Buch Lock-Buch Bazon Brock, gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken

Lock-Buch Bazon Brock, gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken, Bild: Titelseite. Gestaltung: Gertrud Nolte.. + 3 Bilder
Lock-Buch Bazon Brock, gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken, Bild: Titelseite. Gestaltung: Gertrud Nolte..

Baustelle. Den Plan des Baus, der nie fertig wird, nennt man Biographie. Inzwischen ist jedermann biographiepflichtig – Selbst bei der Bewerbung um einen Arbeitsplatz hat man vorzulegen, auf welchen Plan des Lebens man sich verpflichtet. Man entwickelt seine Biographie mit Blick auf die Zukunft, auf die Erwartungen hin, die man bei anderen zu wecken versucht. Man nährt diese Erwartungen aufs Kommende durch Hinweise aufs Gewesene, auf die eigenen Werke und Tage.

Aus dem Logbuch wird so ein „Lockbuch“.

Das LOCKBUCH BAZON BROCK schließt einen Lese-Zirkel zwischen Brocks Arbeit als auffälliger Zeitgenosse, als Akteur der Kulturszene seit Ende der 5oer Jahre und den Fragen, die er provoziert. Wie er wurde, was er ist: weder Wissenschaftler noch Künstler, weder Lehrer noch Lenker - eben ein typischer Navigator zwischen schöpferischer Kulturbarbarei und der Ästhetik des Unterlassens.

Lock Buch Bazon Brock.

Präsentiert in Bilderbögen und Textpfeilen
von Helmut Bien, Gertrud Nolte, Anna Steins und Fabian Steinhauer

Erschienen
1999

Autor
Brock, Bazon | Steinhauer, Fabian

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-5436-3

Umfang
240 Seiten mit etwa 200 Abbildungen, 21*29,7cm

Einband
kartoniert

Seite 13 im Original

Deutsche Frauen und Mütter – gern verschwiegenes Personal der Herrschaft des Wahnsinns als Logik

Geschrieben 1981 als SPIEGEL-Essay, anlässlich der Diskussion um die Einstellung von Frauen in die Bundeswehr. Nicht erschienen. – Im Juni 1986 überarbeitet und erweitert in: W. Büttner, G.Herold, A. Oehlen: Können wir vielleicht unsere Mutter wiederhaben! Hamburg 1986.

Ein neuer Erfolg der Frauenemanzipation scheint unaufhaltbar – nicht weil die Frauen sich durchgesetzt hätten, sondern weil sie von den Männern gebraucht werden: Die Armeen unserer Welt bitten die Frauen höflichst, Soldatinnen zu werden. Schließlich anerkenne man die Gleichberechtigung der Geschlechter, ganz entgegen dem schlechten Ruf, in dem gerade martialische Uniformträger allenthalben stünden. Ja, man gebe zu, daß Mangel an Mitarbeitern in den Streitkräften bestehe, gerade jetzt, da es mannschaftsstark und feuerkräftig zu sein gelte. Und selbstverständlich gebe es auch natürliche Unterschiede in Physis und Psyche der Männer und Frauen, weshalb man Frauen auch nur zu den vielfältigen Diensten in Verwaltung und Service einzusetzen gedenke. Und schicke, frauliche Ausgehuniformen seien auch vorgesehen.

Schön wär's, wenn es tatsächlich um diese Plattitüden ginge. Die Gründe für das Interesse der Armeen an Soldatinnen liegen indes ganz woanders: Laut nunmehr auch ganz offen als amtlich vorgetragenen Auffassungen (so auf einer Katastrophen-Mediziner-Tagung von der Bundesanstalt für Katastrophenschutz in Ahrweiler) haben nur bestens trainierte Angehörige von Armeen überhaupt eine nennenswerte Chance, den nächsten Krieg zu überleben. Für Zivilisten ist die Überlebenschance gleich Null, so informierten jetzt Bundeswehrbosse; das sei amtlich und unabänderbar! Was aber nützen die Überlebenden männlichen Armeeangehörigen den Kriegsführern, denn die können sich ja nach dem nächsten Krieg nicht ohne Hilfe von Frauen fortpflanzen. Also braucht man Frauen für die Armeen. Wenn sich erst herumgesprochen haben wird, daß die Armeen im Atomkrieg nicht etwa die Bevölkerung verteidigen, sondern das Überleben der Soldaten sichern, werden auch die Frauen gerne erkennen, welche Chance ihnen mit dem Eintritt in die Armeen geboten wird. Natürlich werden sie dann auch für dieses Privileg zu zahlen haben, denn wieso sollte eine Bevölkerung weiter für Armeen zahlen, die ganz offiziell erklären, daß diese Bevölkerung in einem von ihrer Armee geführten Krieg keine Überlebenschance hat?

Kein Zweifel, daß es genügend Männer und Frauen gibt, die überleben wollen. Also kein Zweifel, daß es genügend Leute geben wird, die für die Zugehörigkeit zu den Armeen jede Summe zu zahlen bereit sind. Herr Wörner und die Bürgervertreter wären die dauernden Geldforderungen der Militärs los, wenn sie endlich Mitgliedsbeiträge im Überlebensverein erhöben, anstatt den Soldaten zu ihrem Überlebensprivileg auch noch Besoldung zu gewähren. – Bei aller Radikalisierung der Situation durch die Atombewaffnung: Daß man Kriege nicht ohne aktivste Mithilfe von Frauen führen kann, sollten doch alle wissen, sollten möglichst bald alle diejenigen Frauen wissen, die ihre gesellschaftliche Ungleichheit gern zur Stützung der Behauptung benutzen, daß sie an den schmutzigen Geschäften der Waffen keinen Anteil gehabt hätten oder haben. Nicht nur aus mythischen Zeiten sollten wir das wissen, in denen bekanntlich die Frauen kampfunwillige Männer mit entblößtem Hintern wieder an die Front jagten. Auch Hitler hätte die Männer nicht in solchen Massen an die Fronten schicken können, wenn nicht die Frauen an der Heimatfront Waffenproduktion und Versorgung, Verkehr und Verwaltung, medizinische Dienste und Landwirtschaft aufrechterhalten hätten.

Ja, die Heimatfront der Frauen hat vor allem in den letzten Jahren des Krieges mehr geleistet als die ordensdekorierten Helden, die sich heute noch auf ihre soldatischen Taten so viel zugutehalten, zumal diese Frauen eben nicht dafür ausgebildet waren, in verwüsteten Städten zu überleben, wochenlange Trecks durchzustehen und mit Tausenden von Toten konfrontiert zu werden, ohne psychisch zusammenzubrechen; das zu ertragen stellte ja Himmler als höchst rühmenswerte Fähigkeit seiner harten Männer dar. Angesichts solcher Taten, die besonderen Belastungen der Soldaten zu reklamieren, die darin bestünden, daß sie mit Schweißfußkameraden in einem Zimmer nächtigen mußten, zeigt die besondere Überlegenheit der Helden, wie der Ex-Bundeswehrgeneral Steinhoff einer ist, der eben jene Fußschweißzumutung kürzlich aussprach. (In einer bundesweit übertragenen TV-Diskussion über die Vereidigungsfeiern, November 1980.) Trotz dieser von Steinhoff reklamierten Belastung der Soldaten: Die Bundeswehr ist inzwischen ein Club für Überlebensprivilegierte und sonst nichts weiter. Wann wird man das endlich zu akzeptieren bereit sein?

Ja, leider, viele Helden sind die gleichen geblieben seit dem letzten Kriege, die Frauen auch? Gleichgeblieben heißt wohl stets, gleich ignorant geblieben. Den Helden fiel das leicht, hatte doch schon Dr. Goebbels ihnen eingetrichtert, daß es nicht darauf ankomme, ob Völker Kriege gewinnen, sondern darauf, wie sie verlorene Kriege zu tragen bereit sind. Und die Frauen, worauf wollen sie ihren Anspruch gründen, sich gleichbleiben zu dürfen? Auf ihre Mutterrolle? Kinderkriegen ist selbst bei ehemaligen 68ern wieder Lebenswunsch – weil man doch nichts Bedeutsameres als Kinderkriegen zu bewirken vermag?

Die deutschen Mütter, ja, die guten Mütter. Wenn denn Staat und Führer schon einmal zugestehen müssen, daß es tatsächlich Leid in der Welt gibt, den tiefsten und untröstlichsten Schmerz, dann beschwören sie gern eine im abendlichen Halbdämmer sitzende Mutter, die Hände still gefaltet, die Augen vor Gram tränenleer, vor Gram über den Tod der Söhne, die ein unbarmherziges Geschick ihr auf den Schlachtfeldern genommen habe. Offensichtlich sollen derartige Beschwörungen die Mütter trösten, indem sie sie vergessen lassen, welchen Anteil Mütter selbst an Kriegsbegeisterung und Heldenverehrung, an Unterwerfungsbereitschaft und Opferrausch hatten. Wer etwa alte Photos und Filme, Augenzeugenberichte und Dokumente zur Mobilmachung von 1914 oder zu den Siegesfeiern nach dem Frankreichfeldzug 1940 zur Kenntnis nimmt, wird zumindest doch sehr skeptisch dem vielfach erklärten Selbstverständnis deutscher Frauen und Mütter gegenüber, die sich als Opfer einer unmenschlichen Politik sehen, die ihnen ihre Söhne entrissen habe; skeptisch gegen die reklamierte Rolle der Mütter als Bewahrerinnen des Lebens, denen die Liebe zu ihren Kindern unabdingbar sei, weil sie sie unter Schmerzen und Lebensgefahr geboren haben.

Es gibt bisher nur wenige Darstellungen der Rollen, die Frauen und Mütter beim Aufbau und der Durchsetzung jener Politik gespielt haben, als deren Opfer sie sich häufig beklagen und gern beklagen lassen. Eine der scharfsinnigsten Analysen dazu bot Joachim Fest in seiner bis heute unübertroffenen Untersuchung Das Gesicht des Dritten Reiches von 1963. Fest betont nicht so sehr die offiziösen und offiziellen Ideologien der Führer des Dritten Reiches, die den Massen unpolitischer Frauen aufgezwungen worden wären. Vielmehr arbeitet Fest die Strategien heraus, mit denen Hitler den Führerkult etablierte – und diese Strategien waren zu ganz erheblichem Teil auf die Eroberung der Frauen ausgerichtet. Schon in der Frühzeit der NS-Bewegung hatte Pressechef Dietrich Eckart erklärt: Der Führer muß ein Junggeselle sein, dann kriegen wir die Weiber. Hitler bekannte in späteren Rückblicken, daß er nicht habe heiraten können, weil die Frauen bei den Wahlen ausschlaggebend gewesen seien. Mütterliche Freundinnen trugen Hitler in seinen frühen Krisen; sie erkannten in ihm als erste den kommenden Messias, wie Gräfin Reventlow es formulierte. Hitlers erklärte Absicht, das weibliche Gemüt anzusprechen, den Geschmack der Frauen zu treffen, anstatt ihnen politische Programme aufzunötigen, wurde und wird ja auch von bundesrepublikanischen Politikern gern aufgegriffen, auch wenn diese Herren nicht Junggesellen waren oder sind. Weil auch sie wissen, daß Frauen bei den Wahlen ausschlaggebend waren oder sind?

Was will das Gemüt der so angesprochenen Frauen, was ist ihr Geschmack? Sie wollen Heilige sein, zumindest Gebärerinnen von Titanen und Helden. Daß die deutschen Frauen zu großen Teilen geschmeichelt waren, als man das Mutterkreuz einführte, weil die Gebärstube offiziell mit dem Schlachtfeld gleichgesetzt wurde, kann man verstehen. Per Verordnung in den Genuß zu kommen, von jedem Jugendlichen voller Ehrfurcht gegrüßt werden zu müssen, ist schon erhebend. Aber darüber hinaus bekannte Hitler seinen deutschen Mädeln und Frauen, daß alle NS-Politik in ihrem Interesse betrieben werde. Er deklamierte, daß der Nationalsozialismus Männer erziehe für die deutschen Frauen: wirkliche Männer: angesichts der Kolonnen marschierender Männer kann die Frau sagen, es ist wieder lohnend für eine Frau – ja was? – eine Frau zu sein.
Wieder Frau zu sein, heißt, angestammte Vorurteile selbstbewußt als ewige Wahrheiten zu vertreten. Das Bornierteste dieser Vorurteile ist wohl darin zu sehen, daß Frauen angeblich vom Gefühl wesensmäßig bestimmt würden und die Männer hingegen vom Verstand.

Gefühle aber, so sagte Hitler immer wieder, sind viel stabiler als der Verstand, als die wissenschaftlichen Kalküle, die doch immer nur zu dem Ergebnis führten, das, was man eigentlich wolle, lasse sich nicht realisieren. Gefühl ist das stabilste Element, Liebe und Haß sind fester als Berechnungen; Gefühle dauern unwandelbar. Der Verstand erzwingt immer bloß Wechsel und Veränderung, behauptete er. Das ist der Kern der Sache, für den wir uns gegenwärtig wieder interessieren müssen. Um die Emanzipation von der Emanzipation (so NS-Rosenberg) als Forderung durchzusetzen und das Ewig-Unbewußte, die Grundlage aller Kultur vor dem Untergang zu retten, müssen Verstand und Gefühl der Menschen gegeneinander ausgespielt werden. Damit wird jedes Lernen verhindert; die Frauen werden zu großhirnlosen Gefühlsbomben stilisiert, die Männer zu eiskalten Vollzugsmaschinen der Gefühlsbefehle – höherer, unerklärlicher Befehle, Befehle, sich zu opfern, das Opfer des Lebens als dessen Erfüllung anzusehen, wie es der erste Messias demonstriert habe. Dessen Mutter hatte noch geweint und geklagt? Hitler vertrat die Auffassung, daß die gefühlsstarken deutschen Frauen keinen Augenblick zögern würden, ihre Söhne den Befehlen des Führers zu opfern, ohne eine Träne, wie er betonte.

Und schwer ist bestreitbar, daß Hitler diese Frauen kannte. Die Feier des Geburtstags der Mutter unseres Führers am 12. August ist mehr als zufälliger Anklang an den Marienkult. Sie eröffnete den Heldengebärerinnen die Möglichkeit, durch das bedenkenlose Opfer ihrer Söhne einer Gottesmutter ähnlich zu werden. Eine unüberbietbare Bestätigung des Glaubens durch das Opfer: Wenn mein Sohn als Held stirbt, werde ich Priesterin, ja Göttin. So versteht sich der Appell der Reichsfrauenführerin des BDM Scholz-Kling an die Frauen, ein Reich deutscher Nation in Herrlichkeit und Ewigkeit, in Ehre, Gerechtigkeit und Freiheit aufzubauen, in diesem messianischen und marianischen Sinne. Freiwillig und bedingungslos verpflichten sich die deutschen Frauen und Mütter (laut Scholz-Kling) zum harten Weg des Opfers. Hitler und alle Seinesgleichen haben in aller Deutlichkeit immer wieder gesagt, daß sie von den Söhnen nichts anderes erwarteten als die Bereitschaft zum Tode. Jede Mutter hat das gehört und nicht nur einmal, wenn sie auch dankbar war, die schlimmen Wege zum Tode nicht kennen zu müssen, weil Hitler ihr versprochen hatte, daß er alle Frauen und Mütter davor bewahren werde, so etwas Unnatürliches sehen zu müssen. Während die deutschen Frauen ihre Söhne opferten, um zu Müttern des Messias Hitler zu werden, betätigten sich die NS-Chargen als Vollstrecker dieser frommen Wünsche. Die Hölle ist nichts anderes als ein realisiertes Himmelreich der Heldenmütter. Des Teufels Großmutter war eine Mutter, die ihre Söhne opferte, um Göttin zu werden. 

Die jüdische, intellektuell höchst anspruchsvolle Religion, die sich strikt gegen jede Heilserfüllung durch Menschen wandte, hätte tatsächlich den Deutschen ihren Messias geraubt, indem sie ihn als gottlosen Popanz erscheinen ließ, der er ja wie alle Menschen mit solchen von Müttern hochstilisierten Ambitionen auch nur sein konnte. Hitler in uns? Jawohl, wir sind Popanze. Aber die Hitler-Mutter in jeder Frau? Das ist die Finsternis des Ewig-Weiblichen in der man uns gerade wieder mit Hilfe der Frauen Plätze einzuräumen versucht. Immer noch bemühen sie das mütterliche Wesen der Frau, Wahrerin des Lebens zu sein. Dazu paßt nun allerdings auch die Frau in der Armee; denn nur dort kann sie einigermaßen aussichtsreich nach dem Atomkrieg fortzeugend Leben gewähren. Bis es soweit ist, bewährt sich das Wesen der Frau als Mutter in seinen stabilen Gefühlen gegen rote, schwarze und gelbe Horden, vor denen unsere reinen Mütter zu verteidigen nicht länger blasphemischer Wahn, sondern Heldenpflicht der guten Söhne ist.

In der westlichen Welt der Reinen und Guten, vor allem in den USA ist es wieder die tödlichste Beleidigung für einen Mann, seine Mutter nicht als potentielle Heilige zu akzeptieren. Mit Verweis auf deren Reinheit rechtfertigen moralische Ligen gegenwärtig ihre Forderungen, endlich den vom Vietnam-Desaster ausgelösten Selbstzweifel der Amerikaner zu überwinden. Das ist nur zu schaffen mit einer opfersüchtigen, glaubensstarren Gefühlsherrlichkeit der Mütter, denn der Verstand sagt ja in jedem Kalkül, daß wir nicht länger die Zerstörung unserer Lebenswelt als deren Verteidigung ausgeben dürfen: Schon die totale Verteidigungsbereitschaft zerstört das, was es zu verteidigen gilt. Diesen Wahnsinn zu ertragen, befähigt offenbar nur die neuerliche Beschwörung der ewigweiblichen Gefühle: Als einziger Basis der Rechtfertigung für eine Aufrüstungspolitik, durch die Männer Helden und Frauen Mütter bleiben dürfen; durch welche die Männer sich als Wissenschaftler, Techniker und Politiker weiterhin der Selbstvergötzung als rationale Wesen hingeben dürfen. So feiern die Frauen sich als Unschuldige, die auch noch zu bedauern seien, weil sie sich nur in ihren Söhnen selbst verwirklichen dürfen.

Wer unseren gloriosen Wissenschaftlern auch nur nahelegt, daß es mit der angeblichen Rationalität ihrer wissenschaftlichen Handlungen nicht weit her sein könne, wird als gefühlsseliger Schwafler abgetan. Wer den wahlentscheidenden Frauen zu verstehen gibt, daß ihre heroischen Muttergefühle kaum mehr als Propagandakitsch sein dürften, wird als kalter rationalistischer Chauvi des Bettes verwiesen. Der neue Judaismus heißt Geschlechterkampf, die hitlerische Vorsehung nennen wir Systemzwang, und die Wiederkunft des Messias erfüllte sich für den amerikanischen Innenminister Watts als das endgültige atomare Selbstopfer der Menschheit, so berichtete der Spiegel. Gibt es da noch Hoffnung? Am ehesten wohl dadurch, daß Frauen sich mit allen Mitteln dagegen zur Wehr setzen, diese ihnen heute wieder anempfohlene Rolle zu übernehmen. Sie hätten für diese Gegenwehr keine Macht? Trickreiche Ausreden, um sich für unschuldig halten zu dürfen. Die Mehrheit der Aktienpakete der westlichen Welt befindet sich seit Jahrzehnten im Besitz von Frauen. Überwiegend Frauen entscheiden durch ihre Käufe täglich über die Machtverteilung im Konsumbereich. Sie haben also entscheidende Machtmittel, warum nutzen sie sie nicht?

Viele heilbringende Helden rufen ihre Frauen nach wie vor Mutti, weil sie nur so Engelbert Bubers Feststellungen bestätigt finden, daß die Erhebung und politische Erstarkung ein männliches Ereignis sei. Erektionen aller Art sind Männersache, aber in Muttis unschuldigen Händen. Daß diese Hände weder politisch unschuldig noch von Chauvis gefesselt waren und sind, sollten mehr Frauen als bisher zu erkennen bereit sein. Verlangt ist das Bekenntnis der sündhaften Schuld gerade der Mütter, damit die heldischen Heilsbringer nicht doch noch die letzte Atomrakete hochkriegen, um das Leben durch dessen Zerstörung zu verteidigen.

Die Probe aufs Exempel

Vorausgesetzt, an diesen allgemeinen Behauptungen sei zumindest so viel Wahres wie an allen allgemeinen Behauptungen: Die Probe aufs Exempel bleibt der konkrete Einzelfall, in diesem Zusammenhang also die eigene Mutter. Sie war die Tochter eines Lehrers, der als Dorfguru in mondverglasten Nächten übers Wasser ging, um Krebsreusen abzuernten. Sie hatte die höhere Frauenfachschule mit dem Abitur abgeschlossen; sie wollte sich an den Kliniken in Stolp und Danzig für einen Heilberuf ausbliden lassen. Bevor es zum Abschluss der Ausbildung kam, lernte sie auf einer Wochenendtour durch den Korridor nach Danzig den Freund ihres Freundes näher kennen. Ihr Freund hatte seinen Pass vergessen und mußte an der Korridorgrenze zurückbleiben. Der Freund des Freundes nutzte offensichtlich die Gelegenheit, mein Vater zu werden; sie heirateten sofort. Er war der älteste von drei Söhnen des imposanten Patriarchen Hermann Brock, der bei Lauenburg in Pommern die für die Region beachtlichen Brockschen Brotfabrik, Mühlenbetriebe und Landhandlungen aufgebaut hatte, aber schon früh den Folgen seines exzessiven Lebens erlegen war. – Jetzt führten die Söhne als junge Männer das Unternehmen; die junge Frau, die meine Mutter wurde, verkraftete offenbar den Wechsel in ihren Lebensperspektiven nur durch extrem gesteigerte Aktivität, mit der sie sich am Unternehmen ihres Mannes beteiligte. Sie gebar vier Kinder lebend, wofür sie das Mutterkreuz erhielt; daß sie es getragen hätte, kann ich mich nicht entsinnen.

Die Kinder wuchsen in der Obhut von Kindermädchen auf; die erzieherische Autorität ging für sie von Tante Lieschen aus, der einzigen und unverheirateten Tochter des alten Patriarchen.
Bis zu den Tagen der Flucht ist mir meine Mutter vor allem dadurch erinnerlich, daß sie meinen Unternehmungsgeist stützte. Wenn ich die Kinder jener Familien, die der Hermann Brockschen Brotfabrik mehr oder weniger zugeordnet waren, zur Vorführung von Märchenfilmen und der deutschen Kulturbilder des Hamburger Zigarettenbilderdienstes befahl, steckte sie den Kindern die Pfennige zu, die ich von ihnen als Eintrittsgeld verlangte. Zur Vorführung erschien sie regelmäßig mit riesigen Schüsseln schneeweißer Baisers, meines Lieblingsgebäcks. Das Knirschen und Knautschen beim Verzehr dieser schaumigen Felsen und erstarrten Wolken störte meinen Vortrag, weshalb ich meine Mutter bat, den Kindern beizubringen, wie man das Gebäck ohne störende Nebengeräusche essen konnte.

Bei solchen Gelegenheiten entwickelte ich zum ersten Mal einen gewissen Widerwillen gegen die erzieherische Maxime meiner Mutter: Nur bitte keinen Streit; man schlägt sich nicht, man diskutiert. Auch viele Jahre später noch erschien es meinem Bruder und mir sinnvoller, die Anerkennung anderer Kinder und Jugendlicher zu erwerben und sich gegen sie durchzusetzen, indem man auf ihrer Ebene handfeste Auseinandersetzungen einging. Es war uns höchst peinlich, wenn bei solchen Gelegenheiten die Mutter intervenierte. Erst auf dem Gymnasium erschien uns ihre Aufforderung zu diskutieren anstatt zu schlagen sinnvoll, denn dort war die Diskussion das offizielle und weitgehend ritualisierte Verfahren, Meinungsverschiedenheiten auszutragen; dort erst konnte man sich diskutierend durchsetzen, um anerkannt zu werden. Auch meinem Vater gegenüber scheint sie den beständigen Appell zur Harmonie ins Spiel gebracht zu haben. Er gehörte dem sozialrevolutionären Strasser-Flügel der NSDAP an. Diese Gruppierung hatte schon lange vor dem Röhmmord untertauchen müssen; solche Erfahrung hat meinen Vater wahrscheinlich dazu befähigt, dem beständigen Appell zur Harmonie Folge zu leisten. Ich habe ihn mir erst erziehen müssen, behauptete meine Mutter.

Die andere Erinnerung an meine Mutter vor der Flucht ist auf ihre Rolle als Weihnachtsfee gerichtet. Wie alle Kinder waren auch wir davon überzeugt, daß unsere Art, Weihnachten zu feiern, unüberbietbar beeindruckend, ja herrlich gewesen ist. Wir feierten nicht allein; im Parterre des Hauses meiner Großmutter versammelten sich die vielen Mitglieder des Haushaltes, zu denen dann auch noch zahlreiche Angestellte und Arbeiter der Firma kamen. Ich schrieb selbstverständlich meiner Mutter das Verdienst an der feierlichen Erfüllung des Weihnachtsversprechens zu; vor allem wie sie den großen Weihnachtsbaum schmückte und das Festritual dirigierte, schien mir der Inbegriff künstlerischer Vollendung weit jenseits dessen, was andere zu bieten hatten, zu sein. Harmoniegebot und Weihnachtseuphorie! Sind das nicht die tragenden Größen des Lebens in jeder deutschen Familie jener Zeit gewesen? Merkwürdig unvermittelt, ja unwirklich überlagerten die Stimmen des offiziellen Deutschlands jener Jahre das private Leben. Wir hörten die Bekanntmachungen des Oberkommandos der Wehrmacht, als seien wir von ihnen nicht betroffen. Ich entsinne mich, daß einer der Fahrer unserer Brotwagen Herr Süß hieß. Ihn begleitete ich mit Vorliebe auf seinen Lieferfahrten. Eines Tages war er nicht mehr da. Ich kann mich nicht erinnern, für sein Verschwinden irgendeine Begründung gehört zu haben.

Wegen der Produktionskapazität der Brotfabrik belieferten wir auch große Lager. Ich weiß nicht, aus welchem Zufall ich von meiner Mutter eines Tages in eines dieser Lager mitgenommen wurde. Noch heute sticht mir der Karbolineumanstrich der Baracken der Wachmannschaften in der Nase. Das Holz der Barackenwände und Laufstege strahlte unerträglich intensiv die Sommerhitze ab. Hat man mir gesagt, wohin ich damals mitgenommen worden war; habe ich gefragt? Ich weiß es nicht. Heute weiß ich, wo ich war. Harmoniegebot, Weihnachtseuphorie, Stillschweigen oder Fraglosigkeit vor dem, was dem Leben einen Ort und eine historische Dimension gab; aber es schwiegen ja nicht nur die Mütter. Mein Vater und seine Brüder waren nicht zum Militär eingezogen worden, weil die Betriebe für die Versorgung der Bevölkerung und des Militärs gebraucht wurden. Was sie über ihre Rolle dachten, wie sie mit ihr fertig wurden, in welche Konflikte sie gerieten, und wie diese Konflikte in der Familie ausgetragen wurden, habe ich nicht erfahren.

Mein Vater wurde von der roten Armee liquidiert; sein jüngerer Bruder ist in den letzten Kriegstagen verschollen; der andere Bruder hat mit uns nach dem Krieg niemals über die Vorgänge gesprochen. Was dachte die Mutter? Ich habe mich stets gescheut, sie danach zu fragen. Vor ihren Leistungen, ihre vier Kinder wochenlang in der Hauptkampflinie von Neufahrwasser und Oliva am Leben erhalten zu haben, schien mir jede Frage wie eine Blasphemie. Mir ist genau erinnerlich, mit welchem Heldenmut sie die anderen Ortes aktenkundigen Situationen dieser Tage durchgestanden hat. Und diese Tage sind nicht mit der abenteuerlichen Flucht während der letzten Kriegsphase über die Ostsee nach Dänemark zu Ende. Während der zweijährigen Lagerhaft starben, von ihr getrennt, ihre beiden jüngsten Kinder. Hat es ihr geholfen, daß fast alle Kinder unter vier Jahren in diesen Lagern starben? Hat sie sich über die langsam durchsickernden Nachrichten vom desaströsen Schicksal vieler Familienmitglieder mit einer wohltuenden Ausblendung des Bewußtseins hinweggerettet? Anders jedenfalls kann ich bis heute nicht verstehen, wie meine Mutter und die Hunderttausend anderen die ganz und gar unvorstellbaren Zumutungen des Lebens haben durchstehen können.

Harmoniegebot, Weihnachtseuphorie, Stillschweigen, Fraglosigkeit und die Ausblendung des Bewußtseins; Tugenden der deutschen Mütter; Tugenden von Helden, denn das waren sie noch viele Jahre über das Ende des Krieges, der Flucht und des Lagerlebens hinaus, ja eigentlich bis zum Ende ihres Lebens. Für sie gab es nie wieder ein gewöhnliches, bürgerliches, friedfertiges Leben. Wo sich auch nur die Chance zur Rückkehr ins Selbstverständliche ergab, verhinderten wir das, mein Bruder und ich, mit unglaublicher Rücksichtslosigkeit. Eines Tages stellte sich, wie von ungefähr, jener erste Freund meiner Mutter wieder ein. Wir ahnten, was er wollte, und sabotierten die Beziehung mit unverfrorenen Drohungen. Wir muteten der krankgeschufteten Mutter zu, nicht vergessen zu dürfen, was in den voraufgegangenen Jahren passiert war. Wir bestanden darauf, daß sie ihr Leben niemals mehr über das hinaus entwickeln dürfe, was wir erlebt und erfahren haben. Die Toten, vor allem den toten Vater, sollte sie, wie wir meinten, durch das Opfer ihres Lebens ehren. Sie hat sich dieser unmenschlichen Forderung gebeugt; denn die Harmonie mit ihren überlebenden Kindern und den anderen Überlebenden der Familie blieb ihr Gebot.

Auch in Weihnachtseuphorie hat sie uns wieder versetzt; aber sie hat uns auch darauf verpflichtet, niemals stillzuhalten und fraglos zu verharren. So verbleibe ich in Harmonie mit ihr, wenn ich mich frage, welche Rolle die deutschen Frauen und Mütter in der ja immer noch nicht beendeten Herrschaft des Wahnsinns als Logik gespielt haben und weiterhin spielen. Ich bleibe Delegierter meiner Mutter im Kampf gegen die Herrschaft der Logik als Wahnsinn. Es ist abzusehen, daß ich bald reichlich Gelegenheit erhalten werde, mich vor ihrem bewähren: einer Heldin der Lebensfront gegen die Heldendarsteller mit Lamettabesatz und Todesglorie.

siehe auch: