Seite 353 im Original
III.13 Diskurs als Parcours de la méthode mit Peter Weibel
auf dem Lustmarsch am 1. Juli 2006 in der Neuen Galerie, Graz. (1)
Bazon Brock
Mit der Unterstützung von Peter Weibel gehe ich der Frage nach, wie man Ausstellungen entwickeln kann, daß sie die seit der Antike vermutete Parallelität zwischen körperlicher und geistiger Aktivität befördern. Aristoteles unterrichtete in seiner Schule der Peripatetiker im Gehen. Die mittelalterlichen Mönche absolvierten ihre intellektuelle Arbeit im wesentlichen in einer Art von Parallellauf zwischen verschiedenen Gruppen. Ein Großmeister dieser Parallelisierung zwischen intellektueller und physischer Stimulierung ist Goethe. Er verfolgte den Gedanken des Spazierengehens als eines Inkorporierens von Gedankenfiguren. Deswegen betonte er stets, beim Spazierengehen dürfe man nicht eine Strecke hin- und zurücklaufen, sondern müsse den Weg so wählen, daß die Gedankenfigur komplett abgeschritten werde. Wenn man am Ausgangspunkt ankomme, dürfe man keinen vorherigen Punkt berührt haben. Friedrich Nietzsche behauptete, man solle keinem Gedanken große Kraft zugestehen, der nicht im Gehen entwickelt worden sei.
Diese Anstöße wollen wir in unserer Theorielandschaft umsetzen. Der Begriff „Landschaft“ legt bereits das Moment des Durchschreitens nahe. Die ganze Welt stellt eine Art von Landschaft für die Menschen dar auf dem Wege an ein ihnen unbekanntes, aber benennbares Ziel: das Heil. Ehemals bestand das menschliche Leben in einer ewigen Wanderschaft zum Heil. Die Pilgrimagen waren Märsche auf festgelegte Stationen, währenddessen man das Gefühl entwickelte, das Leben sei eine Bewegung, die sich mit dem Gedanken der Entwicklung verbinde. Um Bewegungsmöglichkeiten zu genießen, mußte man gesund sein. Daraus ergab sich schon zu römischen Zeiten die Parallelität von mens sana in corpore sano, ein gesunder leistungsfähiger Geist in einem leistungsfähigen Trägermedium namens Körper.
Konfrontiert mit dieser Vorstellung von Parallelität, wollen wir untersuchen, ob es sinnvoll ist, Ausstellungsdesign, also die Anlage von Wahrnehmungsangeboten, nach Mustern zu organisieren, wie sie zum Beispiel die Tradition des englischen Landschaftsgartens bereithält. (2) Die Entwicklung der ersten großen Weltausstellungen ist ebenfalls von großem Interesse, da diese Art der Ausstellung heute noch unsere gesamte Ereignisvorstellung prägt. Die Gußeisen-Glas-Architekturen von damals waren gigantische zu durchschreitende Areale. Obschon wir nicht mit Paxton-Hallen aufwarten können, sind wir trotzdem in der Lage, eine modellhafte Spiegelung beider Bewegungen ineinander, der körperlichen Bewegung im Raum und der gedanklichen Bewegung in Bildern und Modellen, anzubieten.
Im Abschreiten von Konstellationen wird ein Lustmarsch der Ideen, der Affektionen oder der Selbsterfahrung vollzogen. (3) Für diese Art von Parallelisierung hat sich der Begriff Parcours eingebürgert. Der Parcours entsteht bekanntermaßen durch das Aufbereiten eines Geländes, das Pferd und Reiter möglichst gut absolvieren müssen. Die Kunst des Parcours-Baus besteht in der Wahl der Bestückung. Damit die Wahrnehmung der Bewegung für den Betrachter attraktiv bleibt, muß sie durch Zeitmessung strukturiert werden. Die Dynamik der Bewegung spielt in diesen Abläufen eine entscheidende Rolle.
Dem Aufeinanderfolgen der Gegenstände entspricht im Bereich der Gedankenbewegung in der neueren Zeit der Diskurs. Die Moderne beginnt mit dem „Discours de la méthode“ des Philosophen René Descartes. Wir versuchen dementsprechend, mit einem kleinen „Parcours de la méthode“ aufzuwarten. Der Diskurs setzt voraus, daß die Bewegung nur intellektuell vorgenommen wird. Bei uns gibt es eine Art Spiegelung zwischen Parcours und Diskurs. Diese Besonderheit wollte ich mit Peter Weibel besprechen.
Peter Weibel
Was Bazon Brock auf seinem Lustmarsch zeigt, ist eine Gedankenausstellung als Experiment. Der Teilnehmer an seinen Führungen wird zu einem Bestandteil dieses Experiments auch in dem Sinne, daß er selbst überprüfen kann, ob die zur Sprache gebrachten Thesen stichhaltig sind. Die von Bazon Brock aufgestellten theoretischen Behauptungen kann jeder Einzelne im Experiment überprüfen. Dazu dienen zum einen die präsentierten Objekte, deren besonderer Status als Vorgabe Teil des Experiments ist. Die hic et nunc gezeigten Exponate benötigt man als theoretische Objekte, um hier und jetzt die Thesen überprüfen zu können. Dieses Verfahren dient dazu, einen Geltungsanspruch der Kunst, der seit hundert Jahren wackelt, wieder zu begründen.
Ich möchte erklären, wieso Bazon Brock seit ungefähr vierzig Jahren nicht nur ein öffentlicher Redner ist, in meinen Augen der größte Redner in Deutschland. Er ist auch immer praeceptor Germaniae, Lehrer der Deutschen. Politiker reden zehn Jahre, selten im Parlament und das schlecht genug, dann sind sie weg von der Bildfläche. Bazon Brock ist eine einmalige Figur, die seit fünfzig Jahren auf höchster Ebene Wirkung entfaltet. Er ist ein zu rühmender Schriftsteller, Dichter und Denker. Ich möchte Ihnen heute zeigen, wieso er auch ein ganz bedeutender Künstler ist. Er wird „Künstler ohne Werk“ genannt, da er nicht im klassischen Sinne Werke herstellt. Er bringt Werke hervor, die anders sind als die, die wir für gewöhnlich kennen. Das möchte ich am Begriff des Parcours und des Diskurses erläutern.
Der Parcours, abgeleitet von per cursus, heißt im Lateinischen „Durchlauf“. Man durchläuft auf einem Gelände bestimmte Hindernisse. Damit Reiter und Pferd eine Chance haben, über die Hürden zu kommen, können sie im Training das Terrain abschätzen. Discursus heißt Hin- und Herlaufen oder Auseinanderlaufen. Es besteht tatsächlich etymologisch ein Zusammenhang. Diskurs ist das Intelligible, das nur im Kopf stattfindet, die reine Vernunft oder der Sinn, wohingegen Parcours das Sinnliche meint, aber auch das Memorabile und Wieder-Erkennbare in der Koppelung von immaterieller Vernunft und materieller Handlung. Von der Schnittstelle dieser beiden Ebenen aus spricht Bazon Brock. Er äußert sich als Dichter und Denker durch Sprache. Bazon Brocks historisches Umfeld Ende der 50er Jahre, also der Zeit des Beginns seines Wirkens, war dominiert von Künstlern, die sich „konkrete Poeten“ nannten. Aus den konkreten Poeten sind Sprachkünstler geworden, Aktionskünstler, Musikaktionskünstler, Happeningkünstler, Konzeptkünstler. Wieso hat damals die Sprache solch eine Rolle gespielt? 1962 ist ein Buch von John Langshaw Austin mit dem Titel „How to Do Things with Words“ (auf Deutsch: „Zur Theorie der Sprechakte“) erschienen. Wie macht man Dinge mit Worten? Die Sprache bewirkt eine Handlung. Das ist genau die Brücke zwischen dem Ideellen, dem Gedanken, und dem, was in Wirklichkeit, materiell passiert. Brock zeigt, wie das Sprechen zur Aktion wird. Weil Hegel postulierte, man müsse die Welt vom Kopf auf die Füße stellen, hat Brock sich auf den Kopf gestellt. Durch die Aktion des Sprechens hat er faktisch eine Theorie exemplifiziert. Das Prinzip der Verkörperung als Beispielgeber hat er auf viele Vorgänge übertragen. (4)
Die Bewegung, der er von Anfang an angehört hat, war von der Frage getragen: Wie hat Sprache mit Wirklichkeit zu tun? Die Sprache ist nicht nur ein Abbild der Wirklichkeit, sondern Sprache erzeugt Wirklichkeit. Die Wirklichkeit kann durch Reden und Denken verändert werden. Wieso muß man als Künstler anfangen, nicht zu bilden, sondern zu reden? Ausschlaggebend war das Beispiel, das Duchamp mit seinem Flaschentrockner bot. In dem Augenblick, als sich das Modell durchsetzte, daß ein Künstler Kunst machen kann, indem er ein Objekt präsentiert, das er gar nicht fabriziert hat, geriet der Begründungszusammenhang und Geltungsanspruch der Kunst ins Wanken. Immer dann, wenn ein Geltungsanspruch gefährdet wird, versucht man, ihn neu zu begründen. Diese Tätigkeit nennt man den Diskurs. Diskurs heißt nichts anderes, als Argumente vorzubringen in einer Kommunikation, um einen Geltungsanspruch oder auch einen Machtanspruch zu begründen.
In dem Augenblick, als die Kunst ihren Begründungszusammenhang als Ideologie des Schöpferischen verloren hatte, mußte sie Argumente finden. In diesem Sinne ist Bazon Brock ein Diskurskünstler. Happening, Fluxus, Konzeptkunst sind im Grunde frühe Formen der Diskurskunst gewesen. Diese durch ihn begründete Diskurskunst führte dazu, daß Künstler wie Beuys, Kiefer, Immendorff damals oder heute Schlingensief, Meese, Wurm oder Hirschhorn diese Konzepte verfolgen: Wie können mit Worten, mit Diskursen, durch das Herstellen von Begründungszusammenhängen Gegenstände hergestellt werden? Ohne daß es die Kunstkritik bemerkt hätte, sind sie alle seine Schüler.
Descartes schreibt vom „discours de la méthode de bien conduire sa raison“, also dem rechten Gebrauch der Vernunft, und von „chercher la verité dans les sciences“, also von der Suche der Wahrheit in der Wissenschaft durch methodisches Vorgehen. Zu den diskursiven Praktiken zählt das Prinzip von Rede und Gegenrede. Foucault spricht von verbindlichen Sprachregeln, die jeder sprachlichen Äußerung zugrunde liegen. Daraus resultiert der Diskurs, der die Gesamtheit aller Regeln, die jeder Äußerung zugrunde liegen, sucht. Das macht Bazon Brock. Er stellt uns die Gesamtheit der Regeln vor, und stellt sie in Frage. Er geht Begründungszusammenhängen nach: Wieso ist dies Kultur – wieso ist das Kunst? Als Diskurskünstler verfügt er über die gedankliche Kraft, diese immer schon impliziten Fragestellungen explizit zu machen. Was die Besucher des Theoriegeländes erleben, ist keine simple Veranschaulichung von Theorien, sondern die Erfahrung diskursiver Praktiken. Bazon Brock ist ein Künstler ohne Kunstwerke im alten Sinn. Aber im neuen Sinn macht er die entscheidende Kunst für das 21. Jahrhundert. Er hat viele Schüler, die diese Diskurskunst in einer Weise aufgreifen, wie sie der Kunstbetrieb (die Galerien, die Kritik, die Sammler und der Markt) gerade noch verwenden kann. Dieser Diskurskunst begegnet man, wenn man Bazon Brocks Schilderungen auf seinem Themen-Parcours folgt.
Bazon Brock
Wenn wir überlegen, was für einen Status die Dinge haben, die wir zeigen, werden wir von abgelegtem Werkzeug sprechen. Besucht man heute ein naturwissenschaftliches Museum, das zufällig einen kleinen Experimentiertisch von Lise Meitner und Otto Hahn besitzt, auf dem sie 1939 ihre Theorie der Kernspaltung experimentell unterfüttert haben, so sieht man Werkzeug, nicht aber das Werk der beiden Wissenschaftler. Das Werk von Hahn und Meitner besteht aus einer Theorie des subatomaren Geschehens. Ebenso verhält es sich inzwischen bei den Künstlern, aber auch in anderen Bereichen des Artefaktschaffens. Das Werkzeug verweist stets auf das, was damit gemacht worden ist. Bei einigen Künstlern scheint die noch sehr auf den herkömmlichen Werkbegriff hin orientierte Interpretation des Werkschaffens wenig Sinn zu ergeben. Was man 1976 im Deutschen Pavillon in Venedig als die „Straßenbahnhaltestelle“ von Joseph Beuys betrachtete, liegt heute, in seine Bestandteile zerlegt, im Hamburger Bahnhof in Berlin: Es ist nichts aufgebaut, Schienen sind parallel abgelegt, ein Denkmalkopf liegt einfach auf dem Boden. Nichts ist mehr vom Werk zu sehen, außer eben abgelegtes Werkzeug. (5)
Peter Weibel
Das ist das Problem, das ich als Kritiker mit dem Werk von Beuys habe. Er ist der naheliegenden Versuchung erlegen, je nachdem, wie der Markt ausschlägt, das Werkzeug wieder in ein Werk zurückverwandeln. Er versuchte, verschiedene Reste von Werkzeugen zusammenzustellen, sie in eine Vitrine zu geben, und dann als Beuys zu verfälschen. Er kam auf diese Idee, weil er der Versuchung erlegen ist, aus theoretischen Objekten wieder Objekte zu machen und das Werk erzeugende Werkzeug selbst zum Werk zu erklären.
Bazon Brock
Aber das wollen wir ihm nicht subjektiv vorhalten. Das Beispiel veranschaulicht Marktbedingungen des Systems Kunst, verbunden mit der Notwendigkeit, in Museen zu präsentieren. Die Beuys’sche Präsentation erinnert an den Tisch von Otto Hahn und Lise Meitner. Auch wenn jemand auf die Idee käme, um den Tisch von Meitner und Hahn herumzugehen und die kleinen, noch aufgebauten Relais zu betrachten, würde er niemals dem wissenschaftlichen Werk in seiner Bedeutung nahekommen. Man könnte ewig darauf starren, ohne von dem Sinn der naturwissenschaftlichen Veranstaltung etwas zu begreifen.
Ähnlich verhält es sich mit der afrikanischen Kultmaske aus unserer Museumsvitrine. (6) Auch noch so langes Anstarren der Maske führt nicht zu der Erkenntnis ihres Gebrauchssinns. Den Gebrauch nennt man in diesem Falle Kult. Kann man den Kult nicht erschließen, ist man unfähig, den Bildwert abzulesen. Wird eine Kultmaske in westlichen Museen als Kunstwerk ausgestellt, zeigt das vor allem den Hochmut gegenüber den Bedingungen, unter denen das Kultobjekt zustande gekommen ist. Betrachtet man solche Artefakte, wird die Kenntnis der Qualität des abgelegten Kultwerkzeugs vonnöten sein. Das einzige Objekt, das für sich allein stehen kann, ist ein Kunstwerk, sofern es auf den Kunstdiskurs ausgerichtet ist. Der Kunstdiskurs muß immer schon mitlaufen und beherrscht werden.
Peter Weibel
In der Tat. Betrachtet man in einem Museum die Maske eines Krokodils, fragt man sich vielleicht, ob sie gut oder schlecht geschnitzt ist. Was wohl nicht alle wissen, ist, daß die Eingeborenen eine andere Leib-Seele-Vorstellung vertreten als wir. Wir gehen davon aus, daß alle Lebewesen die gleiche Seele haben, nur unterschiedliche Körper. Der Europäer übersieht in diesem Kontext den Gedanken des Kults, daß nämlich der Träger der Krokodilmaske mit dem Krokodilkörper eine Krokodilseele gewinnt. Auch in diesem Fall ist es gar nicht anders denkbar, als Diskurs und Parcours zusammenzubringen.
Bazon Brock
Der Begriff des Kultischen ergibt sich tatsächlich aus diesem Zusammenfallen. Ausschließlich die inneren theologisch-religiösen Argumente zu beherrschen, ist nicht hinreichend. Als Teilnehmer am Kult muß man sich auch bewegen, den Parcours des Schlangentanzes absolvieren. Die veraltete Ansicht, Kunstwerke seien Objekte, die aus sich heraus sprächen, wird durch den stets mitgeführten Diskurs überwunden. Kleine Anleitungsheftchen und museumspädagogische Vorturner bringen uns typische Formen der Bewegung im Museum bei, also bestimmte Rituale.
Vornehmlich die Künstler entwickeln inzwischen die Rituale als Kernstück ihrer Arbeit, ob als Happening, action teaching, action painting oder action music. Die das Ritual bestimmenden Objekte sind wiederum nur Instrumente oder Werkzeuge. Künstler wie Betrachter von Kunst üben sich in der Ritualisierung des Verhaltens vor den Objekten, die als Attraktoren unsere Wahrnehmung fesseln. Oder uns zu dem Bekenntnis herausfordern: Ich kann damit nichts anfangen. Im Grunde genommen ist das die einzige vernünftige Aussage, die man machen kann, wenn man nicht den Diskurs verfolgt. So jemand wird niemals die Einheit von Diskurs und Parcours in der Ritualisierung herstellen können.
Peter Weibel
In dem erwähnten Buch von J. L. Austin, übrigens einem Wittgenstein-Schüler, war die Rede von der performativen Wende. Bazon Brock hat schon vor Beuys diese performative Wende vollzogen. Er hat mit Joseph Beuys sehr oft zusammengearbeitet, bis hin zur gemeinsamen Gründung einer Studentenpartei. (7) Beuys war gewissermaßen auch ein Gedanken- und Diskurskünstler. Der Unterschied: Beuys war mehr romantisch, weniger philosophisch veranlagt.
Bazon Brock
Beuys war ein wirklicher Schamane. Er führte ein außereuropäisches Legitimationsverfahren wieder in die Kunst ein.
Peter Weibel
Er hat das immer mit der Rede verbunden. Die Analogie zu Bazon Brock ist offenkundig: Während der Hundert-Tage-documenta zelebrierte Beuys seine Installation, seinen Parcours, und redete jeden Tag. Das ist in meinen Augen eine gelungene Imitation der Verfahrensweise der Brock’schen action teachings. Die Performances waren immer begleitet von Reden. Als Beuys 1976 die Möglichkeit hatte, eine Aktion für eine Satellitenübertragung zu veranstalten, machte er nichts anderes als zu reden. Das diskursive Element ist bei Beuys vorhanden, nur vernachlässigte er es zugunsten der schamanenhaften Aktivität.
Bazon Brock
Das Entscheidende für die Wechselposition des Wissenschaftlers, des Technikers, des Künstlers und des Essayisten ist das schamanistische Verfahren der Legitimation, auf dem Beuys bestand. Wenn in einer sibirischen Gesellschaft jemand den Anspruch erhob, als Arzt tätig zu sein, mußte er sich selbst mit Giften durch Pilzessen in den Zustand extremer Erkrankung bringen. Er hatte eine Prüfung zu bestehen, nämlich die durch ihn selbst verursachte radikale Erkrankung heilen zu können. Die Heilung der selbst induzierten Krankheit legitimierte ihn als schamanistischen Arzt. Erst wenn er alles durchlitten hat, worum es ihm in der Behandlung der Leiden anderer geht, ist er ein Schamane. Merkwürdigerweise fällt dieser Gedanke exakt mit dem Prinzip zusammen, das Europa vor sechshundert Jahren groß gemacht hat, als nämlich das Prinzip „Autorität durch Autorschaft“ entdeckt wurde. Wenn ein Schamane sich als Arzt legitimiert, ist das auch nichts anderes als ein Autoritätsgewinn. In Europa besitzt Autorität, wer Autor ist. Autor ist ein Individuum, das sich selbst durch seine Produktion von Aussagen legitimiert. Es vermag etwas zu behaupten, ohne Verweis auf den state of the art, auf die ständische Organisation, die Kontrolle durch die geistlichen Autoritäten oder weltlichen Herrscher. Ein Künstlerindividuum ist, wer eine Aussage ausschließlich durch sich selbst begründet. (8) Das ist das Kunstprinzip. Und Beuys entdeckte, daß das uralte, vornehmlich sibirische, schamanistische Prinzip mit dem westlichen Individuationsprinzip „Autorität durch Autorschaft“ parallel läuft. Wir sind an allen Legitimationsformen interessiert, bei denen ein Individuum selbst Attraktivität besitzt und Interesse für sich beansprucht, ohne jedoch dem Publikum mit Belohnung zu winken oder mit Bestrafung zu drohen. Denn in Kunst und Wissenschaft gilt nur, was jemand als einzelner Autor demonstriert.
Der Konflikt ergibt sich nun für das Individuum aus der Tatsache, daß heute alle Menschen, auch die Künstler und Wissenschaftler, in verschiedensten Legitimationszwängen leben. Sie müssen sich als Familienväter anders legitimieren denn als Angehörige eines öffentlichen Instituts, als Professoren oder Lehrer. Wie sind diese verschiedenen Begründungen von Geltungsansprüchen miteinander in Ausgleich zu bringen? Man stellt allenthalben fest, daß wir innerhalb dieses Systems sozusagen zu einer Schizophrenie verurteilt werden. Angesichts des ungeheuren Legitimationsdrucks sind die meisten Bürger froh, wenn sie zu keiner Äußerung gezwungen werden. Aber selbst in der Kunst muß man mit einer ganzen Reihe von Rechtfertigungsverfahren rechnen.
Peter Weibel
Gerade konservative Kritiker gehen so weit, dies der Kunst vorzuwerfen. Der berühmte amerikanische Journalist Tom Wolfe schrieb ein Pamphlet (auf Deutsch: „Mit dem Bauhaus leben“), mit dem er forderte, man solle in New York nicht die Kunstwerke ausstellen, sondern die Texte der Kunstkritiker, die diese schlechte Malerei zu Kunstwerken gemacht hätten. Die Kunstwerke seien eigentlich nicht gut. Aber wenn durch die Texte der Kunstkritiker dieser Dreck legitimiert werde, gehörten folglich die Texte ebenfalls in den Museumskontext. Zumindest solle man im Inneren des Museums die Kunstwerke aufhängen und vor dem Gebäude auf Fahnen diese wichtigen Begründungstexte von Theoretikern der Moderne präsentieren. Er argumentiert, wenn es sich bei den Werken schon nicht um Kunstwerke handele, dann solle man wenigstens diejenigen ehren, die in der Lage seien, das angewendete Verfahren zur Kunstproduktion zu legitimieren.
Diese Angriffe von der konservativen Seite auf die Legitimität der modernen Kunst betreffen auch die Legitimität der Wissenschaft. Letztere ist nicht nur ebenso kommentarbedürftig, sondern muß sich ebenfalls ununterbrochen legitimieren und neue Standards setzen.
Bazon Brock hat auf die Experimente von Meitner und Hahn verwiesen: Hahn führte die Experimente zwar durch, verstand aber selbst nicht, was da eigentlich vor sich ging. Er mußte erst einen Brief an die damals schon ins schwedische Exil gezwungene Österreicherin Lise Meitner schreiben. Sie war es dann, die, mit ihrem Neffen Otto Fritsch, plötzlich die Untersuchungsergebnisse zu interpretieren verstand und Hahn erklärte, wie eigentlich die Kernfusion möglich sei. Aus diesem historischen Beispiel geht einmal mehr die Dominanz der Theorie, des Kommentars und des Diskursiven hervor. Diese Koppelung von Experiment und Theorie ergibt erst das Werk. Der Parcours ist nicht mehr vom Diskurs zu separieren. Nur schlechte Wissenschaft und schlechte Kunst können das. Wenn Kunst verlangt wird, die nicht kommentar- und theoriebedürftig sein soll, dann will man im Grunde die Kunst zurückbomben vor die Neuzeit. Deshalb beharre ich darauf, in Bazon Brock einen der größten neuzeitlichen Künstler zu sehen, weil er einer der wenigen ist, die für die Legitimationskrise der Kunst Modelle anbieten, mit denen aus dieser Krisis herauszukommen möglich wird. Das ist eine große, nicht nur denkerische, sondern auch künstlerische Leistung.
Bazon Brock
Was bedeutet es nun für die Praxis des Ausstellungsmachens, wenn man die diskursive Begründung mit den performativen Akten zusammenbringen muß? Die Dinge werden in einem Raum so präsentiert, daß sie erstens selbst den Diskurs unter sich nachzeichnen oder wenigstens eröffnen und daß man zweitens natürlich das Ganze dann wieder als einen Parcours, nämlich als ein nacheinander Abzuschreitendes aufbaut, so daß die Elemente miteinander durch dieses Nacheinander in eine neue Art der Beziehung geraten. Die Beziehung stellt sich im Museum als eine Art von Dialog dar, den zwei Bilder an einer Wand führen. Auf diese Logik der konstellativen Verhältnisse waren die Hängelehren immer schon ausgerichtet. Auf einem Parcours wird der Besucher durch die Art der Inszenierung oder die Art der Präsentation veranlaßt, einerseits sich im Diskurs zu bewegen und andererseits dabei eine Entwicklungsgeschichte oder eine Themenentfaltung abzuschreiten.
Peter Weibel
Was Bazon Brock mit seinem Theoriegelände unternimmt, geht über die gängigen Techniken des Zusammenfügens von Dingen im Raum hinaus. Denn er schreibt quasi einen Essay im Raum. Und er schreibt mit Text, Bild, Objekt, Photographie, mit allem Erdenklichen, was das Museum bietet. Er untersucht die Bedingungen, die sich bei musealen Äußerungen stellen. Er verwendet nur Dinge, die der Legitimationszusammenhang des Museums kennt: Rauminszenierungen, Sockel, Vitrinen, Schautafeln, Demonstrationsobjekte und natürlich die Kult- und Kunstwerke. Er stellt sie zusammen, um zu fragen: Wieso ist nicht auch eine Bäckerei ein Museum? Wieso benutzt man nicht andere Ausstellungsorte, etwa ein Kaufhaus? Dada hat Aktionen gemacht, die sich mit dem Kaufhaus als Museum, dem Museum als Kaufhaus beschäftigten. Nur der Filmdenker Jean-Luc Godard hat bisher eine vergleichbare Ausstellung im Centre Pompidou gemacht. Sie artikuliert insofern eine ähnliche Erfahrung, da sie zeigt, wie ein Künstler die Ausstellung selbst zum Kunstwerk werden läßt.
Bazon Brock
Die westlichen Kunstmuseen sind so wahnsinnig steril geworden, da überall nur ein einziger ontologischer Objekt-Status, nämlich das Kunstwerk vorkommt. Das führt zur tautologischen Abnickbewegung: Kunst ist, was im Museum gezeigt wird und im Museum wird gezeigt, was Kunst ist. In anderen Museumstypen gibt es dagegen sehr unterschiedliche Objekte. Das alte völkerkundliche Museum ist deshalb interessant, weil die Welt hier in einem viel reicheren Maße tatsächlich die Vielfalt der Dinge bietet, die wir auch außerhalb des Museums auffinden. Etwas wird als Lehrmittel, als Devotionalie, als Souvenir eingesetzt. Langweilig dagegen ist die Bildergalerie als Museum: Ist es Kunst? Ja, es ist Kunst, weil es ins Museum kam. Wir wollen den Dingen die Möglichkeit zurückgeben, mit in den Diskurs einbezogen zu werden. Wir reichern unsere Diskurse um die Partnerschaft der Dinge an. Am besten wäre es, man würde immer die diskursive Bewegung gleich in die Parcoursbewegung einbeziehen.
Peter Weibel
Die ersten Collagen von Picasso & Co sind eigentlich Parcours mit willkürlich eingebauten Hindernissen auf einer Fläche: hier ein Holzsplitter, dort ein Fahrschein, dazwischen ein Zeitungsblatt. Daraufhin hat sich das Denken der Collage auf den dreidimensionalen Raum zu einer Assemblage ausgedehnt. Dann haben sie sich dem ethnologischen Museum zugewandt, weil dort eine Vielfalt an Objekten anzutreffen war. Das von Claude Lévi-Strauss eingebrachte Wort bricoleur war, so gesehen, eine Antwort auf die Verarmung der Objektauswahl in der historischen Kunst und war zu einem Modell des Künstlers geworden. Bazon Brock betreibt sozusagen die extreme Weiterentwicklung der Assemblage, also die Einführung einer gleichwertigen Vielfalt von Objekten, Texten und Bildern, die mit diskursiven Mitteln in Konstellationen überführt werden.
Bazon Brock
Was ich hier zusammenstelle, ist eine Art beispielhafte Darstellung. Ich nenne das Exemplifizieren. Ich gebe ein Beispiel, wie man seine Rolle innerhalb dieses Regimes der institutionalisierten Re-Kultivierung übernehmen kann. Täglich sind wir zu Anstrengungen verpflichtet: Wollen wir als Konsumenten wirklich Gegengewichte der Produzenten sein, müssen wir etwas von den Waren verstehen, müssen Testzeitungen lesen, Vergleiche anstellen und uns zu warenkundlichen Kennern professionalisieren. Indem wir die Kriterien der Unterscheidung beherrschen, können wir auf das System einwirken. Selbst in der Wissenschaft ist die Entwicklung noch nicht so weit gediehen, daß die aktive Rolle des Verbrauchers von Wissenschaft allgemein akzeptiert würde. Bestenfalls im Bereich der Medizin und der Ärzteschaft beginnt das Publikum, eine aktive Rolle als Patient zu übernehmen. Die Patienten sind neben den Ärzten, Wissenschaftlern und Institutionsleitern ganz wesentliche Träger des gesamten Diskurses. Diese Verhältnisse gilt es nun endlich auch im Kunstbereich durchzusetzen. Stattdessen werden Kunsthallen zu Tresoren, in denen die Bilder als Werte wie in Goldkammern lagern. Aber niemand fühlt sich verpflichtet, eine aktive Rolle zu übernehmen, beispielsweise vor den Bildern den Diskurs zu repräsentieren.
Peter Weibel
Bazon Brocks Erfindung ist von Anfang an das action teaching gewesen. Teaching ist die Lehre mit dem Wort. Aus der Verknüpfung zwischen Parcours als action und Diskurs als teaching besteht Brocks Wirken: How to do things with words. Ich weise auf eine Analogie zwischen der Bibel und den action teachings von Bazon Brock hin: Das Wort ist Fleisch geworden. An diesem Punkt kommen das Performative und das Diskursive zusammen. Wie der Parcours funktionieren kann, sieht man im Rahmen der Liturgie. Bei der heiligen Kommunion stellen sich die Menschen in einer Reihe an, knien nieder, erhalten eine Oblate, die man in jedem Geschäft kaufen kann, und dann heißt es: Iß den Leib Gottes. Und mit dem ebenso käuflich zu erwerbenden Wein trinkt man das Blut Christi.
Bazon Brock
Die Menschen erbringen jeden Tag den Beweis, indem sie täglich Fleisch und Gemüse essen, also das Inkarnationsgeschehen aufrechterhalten. So gesehen, ist verständlich, was mit dem Ausspruch „Das ist mein Leib“ gemeint ist. Sie müssen es aber auch verkörpern, indem sie in der Kirche dem Leidensweg Christi folgen. Sie absolvieren als Gläubige in der Kirche den Parcours. Mit den Monstranzen, den Fahnen, den rituellen Gewändern und den Lichtinszenierungen wurden symbolische Repräsentationen des Geschehens entwickelt.
Wie kann nun ein Publikum die Bereitschaft entwickeln, tragender Pfeiler des gesamten Kults Kunst zu sein? Zwar sind Kultur und Kunst prinzipiell geschieden voneinander, weil Kunst ja nicht kulturpflichtig ist. Aber dann kommt in der kultischen Organisation doch wieder beides in seinem eigentlichen Wert zusammen. Kultur, also Religion, Sprache, Kochrezepte, und Kunst, die individuelle Behauptung von etwas, was nur durch den gilt, der es behauptet, berühren sich tatsächlich wieder in der Form des Kults. Nun gab es zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine radikal auftretende und deswegen attraktiv erscheinende Form des Kults. Ihr Name war „Re-Barbarisierung“. (9) Dieses Zaubermittel, dem Thomas Mann in den Herrensalons Schwabings begegnete, war der Diskurs, der zu einer performativen Ausarbeitung kommen sollte, nämlich als Nazipartei oder als kommunistische Partei. Beide Seiten entfalteten ein eigenes Angebot, sich selbst in einen Parcours der Re-Kultivierung als Barbar mit einzubringen. Mit dem Titel des Werks „Ornament der Masse“ beschrieb Siegfried Kracauer die Art, wie der Parcours angelegt war.
Wir sind gegenwärtig dazu aufgefordert, entweder die Museen als Schatzkästlein voll toten Zeugs zu würdigen oder aber die Lebendigkeit des Weltbezuges ebenfalls im System Wissenschaft und Kunst zu sehen. Wissenschaft und Kunst haben aufzuholen gegenüber der Attraktion der außerwissenschaftlichen und außerkünstlerischen Welt. Dazu müßten wir uns selbst alle als Träger des performativen Teils des Kultes einbringen. Eine Re-Kultivierung wäre dann wirklich im Sinne einer Rückerziehung zu verstehen. Re-Kultivieren hieße, sich selbst wieder in einen kultischen Zusammenhang zu stellen. Dieser Kult wäre aber nicht mehr nur die laufende kultische Selbstbetätigungsform der kulturellen Gewißheiten, sondern der Kult der kulturellen Relativierung. Durch den bestehenden Zwang des Zusammenlebens vieler Kulturen auf engem Raum kommen eigentlich nur zwei Möglichkeiten in Betracht: Sie führen gegeneinander Krieg, bis durch Ausscheiden der Einen sich die Anderen homogen ausbreiten können. Oder aber sie wissen um die Notwendigkeit, etwas als kultisch empfinden zu müssen, was wir als transkulturelles Changieren zwischen verschiedenen Strategien bezeichnen. Die Bewegung zwischen diesen Gewißheiten der Kulturen gilt es, als eine Art von kultischer Form auszubauen. Eine Vielzahl von Künstlern bezieht bereits ihre Aussagenansprüche aus dem wechselseitigen Ineinanderblenden verschiedenster Ursprünge als Crossover-Kunst.
Eine andere Möglichkeit ist, die Bewegungen innerhalb der zivilisatorischen Formen, also der nicht mehr kulturell legitimierten Wissenschaften und Künste, ihrerseits mit der Dynamik auszustatten, die die Kulturen so attraktiv macht. Das bedeutete für Wissenschaftler, wieder den Begriff der community, den Familien- und auch den Schulbegriff einzuführen. All dies wollte man eigentlich hinter sich lassen. Man wollte ja gerade aus dem Terror der Schule, der Familie, der Kirchen und Glaubensgemeinschaften aussteigen. Nun aber muß man die Sphäre des wissenschaftlich-künstlerischen Arbeitens doch wieder mit solchen Formen der ritualisierten Einbeziehung der Diskurse anreichern. Die Fähigkeit und Kraft, eine scharfe Formalisierung zu entwickeln, heißt vor allem, die Formalisierung durch Verfahren stark zu machen. Heute muß jeder Künstler einer bestimmten Begründungspflichtigkeit Folge leisten und Verfahrensregeln durchziehen, um Echo zu finden.
Peter Weibel
Die besten zeitgenössischen Wissenschaftssoziologen machen genau das, was Bazon Brock für die Kunst fordert: Sie beschreiben das Entstehen von Wissenschaft als das, was Descartes discours genannt hat. Sie sagen, daß wir das Feld der Akteure erweitern müßten. Der Besucher oder Betrachter ist selbst aufgefordert, Teil der sogenannten Kunstgemeinschaft zu werden. Der Patient ist genau so wichtig wie der behandelnde Mediziner. Die Wissenschaftshistoriker gehen noch einen Schritt weiter. Sie beschreiben auch immer die Werkzeuge. Sie zeigen beispielsweise, mit welchen Werkzeugen die Juristen arbeiten, welche Rolle diese im Begründungszusammenhang spielen. Der Verweis auf die Wichtigkeit des Werkzeuges wird zum Standard juristischer Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsgeschichte. Umso notwendiger ist es, diese Standards auch auf die Kunst zu übertragen.
Bazon Brock
Was sind aber die Regeln, nach denen man sich in einem solchen Parcours bewegt? Wir kennen das Beispiel der Geschichte der Demokratie. Zu antiken Zeiten hieß es noch, jeder einzelne Bürger habe seine Würde aus dem Glauben abzuleiten, daß das gesamte Leben in der Demokratie nur mit seiner aktiven Teilnahme möglich sei. Durch die Formalisierung der alle vier Jahre stattfindenden Wahlen nach den immer gleichen Regeln ist das Ganze stumpf geworden; die Leute belächeln den Urnengang bereits. Man muß aber in der Lage sein, bestimmte Verfahrensvorgänge und Regeln einhalten zu können.
Das Schwierige im Umgang mit unseren Besuchern ist die Tatsache, daß sie ja die Eintrittserlaubnis gegen Geld kaufen. Wir dürften eigentlich keinen Beleg der Begründung für den Zugang dazwischenschalten. Der Beweis hieße: Zeig dein Interesse! Aber geht man heute durch Ausstellungen in Galerien und Museen, so sieht man zwei oder drei Leute müde durch die Räume schleichen. Das ist eine Bankrotterklärung für die Institution. Gibt es kein Publikum, so ist auch der Diskurs hinfällig. Das Werk wird gleichsam vernichtet. Es lebt ausschließlich im Diskurs, dessen einer Bestandteil eben die Betrachter, der andere die Künstler sind. Die Vermittlung dazwischen ist das Werk als materiell-physisches Werkzeug des Aufbaus dieser Verbindung. Ohne Vermittlung zwischen den Produzenten und den Lesern gibt es die künstlerischen Sachverhalte auch nicht. Im Feuilleton gelingt dies schon lange nicht mehr. Die Kunst ist abhängig vom Diskurs. Jeder darf sich klar machen, daß seine Würde als potentielles Mitglied des Diskurses nicht darin besteht, als Richter aufzutreten. Denn verkennt man sein Interesse am Austausch mit anderen, ist die Sache erledigt. Die Verweigerung ist der gefährliche Punkt, an dem das diskursive Angebot der Behauptung schon nicht mehr aufgenommen wird. Abhilfe versucht man gegenwärtig zu schaffen, indem man den Diskurs zu einem Ereignis oder einem Event macht. Die zeitgenössische Vereinigung des Diskurses mit einer Kleinstform des Parcours ist der Eröffnungsempfang mit Minimalbewegung bei small talk.
Einen ganz anderen Anreiz für die Teilnahme am Diskurs bot für uns Anfang der 60er Jahre die Möglichkeit, nicht beim Eintritt Geld an der Kasse zu hinterlegen, sondern die Taschen zu entleeren. Alles, was in den Taschen enthalten war, wurde auf einem großen Tisch ausgebreitet und anschließend getauscht, nach Kriterien der Argumentationsgeschicklichkeit im Diskurs. Man könnte das für eine intelligentere Art des Reliquienkults halten. Wer den Erwerb und Gebrauch von Souvenirs, Amuletten, Totems oder Schutzengeln für verachtenswert kleinbürgerlich hielt, konnte sich durch intelligenzbewehrte Memorabilien als Aura-Ausweis schadlos halten. Noch im 19. Jahrhundert haben die Bürger das sehr populäre Pfänderspiel gespielt. Ich betrieb eine moderne Version des Pfänderspiels, bei der jeder, der gestehen mußte, den Diskurs nicht zu kennen, etwas abgeben oder bezahlen mußte. Aber im gewissen Sinne ist das bereits Realität. Weiß man nicht weiter, kauft man sich frei. Jeder, der in eine Galerie kommt und sich düpiert findet, weil er nicht in den Diskurs eintreten kann, überspringt sein Unvermögen durch die großartige Erfindung des Kaufs. Wie viele Sammler kaufen Bilder ausschließlich, um der Diskurspflicht zu entgehen!
Mit dem Kauf entwickelt der Käufer einen Zugang zum entscheidenden Parcours – der Sammlung. Das ganze System des Sammlerwesens ist ja die entschiedende Ausprägung eines neuen Kultes, also einer Re-Kultivierung des Verhältnisses von Haben und Wissen. Resultat: Haben als Wissen, Besitz als Weltbild. Der Sammler ist fein raus. Keiner fragt ihn danach, ob er auch dem Diskurs gewachsen ist. Denn er hat sich bereits gerechtfertigt, indem er das Gegengewicht in Geld hinterlegt hat.
Peter Weibel
Der Sammler macht sich seinen eigenen Parcours. Duchamp hat gesagt, der Sammler sei der Künstler zum Quadrat. Den Parcours gibt es auch ein zweites Mal. Der Privatsammler muß kaufen, der Staat kann rauben. Der Raub ist die zweite Technik. Der Raub ist, genau so wie der Kauf, die Technik schlechthin, sich dem Diskurs zu entziehen.
Bazon Brock
Eine dritte Strategie nach Kaufen und Rauben besteht darin, auf elegante, nämlich erkenntnistheoretische Weise das Museum mit Fälschungen zu durchsetzen.10 Mir bereitet die Vorstellung das höchste Vergnügen, die Bilder in den Museen seien alle gefälscht, und dann die Frage zu beantworten: Worin bestünde der Unterschied zwischen dem Original und dem Fake?
Peter Weibel
Fakes sind Thema von Friedrich Nietzsche bis zu Orson Welles. Sie sind insofern so wahnsinnig interessant, weil sie die ästhetischen Defizite der Kunst extrem deutlich machen. Bewußte Fälschungen zeigen, wie wacklig der Begriff Original oder Autor ist. Das berühmte Beispiel de Chiricos hat gezeigt, daß die Künstler selbst oft genug nicht mehr wissen, was sie gemacht haben. Es wurden ihm Werke vorgelegt, die nachweislich seine Werke waren. De Chirico hat gesagt, es handele sich um Fälschungen – und vernichtete die Arbeiten. Wenn der Maler selbst nicht mehr feststellen kann, welche seiner Werke Fälschungen sind und welche nicht, dann merkt man, wie tief der Sumpf der Theorie ist. Eine weitere berühmte Fälschungstechnik heißt im übrigen Restaurieren.
Bazon Brock
Es steht fest, daß wir nicht mehr ins Museum gehen können, um die Bestätigung zu erhalten, was an der Wand hänge, sei Kunst. Wir gehen ins Museum, um in die Erörterung von Problemen einbezogen zu werden. Das Museum verwandelt sich aus einer Beglaubigungsinstitution für Kunst zu einem Ort, an dem der Diskurs, die Erörterung von grundlegenden Problemen möglich wird. Es kann nach Kenntnis der Fake-Problematik nicht mehr darum gehen, dort einer Gewißheit teilhaftig zu werden. Das Museum ist dazu da, das Interesse eines Publikums zu dokumentieren, sofern nicht der Kauf dazwischen kommt und man sich damit aller Probleme entledigt. Selbst zum Träger eines Problems und der Erörterung dieses Problems zu werden, das Problem sozial zu übersetzen, gemeinsam eine kleine Parcours-Wanderschaft in Gang zu setzen, heißt in letzter Konsequenz, psychisch stabiler und generell lebensfähiger zu sein. Im souveränen Umgang mit der Erfahrung von Relativität, von Vieldeutigkeit, von Faken als einer bewußten Demonstration der Falschheit, schwenkt man unweigerlich auf die Spur des Richtigen ein. Beim Verlassen des Museums mag uns dann die hinzugewonnene Souveränität helfen, uns intellektuell und emotional auf gravierende Probleme vorzubereiten. Schließlich wird es unnötig, bei jedem Konflikt gleich nach der Polizei zu rufen oder eine Kampfgemeinschaft namens Kultur zusammenzutrommeln. Wenn man das zuläßt, wird man sich selbst gleich viel interessanter. Sigmund Freud hat diesen Mechanismus bestätigt, indem er das Wesen der Psychotherapie als Zugewinn an Zutrauen zu sich selbst umschrieb. Die Psychotherapie als eine Art von sozialer Adelung eines Menschen aufzufassen, hat den Vorteil, daß der eigene Fall als eine interessante Sache erscheint. Das Aushalten von Problemen kann sogar positiv aufgegriffen werden. Mit dieser Art von Interesse erhöht man spekulativ die eigene Wertigkeit.
Ich kann an den Appell anknüpfen, den ich schon 1959 auf meine Visitenkarten druckte: always fishing for complications. Normalerweise wird nach Komplimenten gefischt. Ich dagegen empfehle eine intelligente Art von Komplikationen.
Macht keine Kunst, macht Probleme! Entwickelt einen Diskurs, also ernsthafte und unumgängliche Einlassungen, die in einen interessanten Parcours münden!
Anmerkungen
(1) Die Dokumentation der Lustmarsch-Diskurse mit den Partnern Renate und Wolfgang Liebenwein sowie Fabian Steinhauer in der Schirn Frankfurt, mit Hartmut Zelinsky im Haus der Kunst München, mit Hans Ulrich Reck im Museum Ludwig in Köln, mit Christoph Schlingensief in der Volksbühne Berlin, mit Martin Warnke in der Sammlung Falckenberg, Hamburg, mit Wolfgang Ullrich im Museum der bildenden Künste in Leipzig, mit Manfred Schlapp im Perforum Kulturzentrum Pfäffikon und im Cabaret Voltaire Zürich, mit Ulrich Heinen im Von der Heydt-Museum in Wuppertal, mit Stephan Lohr in der kestnergesellschaft, Hannover, wird separat veröffentlicht, sobald die Gelegenheit dazu geboten wird.
(2) Siehe Kapitel „Musealisierung als Zivilisationsstrategie – Avantgarde – Arrièregarde – Retrograde“.
(3) Zum Gedanken der Konstellation siehe Englischer Garten Wörlitz, in: Brock, Barbar als Kulturheld, S. 794 ff.
(4) Bazon Brock als „Beispielgeber im Beispiellosen“ siehe Kapitel „Das Leben als Baustelle – Scheitern als Vollendung“.
(5) Zum Thema „Kunst ist abgelegtes Werkzeug“ siehe Kapitel „Musealisiert Euch! Europas Zukunft als Museum der Welt“.
(6) Siehe Kapitel „Musealisierung als Zivilisationsstrategie – Avantgarde – Arrièregarde – Retrograde“.
(7) Siehe Abbildung in: Brock, Barbar als Kulturheld, S. 291.
(8) Siehe Kapitel „Eine schwere Entdeutschung – Widerruf des 20. Jahrhunderts“.
(9) Dieser Ausdruck stammt aus dem 34. Kapitel des „Doktor Faustus“ von Thomas Mann. Siehe Kapitel „Selbstfesselungskünstler gegen Selbstverwirklichungsbohème“.
(10) Siehe Kapitel „Faken – Erkenntnisstiftung durch wahre Falschheit“.