Kann man sein Leben entwerfen wie einen Roman? Oder eben nach Mustern, die uns die literarische Gattung Biographie vorgibt? Daß man sein Image wunschgemäß von entsprechenden Experten designen lassen kann, hat sich bis auf die Ebene der Dorfpolitik herumgesprochen. Auf Wahlplakaten trifft man sie wieder und in der Lokalpresse, die den großen Taten der großen Männer ein Foto mit drei Zeilen widmet: Kindergartenweihe, Grundsteinlegung, Abschlußfeiern, Feuerwehrbälle und Greisenbesuche.
Geben diese Aktivitäten nebeneinandergereiht nicht auch schon eine Biographie? Eine Biographie in jedem Fall – denn irgendeine Biographie hat schließlich jeder. Wovon aber die Romane und Fernsehserien und Unternehmernachrufe, die Wissenschaftlerbiographien und die psychiatrischen Gutachten berichten, sind Lebensläufe eines anderen Zuschnitts: Gradus ad Parnassum, Gipfelsturm, Südseetragik, vom Kellner zum Millionär und wieder zurück, Vaterlandsretter und Menschheitserlöser, Wirtschaftsführer in harter Not, Goldmacher in Genlaboren.
Daß man etwas werden will – so mit 8 bis 18 Jahren – bekunden alle; zur Biographie aber wird der absolvierte Weg von der Hauptschule zum Gartenbaugehilfen, Abendabitur und Fachhochschulstudium als Landschaftsarchitekt bzw. der Weg vom Abitur über das Diplom BWLII, Einheirat, beinahe Marktmonopol mit Absturz der Privatmaschine auf dem Rückflug aus Marbella – zur Biographie werden solche Berufswerdegänge erst, wenn den kalendarischen Daten eine Entwicklungsgeschichte der Seelen und Charaktere entspricht, ein Entwicklungsroman.
In Goethes Wilhelm Meister und Kellers Grünem Heinrich wurden über Generationen die Muster der europäischen Biographien als Entwicklungsromane gesehen. Fazit: Karrieren kann man planen, Entwicklungen der Charaktere nicht, die sind Gnade oder gnadenloses Schicksal. Ja, die Mehrzahl der Absolventen großer Karrieren ist am Tag des Lebensrückblicks so klug wie zuvor, als sie die ersten Stufen des Treppchens nahmen. Den naiveren Zeitgenossen ist schwer aushaltbar, daß Männer in höchsten Positionen und Frauen auf dem Erfolgshöhepunkt seelisch hohl und charakterlich schwankend sein können. Deswegen baut man sich eine Eselsbrücke über den Abgrund von Biographie und Entwicklungsroman, indem man versöhnlich behauptet, wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand – will sagen, wer hoch hinauf kommt, ist dort nicht ohne Grund (und sei es, weil er gelernt hat, kriminelle Energien zu entwickeln).
Man kann nicht verschweigen, daß heute die faszinierendsten Serienhelden und Wochenblattstars ihren unaufhaltsamen Aufstieg aus der Kraft der Bosheit absolvieren. Und was wäre bösartiger als verhärtete Gefühle und brutalisierte Moralität?
Was will uns das sagen? Wer heute zumeist bei Einstieg in die Midlife crisis im vollen Bewußtsein seiner Fähigkeiten seinen Lebenslauf betrachtet und sehr häufig zu dem Schluß kommt, er müsse sein Leben ändern, indem er es neu plant, inklusive Scheidung von Tisch und Bett, Job und Heimat, Kind und Konto, dem bleiben nur wenige kulturgeschichtlich abgesicherte Paradebiographien als Vorlage für das eigene Biographiedesign – natürlich mit dem Wunsch auf entsprechende Veränderung des eigenen Innenlebens.
Gegenwärtig überschreitet Ulrich Löchter mit seinem 40. Geburtstag die Grenze zum kritischen Mannesalter. Principiis obsta! sagen sich seine Freunde und Mitarbeiter; zu deutsch: man muß rechtzeitig die Weichen stellen. Auch entspricht es der Lebenserfahrung, unausweichlichen Veränderungen nicht sich entgegenzustemmen, sondern sie in wünschbare Bahnen zu lenken.
Nehmen wir den theoretischen Fall, Ulrich Löchters stabile Lebensverhältnisse, Anschauungen, Vermögen und Lebenslüste böten ihm nicht mehr hinreichenden Halt und er geriete in einen Sog unbestimmter Erwartung, beunruhigender Sehnsucht und explodierender Energien, so sollten wir ihm ein paar Biographiesets, Entwicklungspassepartouts bieten können, in denen wir die Lavamasse Löchters auffangen würden, um sie zu neuer Form zu backen. Welche Formen könnten das sein? Seinem Anspruch, Temperament, seiner Bildung und seinem Vorleben gemäß, könnte man ihm 6 bis 7 Muster offerieren, die allgemein anerkannt werden und denen nachzuarbeiten hohes kulturelles Lob sichert: dem Leben und Wirken des Künstlergenies, des Staatengründers, des Religionsstifters, des Aussteigers, des Topmanagers, des Barbaren und des journalistischen humanistischen Volkspädagogen = Menschheitsfunktionärs. Große Rollen allesamt, deren spezifische Anforderungsprofile es mehr oder weniger wahrscheinlich machen, daß Ulrich Löchter sich für sie entschiede. So ist es zum Beispiel unwahrscheinlich, daß Löchter sich die Standardbiographie der Reagan-Ära, in der allerdings auch er seine Offensivlaufbahn begann, zum Vorbild nehmen wird. J.R. Ewing ist der Typ des Barbaren in der hochindustrialisierten Zivilisation, die offensichtlich aus ihrer Logik heraus solcher Barbaren bedarf.
So jedenfalls legt es eine ganze Reihe von Standardwerken der Unternehmensführung aus den 80er Jahren nahe, die den Führerbarbaren zum Wirtschaftshelden gegen die wasserköpfigen Bürokraten auszeichnet. Es ist der Prototyp der Karriere durch Negativauswahl: Am höchsten steigt, wer über Leichen geht, wen keine Visionen oder Skrupel hemmen und wer die mafiöse Verschwörung für das effektivste Führungsmodell hält.
Dagegen, scheint mir, ist Löchter schon durch seine bewegte Fantasie und schwer kontrollierbaren Leidenschaften gefeit; von seinen Visionen ganz zu schweigen, auch wenn sich diese Visionen hauptsächlich mit seiner eigenen Zukunft beschäftigen sollten. Wenn uns aber von vornherein klar ist, daß Löchter das Biographiedesign des Barbaren für sich nicht akzeptieren wird, wieso führen wir es dann an? Pfeifen wir etwa im Wald?
Es ist ebenfalls unwahrscheinlich, daß er den Typ des Staatengründers mit selbstlegitimiertem Machtrausch wählen könnte, da dieser von Napoleon zur höchsten Entfaltung gebrachte Biographiestandard Minderwertigkeitsgefühle voraussetzt, die es in der Rolle zu kompensieren gilt. Löchter ist einfach zu wohl gebaut, zu ansehnlich als schmuckes Mannsbild, als daß es ihn jucken könnte, von seiner Erscheinung auf seine inneren Querelen abzulenken; glaubt jemand, er verberge tief in diesem Innern einige Schwachstellen, die sein natürliches Selbstwertgefühl über die Maßen herabsetzen und ihn deshalb nach Ausgleich suchen ließen? Also, als Napoleon postmodernen Zuschnitts sollten wir ihn wohl kaum erwarten; diese Karriere beginnt man übrigens weit vor dem 40. Lebensjahr (s. Silicon Valley).
Etwas wahrscheinlicher wäre Löchters Einstieg in das Entwicklungsmuster des Religionsstifters. Wenn wir nicht die Kataloggurus zum Beispiel nehmen, sondern eine Figur wie Marx, ließe sich eine weitgehende Ähnlichkeit in Gesichtszügen und im Körperschema ausmachen, vorausgesetzt, Löchter frönte seiner Leidenschaft für gutes Essen, für einen gebräunten Teint und für kräftigen Haarwuchs weit über das bisherige Maß hinaus. Was die Programmatik anbelangt, der er als Religionsstifter folgte, so könnte man es in naher Zukunft mit dem Sozialismus/Kommunismus als Religion versuchen statt als Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Löchters spektakulärer Erfolg in den Ländern des ehemaligen Ostblocks inklusive den neuen Bundesländern hat ihm ja bereits die Bestätigung gegeben, daß Nostalgie die Religion der Utopisten ist.
Bereits heute läßt sich an Löchter eine starke Anfälligkeit für das Attitüdenpassepartout des Künstlergenius erahnen. Seine Unvoreingenommenheit, sein schamfreier Blick mit Horizontfixierung (weniger sinnend als sinnlich) und seine subtile Genußfähigkeit prädestinieren ihn für jenen Zuschnitt des autonomen Weltkindes, der von Goethes persönlichem Entwurf abstammt. Ihm steht klassische Größe, nicht expressives Händeringen. Ihn reizt keine Dachkammerexistenz des armen Poeten; er ist kein taxifahrender Punklyriker, sondern Ritz-Epiker, Greenfee-Metaphoriker und Kontokorrentsänger. Was Goethe für den Weimarer Hof und die deutsche Kulturprovinz leistete, wäre jetzt für den Bertelsmann-Konzern und die Fernsehuniversalität zu leisten; eine Arbeit, für die Löchter seine Fähigkeit, sich loben und bewundern zu lassen, allerdings weit über das jetzige Maß hinaus demonstrieren müßte.
Bei dieser Übung wollen wir ihn zu jeder Zeit gern unterstützen; denn das gehört zum schwersten in der Entwicklung der Persönlichkeit: Schenken kann heute jeder, aber sich mit Anmut beschenken zu lassen, so daß der Schenkende sich beschenkt fühlt, das ist eine Kunst. Loben und Anerkennung aussprechen ist die tägliche Übung der Chefs; aber sich selbst mit Würde loben zu lassen, so daß der Lober sich anerkannt findet, das fordert Größe.
Seit dem 18. Jahrhundert bietet ein Lebensentwurf besonders viele Anlässe, solche Größe zu zeigen: der des Fortschrittlers, des Aufklärers. In diesen Entwurf einer Biographie vermag man sich besonders leicht hineinzudenken, da man in jedem Beruf, in jeder Position, auf jeder Stufe seiner Entwicklung diese Leidenschaft für die Gemeinschaft, für die Sache aller aktiv ausleben kann. Und zwar so, daß die Journalisten, Drehbuchschreiber und Biographen nachträglich etwas Interessantes, ja Spektakuläres zu erzählen haben – aber auch so, daß man prospektiv, vor sich eine Vision oder eine Selbsterwartung aufbauen kann.
Dieses Design der Einheit von äußerem Lebensweg und inneren Gemüts- und Geistbewegungen sowie der Einheit von individueller Existenz und öffentlichem Wirken kennzeichnet beispielsweise das Schulmeisterlein Wuz genauso wie den deutschen Heros Fichte oder Pestalozzi oder Raiffeisen, den Dr. Sauerbruch wie den Dirigenten Furtwängler, den Unternehmer Mohn wie den Industriellen Ludwig mit ihren Stiftungsaktivitäten fürs Gemeinwohl.
In gewisser Hinsicht ergibt sich dieses Biographiedesign für ambitionierte Zeitgenossen ganz von selbst; sobald einer so erfolgreich ist, daß niemand mehr glaubt, er verdanke diesen Erfolg ausschließlich eigenen Kräften, wird er für die Allgemeinheit wirken; denn diesen Entschluß verdankt er ganz sich selbst, und er wird ihm zurecht als vollständig eigene Leistung gutgeschrieben. Obwohl dieser Weg in die Überlebensgröße und Nachlebensgröße immer wieder zynisch als Humanitätsduselei madig gemacht wird, ist er der einzige Weg, auf dem Egoismus zum Wohle anderer sich auswirkt; ist er der Weg, individuelle Anerkennung durch Leistung für andere zu erhalten; ist er der Weg, die eigene überlegene Fähigkeit dafür zu nutzen, daß andere ihre Fähigkeiten entwickeln können.
Aus solchen Fähigkeiten der vielen Mitglieder lebt jede Kulturgemeinschaft, also auch jedes Unternehmen, wenn es erfolgreich ist. Deswegen werden zukünftig im sozialen, im politischen, im wirtschaftlichen und im kulturellen Leben vor allem Biographien ambitionierter Menschenbildner und passionierter Gestaltungserotiker auffällig. Eben diese Auffälligkeit wünschen wir Ulrich Löchter, natürlich unter der Voraussetzung, daß wir an seinem Biographiedesign entscheidend mitwirken dürfen. Kein Leben von der Stange, sondern nach Maßgabe seiner Erwartungen an sich selbst und unserer Projektionen auf sein zukünftiges Leben.
Der Entwurf liegt vor. Ulrich Löchter, bitte zur Anprobe!