicht mehr der Etablierung der Bewertungshierarchien von Attraktoren auf der Skala schön = hoch/häßlich = niedrig verschreiben, besteht eben darin, die empirisch beobachtbare Umwertung des Schönen als häßlich und des Häßlichen als schön produktiv nutzen zu können. Das ist ein Fitneß-Vorteil durch die Fähigkeit zur Anpassung an noch nicht Qualifizierbares, das sogenannte „Neue“, „Ungewohnte“, „Unbekannte“, „Fremde“. Angesichts der enormen Steigerung der Zahl von Wahrnehmungsanlässen in der Entfaltung der industriellen Produktion oder in dem imperialen Zugriff auf die Leistungen anderer Kulturen sowie bisher nicht bekannte Bestände der Natur als Ressourcen verloren auch die differenziertesten normativen Ästhetiken an Kraft zur Orientierung und Bewertung des „Neuen“. Im Rahmen der geltenden Attraktorenhierarchien war dieses Neue, Andere und Fremde nicht zu „verstehen“ – es sei denn, es rangierte als abstoßend im untersten Bereich der Bewertungsskala. Die Bewertung als abstoßend widersprach aber dem Verlangen nach Aneignung dieses bisher Unbekannten als neuer Ressource. Aus diesem Widerspruch kam man nur heraus, wenn man grundsätzlich darauf verzichtete, das Fremde zu „verstehen“, also im eigenen Bewertungssystem zu positionieren. Statt das Neue zu „verstehen“, galt es, mit ihm umzugehen. Man machte es sich „gemein“, man verleibte es sich ein, wofür der lateinische Ausdruck communicare steht. An solche Praktiken war man durch das Institut des Heiligen Abendmahls, also der Kommunion und das Geheimnis der Eucharistie gewöhnt. Säkularisiert ergab sich daraus das Konzept „Kommunikation statt Verstehen“.
Was mit Blick auf die Kommunion theologisch beschrieben wurde, wurde nun durch pragmatische Erfahrung gestützt. Philosophie, Rechtswissenschaft, Medizin und nicht zuletzt die Künste waren seit langem – wenn zunächst auch ohne Konsequenzen – auf die Tatsache gestoßen, daß die gemeinsame Benutzung von Begriffen keineswegs zu allseits akzeptierten Theorien führte. Juristen stellten fest, daß noch so „eindeutig“ formulierte Gesetzestexte keine Möglichkeiten zur eindeutigen Beurteilung von gerichtlich verhandelten Sachverhalten boten. Die Mediziner lernten nolens volens, das vermeintlich eindeutige Verständnis von Symptomen als Verweis auf Krankheitsursachen aufzugeben. Und schließlich demonstrierten etwa die Maler, daß man den selben Texten der Bibel mit ganz unterschiedlichen Bildkonzepten entsprechen konnte.
Also stellte man die Ästhetik um: von der Etablierung der Rangskalen im Spektrum schön/häßlich auf das Qualifizierungsschema produktiv/unproduktiv. Als produktiv erwies sich alles, was die Kommunikation aufrechterhält, ja verstärkt und dynamisiert, als unproduktiv galt, was die Kommunikation einschränkte oder gar unmöglich machte. Um derart produktiv zu sein, mußte man einen kommunikativen Umgang mit der Vieldeutigkeit von Zeichen und Bildern, der Mehrwertigkeit von Urteilen trainieren. Das geschah am Besten durch Toleranz gegenüber dem „Unbestimmten“ in seiner wichtigsten Erscheinungsweise als „Neues“. Deswegen wurde die Qualifizierung von Wahrnehmungsangeboten als „neu“ zum Synonym für „Produktivität“ oder „Innovativität“ zum Synonym für „Qualität“, worauf sich nicht zuletzt die „modernen Künste“ in der Bewertung ihrer Arbeitsresultate als „avantgardistisch“ einließen.
Wie die Künste den Umgang mit diesem unbestimmten „Neuen“ nicht-normativ qualifizierten, habe ich anderenorts beschrieben (s. die Kapitel „Tatsächlich neu ist nur das, was uns zwingt, das vermeintlich Alte, Traditionelle mit völlig neuen Augen zu sehen“ oder „Vorwärts, Kameraden, wir müssen zurück“ in: BB, Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit und BB, Die Redekade. Kunst und Kultur der 80er). Generell ist dieses Verfahren eine Erschließung von Geschichte als Zeit-Ressource durch Verwandlung von Bestimmtheit in Unbestimmtheit, von Tradition in uneinholbare historische Distanz, vom geschlossenen ins offene Werkkonzept durch Dekontextualisierung und Multiperspektivität.
Die Ästhetik (wie die Ethik und die Epistemologie) jeden kommunikativen Aktes galt also der Frage, wie man durch Erhöhung der Vieldeutigkeit und Vielwertigkeit oder gar Unbestimmtheit, also „Neuigkeit“ der bild- und wort-, kurz: der zeichensprachlichen Operationen, in denen sich Kommunikation manifestiert, die Produktivität steigern kann. Die Möglichkeit dazu liegt offensichtlich in dem Verhältnis von intrapsychischen Aktivitäten wie Erkennen, Vorstellen, Wünschen, Fühlen zu den Zeichen, die wir benutzen, um Anderen Verweise auf diese Aktivitäten zu bieten, also mit diesen Anderen die Kommunikation aufzunehmen. Als ästhetisch „produktiv“ erweist sich gerade die Differenz zwischen unseren Gedanken, Vorstellungen und Gefühlen einerseits und dem Gebrauch, den andere von unseren zeichenhaften Entäußerungen machen, um ihre eigenen Gedanken, Vorstellungen und Gefühle auf unsere zu beziehen. Unproduktiv ist die Aufhebung der ästhetischen Differenz durch Definition von Eindeutigkeit wie in der Mathematik oder durch Formulierung von Tautologien oder Pleonasmen oder durch Zensurdekrete, wie sie Fundamentalisten und Dogmatiker erlassen.
Frage: Was hat sich die Natur dabei gedacht, uns nicht mit einer ein für allemal feststehenden semantischen Koppelung von Zeichen und Bedeutungen auszurüsten, analog zu der Art und Weise, wie wir bisher unsere Maschinen auf der Basis eindeutiger Entsprechungen von Befehl und Reaktion programmieren?
Die Geschichte der Evolution begründet die Antwort, daß wir uns mit einer losen, also je nach Situation umstellbaren Koppelung von Zeichen und Bedeutungen auch jenen Lebenssituationen gewachsen zeigen resp. uns ihnen anpassen können, die „neuartig“ oder „fremd“ sind. Wenn wir mit unserer Bewährung in solchen Situationen zu warten hätten, bis wir „verstehen“, was diese Situationen tatsächlich definiert, wären wir längst Opfer von tödlichen Gefahren oder verbrauchten unsere Lebenszeit mit der Elaborierung von Voraussetzungen des Lebens in neuen Umgebungen – einen Anklang an diese Unsinnigkeit bieten heute noch Auskünfte von Zeitgenossen, sie „verstünden“ Arbeitsleben als Schaffung der Voraussetzung dafür, nach der Pensionierung endlich „leben zu können“. Ein solches Verstehen der „Bedingungen der Möglichkeit“ käme immer zu spät. Hätten die Hervorbringungen der Naturevolution stets mit ihrem Leben zu warten, bis sie die Bedingungen ihrer Existenzmöglichkeit verstanden hätten, um sie ins eigene System einzubauen, wäre der Reichtum an Organismen, vor allem der Reichtum an höher entwickelten Organismen, kaum zustande gekommen.
Wir sind also auch von Natur aus auf Kommunikation als Voraussetzung der Lebensbewältigung in unvergleichlich höherem Maße angewiesen als auf das Verstehen der Welt, in der wir leben. Oder: zu kommunizieren erlaubt uns das Leben in einer Welt, ohne diese Welt selbst als Bedingung der Möglichkeit unseres Lebens verstehen zu müssen oder zu können.
3. Produktive Indifferenz
Soweit wir wissen, war Marcel Duchamp der erste Künstler des 20. Jahrhunderts, der programmatisch die Kunstpraxis als Kommunikation faßte. In der ihm abgenötigten Festlegung seines Programms in der berühmten Vorlesung Der kreative Akt im Sommer 1957 weist er ganz ausdrücklich auf die „Lücke“ zwischen der „Absicht des Künstlers“ und der Verwirklichung dieser Absicht hin; er bestimmt das „Werk“ als Manifestation des „Kunst-Koeffizienten“, der eben die vom Publikum produktiv zu machende Differenz von intrapsychischer Prozedierung der Gedanken, Vorstellungen, Gefühle und des Gestaltungswillens von Künstlern einerseits sowie der Faktizität des Werkes andererseits ausmacht: „Der persönliche (d.h. je spezifische) Kunst-Koeffizient ist wie eine Relation zwischen dem Unausgedrückten-aber-Beabsichtigten und dem Unabsichtlich-Ausgedrückten,“ das erst von den Betrachtern, dem Publikum herausgearbeitet werden muß. Die Arbeit der Betrachter ist Teil des kreativen Aktes, sobald sie kommunizieren, vermittelt über die Unbestimmtheit des Verhältnisses von Werken und gedanklichen Konzepten der Künstler.
Die ästhetische Differenz (bei Duchamp: „Die Lücke“) zwischen Künstler-Konzept und betrachtender Aneignung des Werkes wird zur In-Differenz gegenüber Urteilen wie „schön“ oder „häßlich“, „gelungen“ oder „mißlungen“, „gut“ oder „schlecht“. Denn auch „schlechte Kunst ist im gleichen Sinne Kunst, wie ein schlechtes Gefühl immer noch ein Gefühl darstellt“. Erst derartige Indifferenz gegenüber den Urteilen „dies ist attraktiv, jenes abstoßend“, „dies Werk ist schön, jenes ist häßlich“ ermöglicht den „kreativen Akt“ der Betrachter. Diese Indifferenz gegenüber den besagten Urteilen läßt den Umgang mit der Unbestimmtheit des Werkes aus der künstlerischen Absicht nicht nur zu, sondern erzwingt ihn als zentrale Leistung der Kommunikation, denn zu kommunizieren heißt eben, mit dem umzugehen, was man nicht versteht.
Demzufolge ist der „zeitgemäß-moderne“ schöpferische Akt in der Konfrontation mit Kunstwerken erst möglich, wenn man davon absieht, das Werk mit Bezug auf den Künstler und seine intrapsychischen Operationen verstehen zu wollen.
Entsprechend der sokratischen Deklaration, zu wissen, daß man nicht versteht (und deswegen kommunizieren zu müssen), tritt an die Stelle besagter Urteilsbildungen gegenüber den Werken die Problematisierung der Werke in der Polemik, im Streit der bloßen, aber durch nichts ersetzbaren Meinungen und das prinzipiell endlose Argumentieren ohne Letztbegründungen (etwa durch den Spruch der Künstler, was sie denn nun tatsächlich gemeint hätten, weil diese Absichten zu äußern wieder der ästhetischen Differenz zwischen Gedanke und Zeichenentäußerung unterliegt).
Der persönliche, je werk- und betrachterspezifische Kunst-Koeffizient bezeichnet also das Potential der ästhetischen Lücke oder Differenz, die Betrachter zur Entfaltung derartiger kommunikativer Beziehungen wie Polemik, Streit der Meinungen zu provozieren.
Auf derartiger Kraft zur Provokation bestanden so gut wie alle zeitgenössischen Künstler für die Wirkung ihrer Werke bei weitestgehender Indifferenz gegenüber dem Urteil „akzeptiert/nicht-akzeptiert“, „honoriert/nicht-honoriert“, „kanonisiert/nicht-kanonisiert“. Die betrachtende Hinwendung auf das Werk ist damit auch nicht mehr als Zustimmung zu werten, die Abwendung nicht als Ablehnung.
Daß Bindung durch Ablehnung stärker sein kann als die durch Zustimmung hat die Karrieren von Anti-Kunst-Bewegungen befördert. Dafür steht vor allem das Resultat der Stalin- oder Goebbels-Kampagnen gegen die „Entartete Kunst“. Die indidividual- und sozialpsychologischen Mechanismen solcher Bindung durch aggressive Zerstörung, Haß, Neid sind auch außerhalb der Kunst wohlbekannt. Wer glaubte, daß das Kaufen und Lesen der BILD-Zeitung mit der Zustimmung zu den dort vertretenen Urteilen gleichzusetzen sei, wurde z.B. bei der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler eben durch die Masse der BILD-Leser über diese Psychomechanismen eines Besseren belehrt.
Der kreative Akt von Künstler und Publikum basiert auf der Indifferenz gegenüber Akzeptanz und Ablehnung, weil derartige Urteile verhindern, daß der Umgang mit Unbestimmtheit produktiv werden kann. Nach Duchamp nannte man solche Unbestimmtheit „semantische Leere“ oder „Referenzlosigkeit der Zeichen gegenüber definierten Bedeutungen“, „Dekontextuierung“ oder „Abkoppelung als Desensibilisierung“ (wie in der Verhaltens-Therapie für Phobiker oder im „surrealistischen Akt“, der analog zum Traumgeschehen die eingeschliffenen Verknüpfungen von Zeichen und Bedeutungen zu lösen beabsichtigt, um neue Verknüpfungen zu ermöglichen).
In der kommunikativen Kunstpraxis des 20. Jahrhunderts wurde – nicht zuletzt durch Duchamps Training mit Katherine Dreier und anderen Kunstsammlern – eine Strategie zur Erzeugung von Indifferenz besonders ausgezeichnet: der Kauf der Werke. Sie alle gleichermaßen in Geldwert zu repräsentieren, ermöglicht den Sammlern in hervorragender Weise, sich von der unproduktiven Verpflichtung auf Absichten von Künstlern als Garanten der Werkqualität zu befreien. Wer kauft, braucht nichts mehr zu verstehen, ja nicht einmal zu wissen, daß er nichts versteht; denn durch den Kaufakt ein Werk als Geldwert zu besitzen, bedeutet gerade, sich nicht mehr gegenüber Fragen nach „Schönheit“, „Vollendetheit“ und „Zustimmung“ rechtfertigen zu müssen. Nur naive Sammler bekunden mit dem Akt des Kaufes, was sie für „schön“, „vollendet“ etc. halten.
Professionelle Sammler hingegen lassen sich durch die gesammelten Werke nicht in ihren Urteilen identifizieren, weil sie die kommunikativen Potentiale der Provokation und Polemik selber produktiv nutzen. Das können sie aber nur, wenn sie vor ihren Werken nicht allein sind, woraus sich zwingend ergab, daß sie ihre privaten Sammlungen veröffentlichten.
Lange Zeit hielt man die Entfaltung einer Ästhetik der „nicht mehr schönen Künste“ für eine bloße Angelegenheit der Kunstkommunikanten. Die von ihnen geleistete Erzeugung von Unbestimmtheit – „Transsubstantiation“ nennt Duchamp dieses Wandlungsgeschehen ausdrücklich – schien einigermaßen unerheblich für die Kommunikation außerhalb der Kunst zu bleiben, ließen sich doch weder Künstler für ihre Werke noch das Publikum für seine Partizipation am „kreativen Akt“, noch die Sammler für ihre Kaufentscheidung zur Verantwortung ziehen. Sich in diesem Bereich ethisch zu verpflichten, konnte ohnehin nichts anderes heißen, als der ästhetischen Differenz eine ethische entsprechen zu lassen. Diese Differenz erzeugt man durch willentliche, also nicht nur unvermeidliche Arbeit mit der Nicht-Identität von Zeichen und ihren Bedeutungen oder von Werken und den Intentionen der Künstler. Die willentliche Differenz-Erzeugung nennen wir „lügen“. Verantwortung im ethischen Sinne ergibt sich aus der Erfahrung, daß systematisch zu lügen die soziale Kommunikation unmöglich macht. Wenn aber für den Umgang mit Kunstwerken ohnehin die ästhetische Differenz grundlegend ist, wird durch Hinzufügen der ethischen das kommunikative Potential nur umso größer. Der deklarierte Werkanspruch reiner und vollständiger Vergegenständlichung des Kunstbegriffs und der Künstlerkonzepte wird gerade im kreativen Akt der Betrachtung problematisiert. Die Werke selbst sind bereits die Deklaration der Frage, wieso sie als Kunstwerke gelten könnten. Da sie diesen Anspruch auf normativ-dogmatische Geltung aufgrund der unaufhebbaren ästhetischen Differenz gar nicht erheben können, signalisieren sie in ethischer Hinsicht dem Betrachter immer schon eingestandenermaßen ihre Falschheit – z.B. als Simulation oder als Fakes. Der Übergang von der normativen zur nichtnormativen Ästhetik, von der der schönen zu der der „nicht mehr schönen Künste“ bedeutet demzufolge, Fälschung nicht mehr als kriminellen Akt, sondern als schöpferische Leistung zu bewerten. Das Werk kann nur noch als deklarierte Fälschung zum Kunstwerk werden. Alle modernen Werke der nichtnormativen Ästhetik sind also Fakes des normativen Kunstverständnisses. Duchamps Urinoirs etc. sind also deklarierte Fakes dessen, was einstmals mit Skulpturen als Kunstwerken in Entsprechung zu normativen Urteilskanons gemeint gewesen sein mag, ohne daß die Werke den Anforderungen des normativen Kanons tatsächlich hätten entsprechen können. Aber Duchamp unterschiebt seine Arbeiten dem Publikum nicht in der inkriminierbaren Absicht, sie als solche „Kunstwerke“ auszugeben. Als erklärtermaßen „gelogene Kunst“, als prinzipiell „falsche Kunstwerke“ sind sie keine Fälschungen mehr (denn das erklärtermaßen „Falsche“ ist ja als solches tatsächlich „wahr“ – Duchamp-Nachfolger wie Andy Warhol oder die Künstler der Appropriation Art, die Fluxus-Leute oder Bad-Artisten wie Kippenberger haben diese Wahrheit des erklärten Falschen besonders betont).
Heute werden derartige Erkenntnisleistungen bereits jedermann auch außerhalb der Kunstpraxis abverlangt. Wer in eine Klinik geht, hat versicherungsrelevant zu erklären, daß er als Patient persönlich die Verantwortung für die Wahl der therapeutischen Maßnahmen übernimmt – obwohl der Patient als medizinischer Laie dafür keinerlei Voraussetzung durch Verstehen der ärztlichen Praxis mitbringt. Wie die Künstler zuvor werden nun auch die Ärzte wie alle anderen „Experten“ zu Profis der Falschheit, heute generell „Experten für Entscheidungsrisiken“ genannt. Der Laie hat seinen Anteil zum kreativen Akt der Therapie oder des Umgangs mit Nahrungsmitteln, die nicht mehr sind, was sie normativ zu sein hätten, ohne jede Möglichkeit des Verstehens von Konzepten der Biochemiker, Physiker oder Ärzte zu erbringen. Er kann vor Einwilligung in die Behandlung oder Kaufentscheidung nicht erst ein mehrjähriges Studium der Expertenkonzepte absolvieren – mal abgesehen davon, daß auch diese Konzepte mit den medizinischen wie anderen Praktiken nicht umstandslos identisch zu setzen sind. Es bleibt den Patienten oder Konsumenten von Nahrungsmitteln statt des Verstehens der wissenschaftlichen Konzepte und der zu ihnen immer differenten Praktiken nur die Möglichkeit der Kommunikation über das, was sie nicht verstehen mit anderen Patienten und Konsumenten wie mit den Experten selbst. Letztere werden aber, wie zuvor die Künstler des Duchamp'schen Selbstverständnisses, stets kommunizieren, daß ihnen gerade in dem Maße ihr Erkenntnisgegenstand problematisch wird, wie sie ihre Expertenfähigkeiten erhöhen. Derartig aufgeklärte Experten/Künstler verständigen sich untereinander nach kommunikativen Verfahren, die auch die Laien im Umgang mit dem Nicht-Verstehen anwenden. Daß Medizinerkongresse, Ministerrunden oder Künstlerdiskussionen erfahrungsgemäß genauso ablaufen wie Stammtische, Kaffeekränzchen oder bildungstouristische Exkursionen muß deshalb nicht verwundern, sondern bietet die Garantie dafür, daß alle Beteiligten sich von dogmatischer Durchsetzung ihrer Konzepte des Verstehens längst erfolgreich verabschiedet haben. Das gilt auch bei herkömmlicher Auffassung von Kommunikation über Verstehen. Denn je spezialisierter die Experten, desto größer wird die Notwendigkeit, mit allen Anderen, ebenfalls Hochspezialisierten Verständigung über Kommunikation ohne Verstehen zu erreichen.
Wie in den Künsten des 20. Jahrhunderts, so entsteht inzwischen auch in den Wissenschaften und in der Alltagspraxis der Laien die Gemeinsamkeit nicht mehr durch das, was die Zustimmung aller Beteiligten findet; sie wird vielmehr durch die gemeinsame Orientierung auf das Unverständliche, Mißverständliche Risikoreiche, Problematische im Selbstverständnis der Kommunizierenden erreicht. Wenn sie – und davon hängt ihre Zukunft als Gesellschaft ab – überhaupt noch etwas gemeinsam haben, dann sind das nicht geteilte Überzeugungen, religiöse Bekenntnisse oder politische Parteinahmen sondern dann ist das die gemeinsame Hinwendung auf prinzipiell nicht lösbare, also bösartige Probleme. Und das bedeutet die gemeinsame Befähigung, bisherige Formen des Verstehens als risikoreich oder kontraproduktiv aufzugeben.
Also geben wir es auf zu verstehen oder verstehen zu wollen, was die Schönheit sei. „Was aber die Schönheit ist, das weiß ich nicht“, bekundete Dürer und konnte deshalb als Maler, Zeichner, Zeitgenosse so produktiv wirken.