Der Künstler Richard Long wurde 1945 in Bristol (England) geboren, nicht weit von den prähistorischen Erdwerken der Salisbury Plains. Er lernte früh die kultischen Erdzeichen zwischen Wales und Schottland kennen, deren bis heute ungeklärte Entstehungsgeschichte jedermann fasziniert. Long orientiert sich am tradierten Bild des Menschen als Viator Mundi, als ewigem Pilger, um individuelles Leben und künstlerisches Werk zur Einheit zu bringen. Werklauf und Lebenslauf können ganz wörtlich verstanden werden, da Long sein Leben und Werkschaffen im Gehen vollzieht. Im Gang der Jahre hat er bei seinen Wanderschaften durch schottische Hochmoore und die Sahara, durch die Anden und den Himalaya, durch die Great Plains Nordamerikas und die Halbsteppen Asiens auf der Erdoberfläche so viele Spuren gelegt wie nur wenige Individuen der Menschheitsgeschichte. Den Impuls, Spuren der eigenen Anwesenheit zu hinterlassen, spüren noch heute die Stadtnomaden mit ihren Graffiti in der Nachfolge des legendären Killroy (das ist der Name des unbekannten Bürgers, der als Soldat der Weltkriege in fremden Regionen ausgesetzt wurde, die er mit der Einritzung „Killroy was here“ markierte). Auch wer Berge erklimmt, verstärkt mit einem kleinen Beitrag alte Bergzeichen aus Geröllsteinen selbst dann, wenn ihm die religiösen Bedeutungen dieser Handlungen nicht mehr bewußt sind. Richard Long kennt die Wege und Motive der christlichen Pilger, die nach Santiago de Compostela oder Rom zogen. Er ist vertraut mit dem Schicksal Ahasvers oder Marco Polos. Er bewundert die Bildungsreisenden des 18. Jahrhunderts oder einen Künstler wie J. G. Seume, der 1801/02 einen zehnmonatigen „Spaziergang“ von Leipzig nach Syrakus absolvierte. Auf seinen Wanderschaften eignet sich Long zunächst durch eigenes Nachvollziehen an, was seine Vorgänger taten. Dann aber macht er es sich zur Aufgabe, Wegzeichen zu entwickeln, wie es sie zuvor noch nie gegeben hat. Dafür übersetzt er Vorstellungen der Konzept-Kunst vom wohlfeilen Papier auf die Erdoberfläche – gemäß der Maxime vormoderner Künstler: „Allein zum Ruhme Gottes“. Den Blick des göttlichen Betrachterauges übernimmt dabei das Fotoobjektiv, mit dem Richard Long seine Spuren sichert.
Abbildungen:
S. 11: Richard Long, Mirage: Eine Linie in der Sahara, 1988.
Geometrische Figur eines Rechtecks im Positiv und Negativ aus Geröllsteinen eines Wüstenfeldes. Links und rechts von der Figur verlaufen zwei geschwungene Trampelpfade, die Long durch tagelanges Hin- und Hergehen erzeugt hatte.
S. 12/13: Teppichboden, Flower Edition, Paul Wunderlich, 1998.
"So wie der Weber sein Muster aus reiner Freude am künstlerisch gestalteten Werk, ohne einen Zweck vor Augen zu haben ausführte, so kann der Mensch sein Leben leben, oder... sein Leben schauen: ein schön durchgeführtes Muster." (Maugham, W. S.; aus: Des Menschen Hörigkeit, 1915)