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Einleitung - 1 Musealisiert Euch!
Europas Zukunft als Museum der Welt. „Ein Lustmarsch durchs Theoriegelände“
In elf der bedeutendsten Museen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz trainierte Bazon Brock 2006 die Teilnehmer des Lustmarschs durchs Theoriegelände für die Zukunft der Europäer in der Totalglobalisierung. Wir haben viel zu lernen, um demnächst den Hunderten von Millionen chinesischen, indischen und arabischen Touristen als interessantes Ferienerlebnis dienen zu können. Europas Errungenschaften wie Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat, Säkularisierung, Würde des einzelnen Menschen, Freiheit der Wissenschaften und Künste werden künftig kaum eine Rolle in der Welt spielen. Wir hielten uns für die Sieger der Geschichte und müssen jetzt fürchten, aus der Geschichte zu verschwinden. Gegen den Schrecken dieser Einsicht hilft eine kleine Einübung in das etruskische Lächeln, welches Einverständnis mit dem eigenen Schicksal signalisiert.
Wem das nicht reicht, der muß sich behaupten lernen, aber nicht aus dem Allmachtsgefühl technischer, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Überlegenheit wie bisher, sondern aus der Ohnmachtserfahrung der Europäer als kleiner gefährdeter Art im Menschenzoo. Wer's nicht glaubt, wird dran glauben. Deshalb gilt es, sich rechtzeitig auf diese Zukunft vorzubereiten: Macht Euch fit, um als Museum der Welt ansehenswürdig zu werden. Musealisiert Euch! Denn Musealisierung ist die einzig aussichtsreiche Form der Zivilisierung von Kulturen im Vormachtstreben.
Wem die Stunde geschlagen hat: Europe fades away.
Noch ein Untergang des Abendlandes?
Mit mokantem Lächeln und dem expliziten Vorwurf, man leide unter Verfolgungswahn, weisen die scheinbar Aufgeklärten jedes Eingeständnis zurück, daß mit der Vormachtstellung Europas in der Geschichte der Moderne endgültig Schluß ist. Diese Leugnung entspringt nicht angstfreier Souveränitätsbehauptung. Sie ist Weigerung gegenüber der Einsicht in die zukünftige Nichtigkeit der eigenen Position.
Gegenwärtig ist für jeden halbwegs Orientierten unübersehbar, daß die Europäer nicht zur Kenntnis nehmen wollen, wie Rußland, China und Indien ihnen längst den Rang abgelaufen haben. Dies geschieht entweder aus imperialistischem Dünkel durch die Erfahrung bisheriger wissenschaftlich-technischer Überlegenheit oder aus Allmachtsphantasien, die Führung des Menschheitsfortschritts seit Jahrhunderten übernommen zu haben und auch in Zukunft behalten zu können. Sich beim großen Bruder USA mit Machtbewußtsein aufzutanken, ist nach dem Desaster des imperium americanum nicht mehr möglich. Auf den Wirtschafts- und Finanzweltseiten der großen Tageszeitungen, wo die Fakten zur Beschleunigung des europäischen Abstiegs aus der Weltführung unübersehbar geboten werden, verlegt man sich aufs Herabspielen und Verleugnen. „Das Leben ist nun einmal nicht gerecht“, heißt es sogar in Chefkommentaren zur Zerstörung europäischer Lebens- und Wirtschaftsformen. Spätestens seit Sigmund Freud weiß man, welche katastrophalen Folgen derartiger Umgang mit Kränkungen von Selbstbewußtsein zeitigt. Kränkungen gesteht man nicht gern ein, da sie als Zeichen der Verwundbarkeit und der Schwäche verstanden werden müssen respektive als mangelnde Souveränität oder mangelnde soziale Kompetenz. Also versucht man, die bedrohenden Kränkungen zu verdrängen, zu leugnen oder sie ins Gegenteil zu verkehren. Schwache Charaktere verstehen meisterlich, die unverhüllten, wenig subtilen Kränkungen noch als Ausdruck intensiven Interesses an der eigenen Person umzudeuten. Das gilt nicht nur für das Individuum, sondern auch für Kollektive wie die der Standespolitiker, Parlamentsfraktionen, Unternehmerverbände und ganze Fakultäten. Dabei haben die Europäer schon einige Male mit solchen Verleugnungen der Realitäten Erfahrungen machen können:
I. mit der Kopernikanischen Kränkung, also der zugemuteten Einsicht, daß nicht die Erde im Mittelpunkt der von Gott geschaffenen Welt stehe, tut sich die Kirche bis in die Gegenwart schwer (Galileo wurde erst am 2.11.1992 offiziell rehabilitiert);
II. mit der Darwin'schen Kränkung, derzufolge man nicht anerkennen wollte, daß der Mensch, wie alles andere Leben auf Erden, ein Produkt der Evolution sei; diese Kränkung verleitet gegenwärtig auch die angeblich so hoch zivilisierte westliche Welt zu wissenschaftlich verbrämten Ideologien, die als Lehre vom „intelligenten Design“ sogar Lehrbuchstatus erhalten haben;
III. mit der Einstein'schen Kränkung, daß Raum und Zeit keine absoluten, konstanten Größen sind, sondern sich jeweils mit Beziehung auf den mit ihnen rechnenden Beobachter wandeln: man versuchte, diese Kränkung abzuschwächen durch karikierende Pointen wie die, alles sei eben relativ, also auch die Einstein'sche Erkenntnis;
IV. mit der gegenwärtig am intensivsten erfahrenen Kränkung unseres bürgerlichen Selbstbewußtseins durch Neurowissenschaftler. Sie bestreiten, daß Menschen souverän und verantwortlich über die Funktionen ihres Weltbildapparates namens Gehirn verfügen können. Diese gut begründete Vermutung scheint so inakzeptabel zu sein, daß man sie durch willkürliche Ableitungen von Konsequenzen ins Absurde überführt. Die Strafmündigkeit, die Verantwortung des normal funktionstüchtigen Täters für seine Taten, wird durch die Untersuchungen der Neurophysiologen nur dann berührt, wenn man ein Interesse hat, das Prinzip der Verantwortung außer Kraft zu setzen. Das scheint bei vielen Parlamentariern, Unternehmern, Bankern und Börsen-Vabanque-Spielern der Fall zu sein. Sie stecken in einem Dilemma: Entweder erkennen sie an, daß mit ihrer Planungs- und Steuerungsmacht kaum etwas zu erreichen ist – dann dürfte aber niemand mehr bereit sein, ihnen für diese Tätigkeiten horrende Einkommen zuzugestehen – oder sie akzeptieren ihre Macht, dann müßten viele von ihnen aufgrund der Verantwortung für ihr Versagen allerdings schleunigst ihrer Funktion enthoben werden, um nicht noch größeren Schaden anzurichten. So liest man denn, an der mutwillig eingegangenen und mit der Intelligenz von Kriminellen ausgeklügelten Vermarktung von Hypotheken – die sich erwartungsgemäß als heiße Luft erwies – sei die Hypothekenkrise Schuld; die Banken und ihre Herren seien selbst arme Opfer der Krise geworden. (1) Herzlichen Dank, Professor Singer! (2)
Kein Zweifel, der Westen wird durch seinen Allmachtswahn liquidiert (und nicht etwa durch den bösen Islamismus), der nach dem Untergang der UdSSR als sichtbares Zeichen des vermeintlichen Triumphs des Westens über den Osten die Wirtschafts- und Finanzbosse, aber auch viele Politiker höchster Funktionsränge ergriff. 1989/1991 schied der Westen aus der Weltgeschichte aus und nicht etwa die historischen Monster Kommunismus und Dritte Welt. Der Wahn nannte sich „Globalisierung“, also Ausbreitung der westlichen Allmachtsphantasien auf die ganze Welt. Ohne Beschränkung durch eine Gegenmacht, ohne Kontrolle an der Wirklichkeit, ohne das Gegengewicht des sozialistischen Lagers entartete die Westideologie zum Neoliberalismus, der ganz und gar wahnhaft ist, weil zum Beispiel der Markt die Bedingungen seines eigenen Funktionierens nicht selber schaffen kann. (Böckenförde-Diktum). Zu diesen Bedingungen gehört zum Beispiel das Vorhandensein eines Rechtssystems. Das aber kann der Markt nicht selber hervorbringen, ebenso wenig wie viele andere Steuerungsinstrumente für sein Funktionieren – erst recht kann er sie nicht selber durchsetzen. Der bedingungslos freie Markt, der angeblich alles reguliert, ist eine Wahnidee, deren zerstörerische Auswirkung diejenige der Planwirtschaft weit übertreffen dürfte.
Das wäre eine der möglichen Bewertungen; eine zweite führte womöglich zu einem noch peinlicheren Effekt des sozialpsychologisch deutbaren Polit-Sadomasochismus (sms – short mess service): zur Anerkenntnis nämlich, daß die 68er die erfolgreichste Generation aller historischen Zeiten gewesen sind; und wer wollte das schon akzeptieren bei willkürlich sich zusammenrottenden wohlstandsverwahrlosten Kindern, utopiesüchtigen Sozialphantasten und Pornographieliebhabern. Was wollten diese Klamaukbrüder? Ihresgleichen wünschten, ob sie Amerikaner, Holländer, Franzosen oder Deutsche waren, den möglichst radikalen Niedergang der US-amerikanischen Vormachtstellung, den Sieg der Russen im Ost-West-Konflikt und den Sieg der Maoisten im Kulturkampf gegen verstockte Konservative, die Befreiung der Dritten Welt sowie den Sieg der Afrikaner über den weißen Rassismus. Das war Wunschgebet und Stoßziel aller 68er – und was ist dabei herausgekommen? Vierzig Jahre später ist der amerikanische Führungsanspruch in der Welt völlig desavouiert; Rußland und China gelten ohne jeden Zweifel als die einflußreichsten Großmächte der Zukunft; die Dritte Welt entdeckte den Islam zwischen Malaysia/Indonesien und Algerien/Marokko als die sie gemeinsam bestimmende Kraft, der sich längst Europa und USA anempfohlen haben; und die afrikanische Urmutter der Menschheit konnte sich offiziell mit der Kennzeichnung der Schwarzen in den USA als afrikanische Amerikaner politisch korrekte Geltung verschaffen. Welch ein Triumph für die 68er, selbst wenn sie nichts zur Verwirklichung ihrer Vision beigetragen haben, sondern diese von den Herren der Globalisierung in den Schoß gelegt bekamen. Ja, gerade deshalb könnte man die 68er glattweg als von Gott begnadet ansehen, denn was außer der göttlichen Gnade ermöglicht die Erfüllung auch der absurdesten Kinderträume, die ja bekanntlich durch den märchenhaften Horror ausgedrückt werden.
Wenn das unsere Zukunft bestimmt, was selbst die 68er nur zu wünschen wagten, ohne mit dessen weltpolitischer Durchsetzung zu rechnen, dann versuchen wir, uns auf diese Zukunft vorzubereiten und zu deren produktiver Bewältigung beizutragen mit der nachfolgenden Dokumentation des „Lustmarsches durchs Theoriegelände“, der 2006 unter dem Generaltitel „Eine schwere Entdeutschung“ in elf Zivilisationsagenturen, genannt Museen, Archive, Theater, Universitäten, Galerien, absolviert wurde.
Am Ende stand der Appell: „Musealisiert Euch!“ Er ist die kürzeste Zusammenfassung des Ergebnisses einer gelungenen schweren Entdeutschung. (3) Die Vermarktungsstrategen von Attitüden des Modernismus, des Fortschrittsgetues haben alles daran gesetzt, den Begriff der Musealisierung abzuwerten und zum bloßen Aufbewahren von bedeutungslos, veraltet, unbrauchbar gewordenem Gerümpel umzudeklarieren. Historisch wie systematisch gesehen, kennzeichnet aber Musealisierung weiß Gott keine omahafte oder Künstlern eigentümliche Marotte. Darauf verwiesen im Badischen Landesmuseum Karlsruhe Bazon Brock, Peter Sloterdijk und Peter Weibel, als sie am 24. November 2007 Mustafa Kemal Pascha, den Gründervater der modernen Türkei, zum Beispielgeber für das Programm „Musealisierung als Strategie der Zivilisierung“ erhoben. Denn am 24. November 1934 erließ Atatürk ein Dekret, auf Grund dessen dem Kultur- und Religionskampf zwischen dem islamischen Südosten Europas und dem christlichen Westen eine neue, einzig zukunftweisende Richtung gegeben wurde. Atatürk verordnete die Umwandlung der großen Moschee von Istanbul in ein Museum. Diese Moschee war von den Zeiten ihres Erbauers Kaiser Justinian an bis 1453, bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen, als Hagia Sophia der größte und bedeutendste Kultbau des orthodox-christlichen oströmischen Reiches. Atatürk hatte die Vision, daß dieser grandiose Sakralbau weder als Triumphzeichen eines endgültigen Sieges des Islam über das Christentum noch als Mahnzeichen älterer christlicher Rechte mißbraucht werden dürfe. Weder christlicher noch moslemischer Triumph, sondern zivilisatorischer; weder Glaubensfestung der einen noch der anderen religiösen Gewißheit, sondern Repräsentation der universalen Menschheit sollte dieser Kultbau sein – so verfügte Atatürk und gab in der Tat damit das bis dato bedeutendste Beispiel für die denkbare Beherrschung der Religions- und Kulturkriege, deren radikalste Vertreter heute mit ihren zerstörerischen Erzwingungsstrategien den Westen wie den Osten in Schrecken versetzen.
An dieser bisher kaum angemessen gewürdigten zivilisatorischen Großtat eines sich als Westler bekennenden Politikers, Staatsmanns und Militärs wollen wir unser Ziel der schweren Entdeutschung orientieren. Wenn wir Europa nicht in permanenten Kultur- und Religionskriegen und in anderen blutigen Auseinandersetzungen um seine zukünftige Überlebensfähigkeit sang- und klanglos in die weltgeschichtliche Bedeutungslosigkeit fallen lassen wollen, gibt es nur eine, eben die von Atatürk gewiesene Möglichkeit der Musealisierung, um Frieden zu halten. Als „living museum“, als Freiluftmuseum der Welt könnte Europa der zukünftigen Menschheit zur Erforschungs- und Erkenntnisstätte werden, in der man lernte, daß Respekt und Anerkennung für die religiös-kulturellen Leistungen der jeweils anderen nirgends besser erfahren werden können als in den Museen. Sie sind neben den Universitäten und Technischen Hochschulen diejenigen Errungenschaften des Westens, die weltweit Geltung genießen und entsprechend übernommen wurden. Das aber hieße nicht Untergang des Abendlands, sondern Europa als Avantgarde für die einzig denkbare Befriedung der von Machtpolitik, ethnisch-rassischem Hegemonialstreben und ökonomisch begründeter Suprematie zu allen Zeiten gleichermaßen in Dienst genommenen kulturell-religiösen Prägung der Menschen.
Die Empfehlung „Musealisiert Euch!“ gilt aber auch den Individuen, die das schon längst wissen, selbst wenn sie nur Kindheits- und Ferienphotos in Schuhkartons oder inzwischen elektronisch speichern, ohne jede Chance zu deren angemessener Nutzung. Angemessen wäre zum Beispiel, sein eigenes Leben genau so ernst zu nehmen wie das von Künstlern, Staatsmännern, Religionsstiftern oder das von herausragenden Mitgliedern von Familien, Vereinen, Verbänden, Unternehmen, Kulturgemeinschaften oder gar Nationen. Deswegen gehen wir ja ins Kino und Theater, um am Beispiel der dort verhandelten Biographien zu lernen, wie man einen eigenen Entwurf eines Lebensplans zustande bringt und ihn unter den höchst beschränkten Verhältnissen des Alltags produktiv werden läßt. Dabei geht es nicht mehr um das Pathos, auch in sozialem Status und übernommenen Rollen der zu werden, der man eigentlich ist oder sein könnte oder sein möchte; sondern es gilt zu erkennen, wie man immer nur der wird, der man nicht ist – also gerade unter Anerkennung unserer eingeschränkten Autonomie. Sich zu musealisieren heißt, so zu leben, daß es über dieses Leben etwas Interessantes zu erzählen gibt. Und zwar nicht nur im Rückblick, sondern auch im Vorausblick. Selbst Menschen, denen von Kindesbeinen an die größten Chancen zur Wahl einer Biographie geboten werden, können schließlich jeweils nur eine konkrete Möglichkeit zu leben ergreifen. Aber alle Menschen werden in ihrer Einstellung zur Zukunft ganz entscheidend durch das Spektrum der Möglichkeiten bestimmt, das sich ihnen als Alternative geboten hat oder das sie sich eröffnen konnten. Obwohl wir immer nur jemand Bestimmtes sein können, ist die Bedeutung dieses Jemand doch davon abhängig, welchen Reichtum an Wahlchancen er überhaupt zu erfassen und für sich nutzbar zu machen vermag – jeder gewinnt sozusagen Potenz, also Lebenskraft als Freiheit, sich nicht auf ein Verhaltensmuster festnageln lassen zu müssen.
Eröffnungsspiel: Preußische Partie
„Man hat überhaupt nötig, an sich erinnert zu werden, insofern als wir das unsere durchaus nicht immer gegenwärtig beisammen haben […] nur in Augenblicken seltener Klarheit, der Sammlung und des Überblicks wissen wir wahrhaft von uns.“ (Thomas Mann)
Der viel zitierte Mathematiker, Omnibus-Erfinder und Religionsphilosoph Blaise Pascal kannte offensichtlich ein Glücksrezept, wenigstens aber eine Empfehlung für die Vermeidung des Unglücks. Pascal meinte, alles Elend der Menschen rühre daher, daß sie es nicht in ihren Zimmern aushielten und ständig irgendwohin weglaufen wollten. Meinte er jedes Zimmer, von der Mönchseremitage über die Gefängniszelle bis zu den im Kochdunst eingenebelten Kleinbürgerbehausungen, wie sie uns Heinrich Zille und Gerhard Hauptmann vor Augen hielten? Konnte Pascal sich Köln-Chorweiler, Berlin-Gropiusstadt und Hamburg-Steilshoop vorstellen?” (4) Alle Weisheit der Welt reicht nicht hin, um den Wunsch zu löschen, aus diesen Folterkammern der Leiber und Seelen zu entkommen. Wie also sollte ein Zimmer aussehen, in welchem man der Pascal'schen Empfehlung gerne folgen würde?
Seit hundert Jahren gibt es unzählige Anleitungen von Künstlern, Innenarchitekten, Designern, Lebensreformern, Karriereberatern und Promotern, die Wohnung zu einem Bild der eigenen Welt werden zu lassen: Denn schließlich leben Menschen nicht in Ziegelsteinhaufen, sondern in Vorstellungsräumen und Erinnerungslandschaften. Ich habe mich selbst als Experimentator im Felde des Designs, also der Ästhetik in der Alltagswelt, ins Zeug gelegt. (5) Warum Design? Die Antwort, die die Besucher unseres Pascal'schen Zimmers getrost nach Hause nehmen können, lautet: Mit der Entwicklung des Designs, also einer spezifischen Form angewandter Künste im Zeitalter industrieller Massengüterproduktion, wurde zum ersten Mal einem menschheitsgeschichtlich einmaligen Fortschritt entsprochen, nämlich der Einsicht, daß nur die Mittel die Zwecke heiligen und nicht umgekehrt. Die hohen und höchsten Handlungszwecke lassen jedes Mittel zu ihrer Realisierung akzeptabel erscheinen. Die Designer nahmen sich vor, zunächst die Mittel unserer Lebensbewältigung zu optimieren, anstatt, wie es etwa Künstler der Moderne taten, dem Zweck der Selbstverwirklichung als schöpferische Genies rücksichtslos alles zu opfern.
Nur die Mittel heiligen den Zweck
Den Künstlern war und ist jedes Mittel, jedes Material, jede Strategie und jede Methode recht, um sich als gnadenlose Konkurrenten Gottes in Szene zu setzen. (6) Im 20. Jahrhundert sollte man spätestens gelernt haben, daß selbst die höchsten Zwecke, etwa die Etablierung eines universalen oder bloß eines nationalen Sozialismus, angesichts der Mittel zu ihrer Durchsetzung, wie sie Stalin oder Hitler anwandten, völlig belanglos wurden. Human werden solche Weltverbesserungsvorschläge weder durch Gottes Segen oder den Zuspruch des Weltgeistes noch durch den Zeitgeist in Gestalt außerordentlicher Denker- und Führerpersönlichkeiten, sondern allein durch die Wahl von Mitteln, die die Würde des einzelnen Menschen unter allen Bedingungen wahren.
Wie bewährte ich mich als Designer? (7) 1996 habe ich in Wien eine Variante des erwähnten Pascal'schen Zimmers installiert: das Kierkegaard'sche Zimmer. Unter dem Pseudonym Johannes Climacus gab Kierkegaard Einblick in seine Biographie, vor allem in die Kindheitserlebnisse eines Weltenwanderers, eines viator mundi. Grundlegend für die Entwicklung des Kierkegaard'schen Weltverständnisses war demnach eine besondere pädagogische Anleitung durch den Vater. Wann immer die Kinder den Vater baten, mit ihnen hinauszugehen und ihnen die Wunder des Lebens zu zeigen, machte er mit ihnen eine Wanderung durch das eigene Haus und leitete sie an, die Möbel und Bilder, die Stoffe und Steine, die Gerätschaften und Lichtquellen des Hauses heute als Environment der Stadt Paris, morgen als Urwaldlandschaft und übermorgen als Ausstattung eines Wikingerschiffs auf dem Wege ins Unbekannte westwärts, dem Grünenland entgegen, zu imaginieren.
Sowohl Pascal'sches wie Kierkegaard'sches Zimmer rekurrieren auf die Tradition des Memorialtheaters. Damit bezeichnete man Architekturen des Gedächtnisses in Einheit von Erinnerung und Vorstellung. (8) Es galt, die Gedächtniskunst zu erweitern. Eine im 16. Jahrhundert entwickelte Methode wenden Gedächtniskünstler noch heute an: Die einzuprägenden Zahlen, Namen und Fakten verknüpfen sie mit der Vorstellung, sich durch ein prägnantes Gebäude oder eine interessante Stadtlandschaft zu bewegen. Dabei werden die Gedächtnisinhalte an auffälligen, markanten Punkten der Landschaft oder Architektur gleichsam abgelegt. Indem man die Landschaft oder Architektur im Geiste durchwandert, gelangt man wieder zu den „deponierten“ Namen, Zahlen und Fakten. Die Landschafts- oder Architekturräume erhalten zudem vom Gedächtniskünstler ein Gemütsklima, eine Stimmung zugeordnet. Entsprechende Beleuchtung wird heute noch im Theater als Stimmung bezeichnet.
Analog zum Memorialtheater entwickelten die Autoren der nachtfarbigen Romantik wie Wilhelm Wackenroder, Ludwig Tieck, E.T.A. Hoffmann, Edgar Allen Poe, Utopiker und Futurologen wie Jules Verne, Stanislav Lem und Stanley Kubrick, oder Phantasmagogen wie Stephen Spielberg, Andrej Tarkowskij und Peter Greenaway nach dem Beispiel des Memorialtheaters ein Theater der spekulativen Einbildungskraft. (9)
Antizipation und Empathie -
Voraussehen und Vorausleiden
Seit Jahrhunderten werden derartige architektonische Gedächtnisräume entwickelt. Ein solcher ist auch unser „Theoriegelände“. Jedem Ensemble der Ausstellungsobjekte liegt ein Thema zugrunde, das wir aus dem Panorama deutscher Obsessionen, die unsere Köpfe beherrschen, entnommen haben. Die Koppelung von Erinnerungen und Gefühlen an immer wiederkehrende Reaktionen nennt man Traumatisierung. Der hier repräsentierte mnemotechnische Aufbau orientiert sich in erster Linie an den Traumata deutscher Bürger, die es nicht fertig brachten, ihr individuelles Verhalten und ihre Verpflichtung auf nationale, kulturelle und soziale Identität in Einklang zu bringen. Solch unglückliches Bewußtsein führt aber auch zu höchst bemerkenswerten Selbstrechtfertigungs- und Entlastungsstrategien. Eine davon besagt, daß generell die Bildung von Kollektivgedächtnis an Entlastung von Traumatisierungsfolgen gebunden sei. Dafür bietet das Schicksal des jüdischen Volkes das bekannteste Beispiel. Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem durch die römische Armee des Kaisersohns Titus im Jahre 70 n. Chr., nach der Aufhebung ihres staatlichen Verbundes und der Vertreibung gelang es den Juden in der Diaspora, der überall gleich fremden und heimatfernen Welt, im Nirgendwo des Überall, den Zusammenhalt einer Kultur- und Religionsgemeinschaft gerade durch die ständige Erinnerung an das traumatisierende Ereignis zu bewahren. Das besagt der rituelle Gruß „Nächstes Jahr in Jerusalem“, wobei bis zum Beginn der zionistischen Bewegung nicht in erster Linie der geographische Ort Jerusalem gemeint war, erst recht nicht ein definiertes Territorium oder ein Nationalstaat. Gemeint war vielmehr ein Vorstellungsraum der weltgeschichtlichen Heilsbewegung, in dem das jüdische Volk wie seine Individuen alle historisch wie systematisch gegebenen Bestimmungen ihres Selbstbewußtseins als Glieder des Volkes Gottes bewahren konnten.
Um für ein solches Verhältnis von Biographie und Utopie zwei Beispiele zu geben: Zwar ist mit „Paradies“ eben der Ursprungsort früher menschheitlicher Entwicklung bezeichnet, aus dem sich das Adjektiv „paradiesisch“ ableitet; aber uns ist allen völlig klar, daß wir in dieses Paradies nicht zurückkehren können. Eine ähnliche Erfahrung mit dem Verhältnis von Vorstellungswelt beziehungsweise Raum der Erinnerung und den realen geographischen Räumen ruft der Begriff „Heimat“ auf. Er kennzeichnet die Orte kindlicher Entwicklung unseres Weltverständnisses und späterer Bestätigung der Erinnerungsbilder; aber Heimat wird erst zu einer beherrschenden Suggestion, wenn man sie verlor oder verlassen mußte. Wer den Versuch macht, in sie zurückzukehren, erfährt in der Regel, daß sich der überwältigende Glanz der Heimatlichkeit schnell abschwächt. „Paradies“, „Jerusalem“, „Heimat“ erweisen sich offenbar als besonders faszinierend, solange zwischen unseren Vorstellungsräumen und den realen Lebensräumen ein tiefer Riss spürbar ist.
Wer die Traumatisierung von Individuen wie Kollektiven auch nur anspricht, geschweige denn zur ihrer Therapierung beitragen will, hat sich einer grundsätzlichen Frage zu stellen: Soll die traumatisierende Erfahrung gelöscht, also vergessen werden, um Leidensdruck zu vermindern und gewissermaßen Souveränität über die bisher zwanghaften Reaktionen auf die Erinnerungen an das traumatisierende Ereignis zu gewinnen? Oder zielt man darauf ab, daß die Leidenden durch immer stärkere Symptomverordnung gegenüber den auslösenden Ereignissen allmählich abstumpfen? (10) Was immer Psychotherapien oder „Erinnerungskulturen“ zur Beantwortung dieser Frage bisher beigetragen haben mögen – wir orientieren uns mit unseren Anleitungen auf eine weitere Möglichkeit der Vermittlung zwischen Erlebnis und Reaktion oder Vorstellung und Aktion oder intrapsychischem Geschehen und Kommunikation. Gemeint ist die menschliche Kraft zur Antizipation und zur Empathie, den wichtigsten Gestaltungsgrößen von Memoriallandschaften und Memorialtheater. Empathie bezeichnet im Unterschied zu Sympathie nicht nur ein Mitleiden im Nachvollzug, sondern ein Vorausleiden, d.h. die vorlaufende Erfahrung des noch nicht Eingetretenen, aber jederzeit Erwartbaren. Die Fähigkeit zum Vorauslaufen der Vorstellung vor der konkreten Wahrnehmung bezeichnet der Begriff Antizipation.
All unser Planen basiert auf dieser Kraft zum vorwegnehmenden Rechnen mit noch nicht eingetretenen Ereignissen und zur Bewertung von deren Folgen. Antizipation und Empathie kennzeichnen unsere Arbeit im Theorie- und Therapiegelände, im Museum als Heimat, im Theater als Paradies und in der Mediensimulation als himmlischem Jerusalem (das hieß einstmals Kathedralenbau). Die äußerste uns mögliche Vorwegnahme ist die des eigenen Todes oder gar des Endes der Welt (Heidegger nannte das den Vorlauf zum Tode). Die empathische Bewertung dieser ultimativen Ereignisse führt aber, entgegen aller landläufigen Auffassung, nicht dazu, im Jammer zu versinken oder die Nichtigkeit der Welt fast triumphal gegen jede andere Einstellung zu behaupten. Nichts ist eitler und wahnhafter als die seit antiken Zeiten überlieferte, vermeintlich tiefste Einsicht, daß angesichts des Endes alles menschliche Wollen nur eitle Vergeblichkeit sei. Denn die anthropologisch wie theologisch wie sozialpsychologisch gleichermaßen gut begründete Schlußfolgerung aus der menschlichen Kraft zur Antizipation führt gerade zur gegenteiligen empathischen Bewertung: Wer sich auf das Schlimmste vorwegnehmend einläßt, hat tatsächlich die beste Chance, den drohenden Schrecken zu überstehen; oder: Wer sein oder das apokalyptische Ende der Welt gedanklich vorwegnehmen kann, ist nicht mehr durch Angst terrorisierbar und hat damit die Kraft, immer erneut zu beginnen (mit dem Apfelbaumpflanzen oder dem Buchschreiben oder der Zeugung von Kindern). (11) Kirchenvater Augustin behauptete sogar, daß die Menschen geschaffen worden seien, damit in der Entwicklung der Welt neben den Ereignissen aus dem unbeeindruckbaren Walten der Naturgesetze die Möglichkeit zur Geltung komme, gerade durch die Vorwegnahme des radikalsten Endes die Kraft zum jederzeitigen und immer erneuten Beginnen zu finden. Ernst Bloch nannte es das „Prinzip Hoffnung“. Wir nennen es die Parallelführung von Antizipation und Empathie, von Vorauswissen und Vorausleiden.
Spazierensitzen im Theoriegelände
Es ist mehr als Kalauerei, wenn man in diesem Zusammenhang an die Erfahrung machtbewußter und stressresistenter Protagonisten unserer Gesellschaft erinnert. Einer von ihnen empfahl das Aussitzen als eine Form der Vermittlung von Aushalten und unbeirrter Initiativkraft gerade angesichts recht unschöner Aussicht auf ein zwangsläufiges Ende der Unternehmung. Verständlicherweise empörte diese Haltung viele Zeitgenossen, weil sie sie für das Zeichen gottgegebener Unbelehrbarkeit hielten. Das mochte durchaus so erscheinen, aber als Hinweis auf eine allgemeingültige Handlungsmaxime für Menschen, die sich zwischen Wissen und Hoffen heillos hin- und hergerissen fühlen, vermag das Aussitzen durchaus sowohl panikartige Flucht wie angstvolles Erstarren in einer Art Totstelleffekt zu verhindern. (12) Homer nannte seinen Helden Odysseus den großen Dulder, der durch seine Leidensfähigkeit (herkömmlich Toleranz genannt) in jeder noch so bedrohlichen Situation die Kraft zur Initiative bewahrte, um das ganz und gar Unwahrscheinliche, die Heimkehr, zu vollenden (natürlich mit der Erfahrung, daß Odysseus bei der Rückkehr nur noch von seinem Hund als der identifiziert wird, der einstmals aufbrach). Als solche Dulder angesichts der Zumutungen einer schweren Entdeutschung sehen wir die Teilnehmer am „Lustmarsch durch das Theoriegelände“, einem zunächst verwirrenden Parcours, den auf den ersten Blick kaum jemand unbeschadet absolvieren zu können glaubt, am wenigsten die anleitenden Beispielgeber selbst.
Um die Duldungsbereitschaft unserer Teilnehmer einerseits gegen die Verlockung zur tierischen Duldungsstarre und andererseits gegen hypnotischen Verfall in Museumsschlaf zu feien, bieten wir ihnen das im Politischen heikle Aussitzen als ein museal heiteres Spazierensitzen an. Sollten Spazierenstehen und Spazierensitzen je olympische Disziplin werden, darf ich mir Hoffnung auf einen Medaillenrang machen, weil ich sowohl Werksangestellte wie Studierende, Hauptstützen der Ökonomie wie Hausfrauen und Rentner, Wehrdienstleistende und Symposiarchen stundenlang zum durchhaltenden Erdulden von Trainingsanleitungen für Voraussehen und Vorausleiden motivieren konnte.
Abhängig von den jeweiligen Möglichkeiten vor Ort führen wir im Sitzen ein Training unserer Bereitschaft zur Empathie bis an die Grenzen der Hypochondrie durch, so wie es Rennfahrer, Abfahrtsskiläufer, Tennisasse praktizieren. Sie alle trainieren im Sitzen ihre Kraft, sich rasend schnelle Bewegungen vorzustellen, sie zu antizipieren, bevor sie ausgeführt werden. Gesichert ist die Annahme, daß durch spezifische Aktivitäten einiger Neuronencluster und Leistungszentren des Gehirns die Vorstellungskraft unmittelbar an die Impulsgebung für unsere Bewegungsausführung gekoppelt ist. Wer die Vorstellung trainiert, aktiviert gleichzeitig die körperlichen Bewegungsabläufe, auch wenn er sie nicht sichtbar ausführt. Training durch Entfaltung der Antizipationskraft ist nicht nur ökonomisch sinnvoller, weil billiger und risikoloser, sondern auch effektiver (fünf Stunden Antizipation einer Rennstrecke bringt Michael Schumacher mehr Vertrauen in die eigene Fähigkeit als fünf Stunden reales Training, von Unfallgefahren ganz abgesehen). Jean-Luc Godard hat 1964 in seinem Film „Bande à Part“ untersucht, ob umgekehrt schnelle Realbewegung von Besuchern durch den Louvre zu einer Beschleunigung von deren Wahrnehmungsfähigkeit führt. Mit neun Minuten und 46 Sekunden dürfte Godards Truppe aber in jedem Fall einen Besichtigungsrekord im Louvre aufgestellt haben.
Unser Theoriegelände bietet die Gelegenheit, solche interessanten Formen der intensiven Rezeption selbst auszuprobieren, auch wenn wir uns mit weniger Raum als einem Louvre-Saal begnügen mußten. Vielleicht bezeichnet man die jeweilige Herberge unseres Theoriegeländes besser als Labor (für Universalpoesie) (13), das man stundenweise so nutzt wie etwa den Physiksaal im Gymnasium. Als Schüler freute man sich, wenn der Unterricht endlich als Experiment im Physiksaal stattfinden konnte. Der Lehrer als Zaubermeister der Physik oder Goldmacher der Chemie hantierte mit Substanzen und Instrumenten in einer Weise, daß wir uns wie auf Jahrmärkte früherer Zeiten versetzt fühlten. Der Unterricht wurde spannend, weil wir mit aller Macht versuchten, hinter das Geheimnis der Handlungen und Reaktionsbildungen zu kommen. Der Lehrer beschrieb das Geheimnis als Naturgesetzlichkeit. Aber etwas ein Naturgesetz zu nennen, heißt keineswegs, seinen Wirkungen nicht mit ungläubigem Staunen folgen zu müssen. Wissen schützt vor Dummheit nicht und völlige Transparenz nicht vor der Magie der Klarheit. Schauen wir heute den Demonstrationen der Medienmagier wie David Copperfield im Fernsehen zu, dann betonen wir ausdrücklich unser Wissen, daß prinzipiell niemand zaubern kann. Dennoch fasziniert der Anschein des Wunderbaren. Die Differenz zwischen dem unmittelbaren Augenschein des Zuschauers und seinem Bemühen, den Eindruck von Zauberei durch sein Wissen zu entkräften, begründet das Vergnügen, das wir an solchen Demonstrationen finden.
Erkenntnis geht aus diesem Vergnügen hervor, sobald wir die Unvereinbarkeit von Evidenzerlebnis und Reflexion produktiv werden lassen, nämlich durch Kritik des Evidenzerlebens. Wir beginnen also sinnvollerweise mit der Aufforderung, daß man eine Ausstellung von Bildwerken, Skulpturen, Objektensembles in erster Linie besucht, um zu lernen, den eigenen Augen nicht zu trauen. Kunstwerke nennen wir diejenigen Exponate, denen es gelingt, die Kritik am Augenschein ihrerseits evident werden zu lassen. Denn Kunstwerke lehren so überzeugend wie kaum etwas anderes, daß die Kritik an der Überwältigung durch Evidenz ihrerseits wieder evident gemacht werden muß. Das gilt auch für die radikalste Form der Kritik nach dem frommen Gebot: Du sollst dir kein Bildnis von Gott machen. Dem kann man nicht durch bloßen Verzicht aufs Bildermachen gerecht werden, man muß vielmehr das Bilderverbot im Bildermachen befolgen. Das hatte etwa eine ganze Generation jüdischstämmiger Künstler im Amerika der fünfziger Jahre sich zum Ziel gesetzt und sie haben tatsächlich Evidenzkritik durch Evidenzerzeugung geleistet. Ein Rothko-Gemälde zum Beispiel ist der gelungene Beweis für die Bildwerdung des Verbotes, sich von Gott ein Bildnis zu machen. Ähnliches gilt für die Vergegenwärtigung mythischer Erfahrungen oder von Kulten und Ritualen anderer als unserer gegenwärtigen Gesellschaften. Man kann deren Veraltetsein nicht einfach behaupten, sondern muß es in einer Art experimenteller Archäologie oder fiktiver Kulturgeschichte durchspielen, um die Leistungsfähigkeit dieser Vermittlung von aktuellem Erleben und uneinholbarer wahrer Bedeutung zu bewerten. Die Würde der Relikte ehemals fremder, nun vergangener Kulturen besteht gerade darin, daß wir prinzipiell niemals in der Lage sein werden, ihre Bedeutung in vollem Umfang zu rekonstruieren.
Also versuchen wir, mit unseren Führungen durchs Theoriegelände die schlußendlich uneinholbaren Leistungen der alten Seelenführer, Steuermänner und Seher dadurch zu würdigen, daß wir ihnen die Vorgehensweisen unserer Vorausseher, Vorausweiser und Vorausführer parallel setzen. Professionalisiert heißen diese Vorwitzigen Psychoanalytiker, Kunstpädagogen, Lebensberater und Unternehmungsphilosophen. Im Vergleich zu den Propheten, Weisen, Ältesten, Schamanen und Priestern historisch gewachsener Kulturen besitzen unsere Wirtschaftsweisen und Prognostiker nur eine kümmerliche Methode der Vermittlung von Diagnostik und Prognostik. Diese eine Methode heißt Hochrechnung gegebener Entwicklungen auf die Zukunft. Die Alten aber wußten, daß Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kein Zeitkontinuum bilden und deshalb Hochrechnungen äußerst bedenklich sind. Die Zeit macht Sprünge wie ein Wasserfall oder wird träge wie Wasser in einem Becken mit winzigen Zu- und Abflüssen. Noch bis ins Barockzeitalter hinein versinnbildlichte man die höchst unterschiedlichen Zeitcharaktere durch die Gestaltung von Fließprogrammen für Wasserführung in Parks. (14) Jedenfalls hielten es die Alten für dringend geboten, unsere allzu selbstverständliche, also naive Auffassung vom Charakter der Zeit zu kritisieren. Der schon angesprochene Kirchenvater Augustin meinte, einen klaren Begriff vom Wesen der Zeit zu besitzen, stellte dann aber fest, daß der Gedanke eines gleichmäßigen, kontinuierlichen Fließens der Zeit aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft angesichts historischer Erfahrungen wie der der Völkerwanderung sich als unbrauchbar erwies. Er mußte erleben, wie etwa das tausendjährige Bestehen der römischen Kultur und des römischen Imperiums in kürzester Zeit von sich immer verschnellenden Ereignisfolgen der Völkerwanderung fast vollständig aufgehoben wurde. Die Zeit schien sich punktuell zu gewaltiger Kraft stauen zu können, die in kürzester Frist die Welt grundlegend veränderte, um sich daraufhin erneut in langen Perioden quälender Entwicklungs-, ja Ereignislosigkeit richtungslos auszubreiten oder träge stillzustehen. Erst in solchen Zeiterfahrungen lassen sich Phänomene wie die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen oder der Fortschritt als Führungsanspruch des zeitlich Ältesten klären. Augustin erlebte ja, daß hoch entwickelte römische Technologie, Verwaltung, Straßen- und Wasserbaukunst oder Chirurgie und Finanzwesen von den Einwanderern völlig unbeeindruckt als ihren Infrastrukturen bestenfalls gleichwertig betrachtet wurden, ja, daß sie das Fortschreiten der historischen Entwicklung gerade in der Ablösung des dekadenten römischen Systems durch die archaische Kraft der Hinterwäldler begrüßten und durchsetzen wollten.
Nicht nur Eigentum, auch Erkenntnis verpflichtet
Zur Einheit von Diagnostik und Prognostik
In unserem Theoriegelände lernen die durch Kritik des Augenscheins schon gewitzten Besucher, unterschiedliche Zeitformen in den Objektensembles zu identifizieren: Mythische Zeit, biographische Zeit, die Zeitform der Zeitenthobenheit, der Zeitvergessenheit, bis hin zum Postulat von der Erfüllung der Zeit in jenen kleinen Ewigkeiten, zu denen uns das Versinken in der Bildbetrachtung oder Lektüre oder in der Meditation oder Gottesvision Zugang schafft. In unsere Darstellung geschichtlicher wie kulturell-religiös geprägter Zeiterfahrung werden wir auch Manifestationen von Zeitlichkeit wie die des Träumens oder wie die des geistesabwesenden Sinnens aufnehmen. Die Ebenen werden sich überlagern und die Eindrücke der Beliebigkeit der Charakterisierung von Zeit bis zu dem Gefühl steigern, man könne sich aus der Zeit stehlen oder die Zeiterfahrung nach Belieben relativieren.
Deshalb gilt es, Einbildungskraft (Vorstellung und Antizipation), Gedächtniskraft (Erinnerungs- und Ordnungsvermögen) und Urteilskraft (Selbstbezüglichkeit und Unterscheidungsvermögen) so in ein Wechselspiel von Temporalität (= Chronie) mit Formen der Überzeitlichkeit (Extratemporalität = Uchronie) zu bringen, wie wir das zum Beispiel im Traum als ein grundlegendes menschliches Vermögen erfahren.
Unser Theoriegelände bietet zahlreiche Werkzeuge zur Arbeit mit dieser Erfahrung. Wir nennen diese Werkzeuge „theoretische“ oder „kognitive“ Objekte, um sie von Kunstwerken zu unterscheiden. Sie sind Werkzeuge der Theoriebildung, die uns die Vermittlung von Denken, Vorstellen und Darstellen erleichtern sollen. Soweit wir originäre Kunstwerke ins Theoriegelände eingestellt haben, können auch sie in diesem Zusammenhang als exemplarische Vermittler etwa von Zeitlichkeit ihrer Entstehungsgeschichte, ihrer Wirkungsgeschichte und des durch ihren Musealisierungserfolg beglaubigten Anspruchs auf Dauer gelten.
Eine andere erhellende Analogie zum Verständnis des Theoriegeländes sei hervorgehoben. Schon als Kinder erlebten wir die Beschilderung „Werksgelände“ an Fabriktoren als geheimnisvolle Hinweise auf Orte, an denen das rätselhafte Unwahrscheinliche, das exklusive, nur Eingeweihten vorbehaltene Wirken der weltgestaltenden Kräfte zum genius loci geworden war. Das Geheimnis des Werkschaffens besteht in der Umsetzung eines Planes, zum Beispiel von Zeichnungen der Ingenieure, in ein Produkt wie etwa ein Automobil. Das wirkt noch heute auf die Angehörigen einer Industriegesellschaft wie die Zauberkunst der Goldmacher im Mittelalter. Jedermann weiß, daß die Vermittlung zwischen Plan und Produkt aus der Organisation von ineinandergreifenden Einzelhandlungen erfolgt, die technisch-rational vorgeschrieben werden. Und doch gibt der Qualitätsprüfer, einer alten Handwerkertradition entsprechend, das fertige Produkt erst mit der Bemerkung frei: „Sitzt, wackelt und hat Luft.“ Das verweist auf eine offensichtlich nie aufhebbare Differenz zwischen Plan und Ausführung, die heutzutage als Restrisiko versichert werden muß – siehe die gesetzlich vorgeschriebene Produzentenhaftung. Das Geheimnis des Werkschaffens erlebt man jedoch im Alltag vornehmlich als Tücke der Objekte. (15) Die Artefakte wirken zuweilen beseelt von Widerstandskraft gegen die ihnen abverlangte schiere Funktionalität. Man glaubt zu spüren, daß die von Menschen geschaffenen Dinge etwas von der Mutwilligkeit und Irrationalität mitbekommen haben, mit denen sich ihre Schöpfer davor zu bewahren versuchten, sich selbst nur als Produkte gesellschaftlicher Macht verstehen zu müssen.
Um dieses animistische Potential der Artefakte, das sich in der Wirkung als seelische Erregung des Nutzers bemerkbar macht, halbwegs unter Kontrolle zu bringen, fühlten sich die Entwerfer und Ingenieure seit Beginn der industriellen Massenfertigung verpflichtet, die blanke Funktionslogik der Dinge durch eine ästhetische Gestalt zu umhüllen: Schönheit wird Schutzschirm gegen chaplinesk und kafkaesk verselbständigte Funktionsexzesse der Artefakte. Dem kindlichen Verlangen nach Herrschaft über die Dinge, indem das Kind sie zu beseelten Wesen werden läßt, entspricht der Designer vornehmlich durch Namensgebung als Bannung und Analogiezauber. (16)
Mit dem Animismus habe ich auch meine Erfahrungen gemacht. 1959 erwarb ich mit Hilfe des Hamburger Mäzens Siegfried Poppe, der Friedensreich Hundertwasser und mir ermöglicht hatte, das Projekt der Großen Linie (17) in der Hamburger Kunsthochschule zu realisieren, einen VW-Käfer und danach, in je zweijährigem Abstand, vier Citroën DS. Obwohl beide Produkttypen Spitzenleistungen des Automobilbaus in ihrer Zeit waren, sah ich mich gezwungen, mit ihnen (wie es die Werbung ohnehin empfahl) eine Seelenpartnerschaft einzugehen, damit ich sie überhaupt nutzen konnte. Der VW-Käfer streikte so lange, wie ich ihn als galoppierendes Pferd überfordern zu dürfen meinte; und die göttliche Citroën „La Déesse” zeigte verstörende Macken, solange ich nicht mit ihr zu einer Einheit verschmelzen konnte. Den Hinweis auf derartige Notwendigkeit zum Zusammenwachsen von Mensch und Auto etwa in der archaischen Figur des Kentauren verdankte ich einem Meister der Citroën-Werkstatt an der Stadtausfahrt Messe Frankfurt. Ich kaufte mir also Sporen, schnallte sie an meine Schuhe, wann immer ich die DS fuhr, und hatte nie wieder irgendwelche Funktionsstörungen zu gewärtigen. (18) Es war und blieb eine Herausforderung an meine Vorstellungskraft, mich zugleich als Teil des Kentauren und des mit Sporen bewaffneten Reiters des mythischen Tieres zu sehen.
Werkschaffende sind die im Bewußtsein ihrer Produktivkraft geadelten Arbeiter (Arbeiter als Industriekentauren, als Einheit von Maschine und Mensch). Etwas ins Werk zu setzen, gilt als demiurgengleiche Kraftgeste, die man in unserer Jugendzeit noch vornehmlich auf Generaldirektoren konzentriert sah. In Werken und Tagen (erga kai hemerai) beschreibt man seit der Antike das Leben und Wirken solcher Heroen, die zum sichtbaren Vorbild aller sogar ans Firmament oder aufs Theater versetzt wurden. Das griechische Theater läßt sich sehr gut als Theoriegelände auffassen, weil dort die Zuschauer theoria als sinnende Betrachtung und kritisches Urteilen dessen betreiben, was ihnen auf der Szene vor Augen tritt. Betrachten heißt, die einzelnen Charaktere, Spielmomente und sprachlich-musikalischen Äußerungen miteinander in eine sinnvolle Beziehung zu bringen, so daß eine verständliche, durch die eigene Verknüpfungsleistung ermöglichte Erzählung entsteht.
Seit Schülerzeiten litt ich unter der weit verbreiteten, aber völlig verfehlten, da sinnentstellenden Entgegensetzung von Theorie und Praxis. Das Theoretisieren im gerade erwähnten Beispiel der Theaterbesucher war ja selbst eine Praxis, eben Theater-, Spiel- und Rezeptionspraxis. Einige Lehrer hänselten uns spekulativ begabte Schüler mit der Behauptung, unsere Erkenntnisse blieben rein theoretisch; die Praxis sehe anders aus. (19) Diese unbedarfte Zuordnung von Theorie und Praxis als entweder ideell windiger Entwerfertätigkeit oder harter Realisierungsarbeit stachelte dazu an, das Theoretisieren nach den Konsequenzen zu bewerten, die es nahelegte oder gar zu erzwingen schien. In einer wohl allgemein akzeptierbaren Formulierung hieß das: Nicht nur Eigentum, sondern auch Erkenntnis verpflichtet – doch wozu? Zur Verantwortung für die Konsequenzen, die sich aus der Erkenntnis ergeben, womit wir bei dem Ziel der Arbeit im Theoriegelände angekommen wären: der Einheit von Diagnostik und Prognostik. Die Erkenntnisanstrengung ergibt die Diagnose; mit der Verpflichtung auf die Konsequenzen des Erkannten werden wir zur Entwicklung von Prognosen angehalten.
Durch Hinweise unserer Lehrer auf Theodor Herzls zionistische Programmschrift „Altneuland“ lernten wir Schüler ein seit antiken Zeiten auch juristisch fundiertes Modell der Einheit von Diagnose und Prognose, von Erkenntnis und der sich aus ihr ergebenden Verpflichtung zum Handeln kennen. Es ist das Modell der Gestorenschaft. Herzl reklamiert ganz richtig die Rolle eines Gestors für jenen beherzten Mann, der die berechtigten Interessen anderer wahrnimmt, weil diese anderen, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage sind, selbst ihre Sache zu vertreten. Dabei, so Herzl, diskutiert der Gestor nicht so lange, bis er alle widerstreitenden Parteien unter einen Hut gebracht hat – also endlos –, sondern setzt sich besagten Hut selber auf und beginnt mit der Arbeit. Ich habe mich seit jeher als einen solchen Gestor verstanden, der, auch auf die Gefahr hin, für vorlaut, egoistisch und präpotent gehalten zu werden, Besucher in Museen und an anderen Ausstellungsorten durch das eigene Beispiel dazu anhalten wollte, das menschlich natürliche Verlangen nach Zustimmung und Bewunderung sinnvoller einzusetzen als bei der üblichen Bekundung in großen Kunstausstellungen: „Das ist bedeutend, weil es als große Kunst gilt“ und „Es gilt als große Kunst, weil es bedeutend ist.“
Als Gestor wurde ich zum Beispiel tätig in den Besucherschulen, die ich auch für die Kasseler documenta-Großereignisse von 1968 bis 1992 anbot. Meine frühesten Erfahrungen mit der Tätigkeit von Gestoren gehen auf die vielen Gelegenheiten zurück, bei denen ich mit Joseph Beuys zusammenarbeiten konnte. Dabei erlebte ich den Künstler Beuys als Gestor mit ungeheurer Wirkung auf die „noch nicht zu ganzheitlichem Denken befähigten Bürger“. Die Wirkung des Gestors Beuys machte sich darin bemerkbar, daß sein Publikum mehr und mehr Bereitschaft zeigte, sich an Ökologie- und Bürgerrechtsbewegung zu beteiligen, obwohl dieses Publikum die künstlerischen Arbeiten von Joseph Beuys eher für künstlerisch fragwürdig (Fett und Filz, igitt) oder für bloße Kulissen seiner eigentlichen pädagogischen Mission hielt. Andererseits beurteilten etwa linksliberale Intellektuelle wie Erich Kuby die gestorische Wirkungsabsicht von Beuys als Volkserzieher sehr skeptisch, rühmten aber dafür seine Zeichnungen und Skulpturen als großartige Kunstwerke. So wurden auch im Falle Beuys gestorische Wirksamkeit und künstlerisches Werkschaffen für unvereinbar gehalten von all denen, die entweder ihn als großen Künstler oder als wirksamen Volkserzieher in der Nachfolge Rudolf Steiners oder der zahlreichen Barfußpropheten, Wunderheiler und Lebensreformer sahen.
Aber diese vermeintliche Entgegensetzung oder Abspaltung von Werk und Wirkung entspringt einem Mißverständnis, das aus der Verknüpfung von Theologie und Theorie der Künste zur Kunsttheologie hervorging. Luther und Dürer schufen die Kunsttheologie, ersterer mit der ziemlich rigiden Behauptung, man könne der Gnade Gottes nicht durch noch so gelungenes Werkschaffen teilhaftig werden, sondern ausschließlich durch den Akt des Glaubens – diese Tendenz wird noch bis in die Gegenwart als Begründung für die Überlegenheit der Konzeptkunst über die Werkhuberei angegeben. Dürers Selbstdarstellung in der Nachfolge Christi betonte, daß Jesus nicht im Werkschaffen, sondern durch Wirkung, die wir Wunder nennen, tätig wurde.
Immer wieder versuchten Avantgardisten, die Einheit von Werk und Wirkung bei öffentlicher Tätigkeit zur Geltung zu bringen. Für uns waren etwa die Happenings und action teachings des Agitpop (!) zum Bloomsday 1963 in der Galerie Loehr/Frankfurt, zum 20. Juli 1964 in der TH Aachen, zum 24-Stunden-Happening am 5. Juni 1965 in der Galerie Parnass/Wuppertal, solche Versuche. Sie waren wohl nicht überzeugend, obwohl besagte Ereignisse sehr bekannt wurden. Denn bis auf den heutigen Tag zaudern viele vor dem eindeutigen Bekenntnis, ob sie an Beuys oder mir eher unsere Wirkung als Erziehungsreformer oder unser Werkschaffen als Künstler anerkennen sollen. Wegen dieser anhaltenden Unentschiedenheit gibt es selbst zum zwanzigsten Todestag von Beuys keine repräsentative Ausstellung seiner Werke; sogar die seinerzeit unüberbietbare Wirkung des Wundermannes Beuys findet kaum noch Erwähnung. Dabei hatten wir es unserer Klientel doch eigentlich leicht gemacht, indem wir erklärten, daß für Künstler wie Beuys, Vostell oder Brock (die drei wurden bis in die siebziger Jahre stets zusammen genannt) oder wie Yves Klein, Jean-Jacques Lebel, Robert Filliou, Nam June Paik, Daniel Spoerri, John Cage, Morton Feldman, François Dufrêne oder Charlotte Moormann oder generell die Fluxus-Künstler Werk nur als arrangiert abgelegtes Werkzeug verstanden werden sollte, Werkzeug, mit dem man zuvor eine bestimmte Wirkung zu erreichen versucht hatte. So verfügte Beuys, daß sein zur venezianischen Biennale 1976 erstmals gezeigtes „Straßenbahnhaltestelle – Ein Monument für die Zukunft“ an allen weiteren Ausstellungsorten nur noch im Zustand abgelegter Bestandteile präsentiert werden durfte.
Auch die Objekte, die man in unserem Theoriegelände antrifft, sind abgelegte Werkzeuge, verbrauchte Produktionsmittel, verschlissene Instrumente. Wer aber je auf einem Fabrikgelände frühmorgens an Feiertagen seine Wanderung antrat, als besuchte er mit Hölderlin eine Großgrabungsstelle griechischer Antike, der weiß sicherlich zumindest wie ein Archäologe des Alltagslebens zu schätzen, was ihm mit dem abgestellten Zeug geboten wird. Mit der Veränderung der Sehweise ändern die Bestandteile des Maschinenparks ihre Anmutung. Anleitung zu so veränderten Sehweisen kann man auch bei Schwitters, Picasso, Luginbühl, Chamberlain, Tinguely oder Arman gewinnen, weil deren Werke ihrerseits Anverwandlungen abgelegter, weggeworfener, zerstörter Gegenstände der Arbeitswelt darstellen.
Auch die Teilnehmer unseres Theoriegeländespiels dürften sich des öfteren fragen, ob sie den Erfolg der Arbeit an ihrem Erinnerungs-, Vorstellungs- und Urteilsvermögen in ein Produkt überführen sollten (ein Buch, einen Film, eine CD); ob sie also poietisch werden sollten oder aber den Lustmarsch einfach genießen dürfen, ohne Sorge, ob aus der Veranstaltung irgendetwas entstehen wird, was man verschenkfertig verpackt nach Hause tragen könnte. Poiesis betreibt, wer Gedichte schreibt, um sich in einem Buche zu verewigen oder wer als Gedichteschreiber zu einer guten Partie kommen möchte oder den Ärmelkanal durchschwimmt, um ins Buch der Rekorde einzugehen. Normalerweise aber schwimmen wir in unserem Alltag nicht, um irgendwohin zu gelangen, sondern um im Schwimmen unsere Vitalität zu genießen; und wir lieben nicht, um Karrierechancen zu mehren, sondern weil uns ein überwältigendes Gefühl antreibt. So gesehen, ist Schwimmen oder Lieben eine Praxis der Lebensäußerung, die ihren jeweiligen Sinn in sich selber trägt und höchstens nach Intensivierung und Steigerung verlangt. Aber wie die Beispiele andeuten, sollte man die Möglichkeit nicht aus dem Auge verlieren, durch die Veröffentlichung von Gedichten zu einer guten Partie zu kommen oder mit enorm gesteigerter Schwimmleistung Olympiasieger zu werden. Ganz Gewitzte schauen den Künstlern ab, wie man bei ein und derselben Gelegenheit ohne Mehrarbeit zugleich seinen poietischen Absichten des Werkschaffens wie der Praxis, soziale, politische, ökonomische Wirkung zu erzielen, dienen kann.
Alle Sammeln!
Der Terminus „Lustmarsch“ betont also die Praxis des Lernens und Erkennens. Die Bezeichnung „Gewaltmarsch“ orientiert auf ein zu erreichendes Ziel.
Zur Ermutigung reichen wir jedem Teilnehmer einen Willkommenskeks. Obwohl er chinesischer Tradition entstammt, möchten wir mit ihm auf die christliche Auffassung verweisen, daß Opfer aller Anlässe und Zielrichtungen möglichst nur auf symbolischer Ebene zu erbringen sind. Keks und eingebackene Sentenz sind ein Analogon zur Oblate und zur Wandlungsanzeige im katholischen Ritus. Unsere Gastrosophin Andrea Kühbacher hat den Keks denn auch nach dem Reinheitsgebot der Innsbrucker Oblatenbäckerzunft hergestellt.
Dann wird zum Aufbruch geblasen, womit wir an vier große Traditionen des Signalgebens mit der Trompete erinnern:
an die Trompeten von Jericho, also an künstlerisch-musikalische Ausdrucksformen, die Mauern, sogar Reiche zum Einsturz bringen können. Wer sich vor ihrer Macht schützen will, definiert sie zu Ruhm- und Siegverkündern um;
an die sphärischen Figuren, genannt Engel, die auch als Putti mit vollen Backen ihr Instrument blasen, um das dicke Wolkengeschiebe in barocken Deckengemälden zu durchbrechen. So eröffnet uns die kindliche Aktionsfreudigkeit eine Ahnung von der Architektur des Himmels;
an den Trompeter von Krakau, der 1241 von den Zinnen des Kirchturms Signal gab, als die mongolischen Reiter sich der Stadt näherten. Bis auf den heutigen Tag wird des historischen Augenblicks gedacht, in dem der blasende Türmer vom tödlichen Pfeil getroffen wurde. Was für ein großartiger Gedanke, im Abbruch einer Melodie einen Moment zu einem Monument werden zu lassen; (20)
an die Bayreuther Gepflogenheit, vom Balkon des Festspielhauses herab die Kunstgläubigen zur Fortsetzung der musikalischen Feier ins Haus zu rufen. Zur Eröffnung unserer Führungen gibt sich der Herr Famosus Christian Bauer größte Mühe, auf seiner Kindertrompete an alle vier Traditionen der Gänsehauterregung zu erinnern.
Wegweisungen durchs Theoriegelände geben uns Darstellungen von elf Themen, die unsere kollektiven Traumatisierungen vergegenwärtigen. Das zwölfte Thema repräsentiert, gleichsam als personifiziertes Trauma, der führende Beispielgeber Brock selbst. Seien wir nicht abergläubisch und ergänzen die 12 zu einer 13, dann ergibt sich die Frage: Wer spielt den Judas? Bisher wollen das immer die Intellektuellen sein, denn sie haben ein großes Vergnügen an dieser Sonderrolle. Also bieten wir den Teilnehmern die Chance, die Judas-Rolle in einer neuen Weise durchzuspielen: nicht mehr als der gläubigste der Jünger, sondern als derjenige, der das sacrificium intellectus auf sich nimmt. Man braucht viel Vernunft zum Opfer des Verstandes, des reinen Gewissens, der Unbescholtenheit und der menschlichen Neigung, alle fünfe gerade sein zu lassen.
Mit Hinweis auf die Generalmaxime „Werk ist abgelegtes Werkzeug“ und die sich daraus ergebende Schlußfolgerung, wir alle, die wir in der imitatio Düreri stehen, müßten Künstler ohne Werk heißen, tritt neben das sacrificium intellectus das nicht weniger bedeutsame sacrificium operis. Duchamp hat den Verzicht auf das Werk vorgemacht, wir müssen das sacrificium operum täglich gegen Verwertungsansprüche verteidigen. Aus dem Schöpferpathos der Großkünstler im Wettbewerb mit dem Weltenbauer der Genesis ist ohnehin bestenfalls noch der Status von Mitarbeitern Gottes abzuleiten, die die primäre Schöpfung fortsetzen: eine erheiternde Begründung von sekundärer Kreativität (lieber Herr Georg Steiner, bei aller Sympathie für Ihr Pathos des Primären!); schon die Humanisten der Dürerzeit setzten die Entdeckertätigkeit höher an als die Afterkunst der Gottimitatoren. Aber nicht die Entgegensetzung von creatio und inventio, von Schöpfertum und Entdeckertum, etwa als Entgegensetzung von Künsten und Wissenschaften, charakterisieren die Moderne. Bedeutungsvoller wurde die vielschichtige Entwicklung der Beziehung von Werk und Wirkung bis hin zu den Extremen von Werken ohne Wirkung (die nie in der Öffentlichkeit präsentierten Dachkammerpoesien aller Gattungen) und von Wirkung ohne Werk (etwa bei Dandies und Bohèmiens einerseits wie auch bei Gestoren, Kuratoren, Regietheaterstars, Moderatoren andererseits). „Auch einer“, meinte dazu der Ästhetikprofessor F. Th. Vischer, und die Neue Frankfurter Schule ergänzte: „Die schärfsten Kritiker der Elche waren selber welche.“
Die elf Themen des Lustmarsches sind auch abgeglichen mit den Herausforderungen der Gegenwart. Die größte Herausforderung für Europa ist die Wiederkehr einer bestimmten Indienstnahme von Buchstabengläubigkeit, die man Fundamentalismus nennt, sei er islamischer, protestantischer, ökologischer oder sonstiger Art. Wir wollen auch demonstrieren, warum Wort- und Begriffshörigkeit so erfolgreich zu wirken vermögen. (21) Naturgemäß sind wir also gehalten, die Demonstration im Theoriegelände nicht derart überwältigend zu inszenieren, daß alle Teilnehmer unsere Botschaften inbrünstig für Offenbarung halten; also werden wir immer wieder Mut zur Irritation durch Unverständlichkeit, Aberwitz und Treulosigkeit gegenüber unseren Grundannahmen beweisen müssen.
Muséalisez-vous – Musealizzatevi – Musealize yourself – Musealisiet Euch!
Anmerkungen
(1) Siehe „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 31. Dezember 2007: „Hans Joachim Döpp, das jüngste Opfer [!] der Krise, stand seit 2002 an der Spitze des für die Commerzbank wichtigen Amerikageschäfts.“ Genereller Tenor: „In Zusammenhang mit der amerikanischen Immobilienkrise sind schon einige Manager entlassen worden.“ Was für ein Eiertanz! Besagte Manager haben die Krise selbst bedenkenlos herbeigeführt. In der „Süddeutschen Zeitung“ vom 15. November 2007 lesen wir: „Ein Großteil der Versicherer handelt nach der Strategie ,Aussitzen und Abwimmeln‘“. Der Versicherer Aspecta erhielt von einer Kundin 152.000 Euro für ihren Lebensversicherungsvertrag. Nach vorzeitiger Kündigung erhielt sie 101.593 Euro zurück. Mehr als jede zweite Lebensversicherung wird vorzeitig wegen Einkommenseinbußen durch Arbeitslosigkeit, Scheidung, Krankheit oder zwecks Eigentumserwerbs vorzeitig aufgelöst. Die knappste Schätzung laut SZ besagt, daß den Kunden jährlich mindestens 3,3 Milliarden Euro von den Versicherern aus deren Einzahlungen vorenthalten werden. 7 Millionen Verträge müßten laut BGH vom Oktober 2005 von den Versicherern nachträglich begünstigt werden, aber nur, wenn jeder einzelne klagte, denn die Versicherer wimmeln ab und sitzen aus. Es ist ganz offensichtlich, daß diese Art von Betrug für legal gehalten werden soll, und zwar nicht nur von den legalisierten Mafiosi selber, sondern auch von deren Vollzugsfunktionären im Parlament. Scheinbar ist Systemrationalität darauf ausgerichtet, die Verfolgbarkeit von Wirtschaftskriminalität wegen sogenannter unentwirrbarer Durchmischung von Rechtskonstruktionen der Firmenstruktur, wegen mangelnden Prüferpersonals und wegen überlegener Intelligenz der zur Kriminalität Fähigen gegenüber den dazu nicht Fähigen, auszusetzen. Dies geschieht, indem man die kriminellen Handlungen legalisiert, weil es im Interesse der Allgemeinheit liege, daß mehr legale als illegale Kriminalität stattfindet. Die Bosse von Siemens beispielsweise gaben bekannt, daß es im Interesse ihrer deutschen Standorte sei, wenn sie Millionen als Schmiergelder zahlten, um entsprechend ins Geschäft zu kommen. Bis in die vorige Legislaturperiode waren Bestechungsaufwendungen sogar steuermindernd. Der Rechtsstaat BRD steht in allen Rankings irgendwo zwischen dem 18. und letzten Platz. Der Schock über die Feststellung, Deutschland gehöre zu den korruptesten Staaten und Gesellschaften auf dieser Erde, ist so groß, daß sich alle Politiker und Unternehmer darauf verlassen können, daß derartige wahrheitsgemäße Aussagen über ihr Tun und Treiben von den Bürgern und Wählern nicht geglaubt werden.
(2) Prof. Dr. Wolf Singer hat als Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, Frankfurt am Main, die neuerliche Debatte um die Willensfreiheit in neurophysiologischer Hinsicht vom Zaun gebrochen.
(3) Siehe Kapitel „Eine schwere Entdeutschung – Widerruf des 20. Jahrhunderts“.
(4) Brock, Bazon: „Krieg den Hütten, Friede den Palästen – Bitte um glückliche Bomben auf die deutsche Pissoir-Landschaft (1963).“ In: ders., Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten. Hg. v. Karla Fohrbeck, Köln 1977, S. 821.
(5) Brock, Bazon: „Das Leben im Schaufenster.“ In: Mode – das inszenierte Leben. Kleidung und Wohnung. Hg. v. Internationalen Design-Zentrum e. V., Berlin 1972, S. 61 ff., vgl. ders. „Mode – ein Lernenvironment zum Problem der Lebensinszenierung und Lebensorganisation. Dazu ein Vorschlag zur Anwendung der Aussagen im Sozio-Design.“ In: ebd., S. 11 f., vgl. den Film „Ästhetik in der Alltagswelt“, SFB 1972.
(6) Brock, Bazon: „Der Künstler als gnadenloser Konkurrent Gottes. Wie Kunst wirksam wird (und doch nicht angebetet werden muß).“ In: ders., Der Barbar als Kulturheld. Ästhetik des Unterlassens – Kritik der Wahrheit. Wie man wird, der man nicht ist. Gesammelte Schriften III, 1991-2002. Köln 2002.
(7) Im Januar 1997 durchwanderten wir den Portikus, die Galerie der Städel-Hochschule in Frankfurt am Main, als Kierkegaard'sches Zimmer an der Hand des ersten europäischen Navigators Palinurus, des von Vergil in der Aeneis geschilderten Steuermanns der trojanischen Flotte, des sogenannten kybernes. Dieser kybernes wurde zum Ahnherr der Kybernetik und zum Mythenstifter der ersten Generation von Atomphysikern, den Enrico Fermi und Robert Oppenheimer für das Gelingen der ersten kontrollierten atomaren Kettenreaktion und der ersten kontrollierten Zündung einer A-Bombe ausdrücklich in Anspruch nahmen. Darüber möge man sich durch die DVD „Navigatoren, Radikatoren, Moderatoren“ (2005) ins Bild setzen lassen.
(8) Yates, Francis: Gedächtnis und Erinnern: Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. Weinheim 1990. Siehe Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 298 ff. Siehe auch Brock, Der Barbar als Kulturheld, S. 794 ff.
(9) 2008 stellte Greenaway in Mailand Leonardos „Abendmahl“ nach; durch den Rekonstruktionsversuch sollten immer noch offene Fragen zur Konzeption des Gemäldes besser beantwortbar werden. Daß derartige Versuche durchaus erfolgreich sein können, belegten Bazon Brock und Studierende in der HbK Hamburg 1967, siehe Brock, Ästhetik als Vermittlung, S. 737 ff.
(10) Siehe den Beitrag von Harald Weilnböck „Das Trauma muss dem Gedächtnis unverfügbar bleiben.“ Trauma-Ontologie und anderer Miss-/Brauch von Traumakonzepten in geisteswissenschaftlichen Diskursen. In: Mittelweg 36, Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 16. Jahrgang, April/Mai 2007, S. 2-64.
(11) Siehe Kapitel „Das Leben als Baustelle – Scheitern als Vollendung“.
(12) Zum Thema „Aussitzen“, den ostasiatischen „Za-Zen“ entspricht das „Sitzen in Versunkenheit“, siehe Wohlfahrt, Günter: Zhuangzi. Freiburg 2002, S. 105 ff.
(13) Bazon Brock hat sich des öfteren als Reinkarnation von Friedrich Schlegel ausgegeben, vrgl. Rezension des Lustmarschs, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26.3.2006.
(14) Siehe Brock, Ästhetik als Vermittlung, S. 373 ff.
(15) Siehe Kapitel „Rettungskomplett – Gorgonisiert euch!“, darin die Gedanken zu einer „Pragmatologie der Vermüllung“.
(16) Siehe Kapitel „Eine schwere Entdeutschung – Widerruf des 20. Jahrhunderts“.
(17) Siehe Brock, Ästhetik als Vermittlung, S. 979 ff.
(18) Siehe Museumsvitrine im Kapitel „Musealisierung als Zivilisationsstrategie: Avantgarde – Arrièregarde – Retrograde“.
(19) Snell, Bruno: Die Entdeckung des griechischen Geistes. Göttingen 2002, Kapitel „Theorie und Praxis“, S. 275 ff.
(20) Siehe „Pfingstpredigt“, experimenta 4, Frankfurt/Main 1971, in: Brock, Ästhetik als Vermittlung, S. 99-107.
(21) Siehe Kapitel „Kontrafakte – Karfreitagsphilosophie – Die Gottsucherbanden – Der Faschist als Demokrat“.
siehe auch:
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Wie Theewen das Offenbare zum Geheimnis macht, die Zukunft als Vergangenheit zu erfahren – Abschnitt in:
GERHARD THEEWEN: PRODUKTION/REPRODUKTION
Buch · Erschienen: 01.01.2015 · Herausgeber: Frihd, Eric Otto
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Ästhetik des Unterlassens – Abschnitt in:
Ökonomien der Zurückhaltung
Buch · Erschienen: 2009 · Herausgeber: Gronau, Barbara | Lagaay, Alice