„Heute sind nur noch Überreste vorhanden. ... Bei einer Wanderung durch das verwitterte Ruinengelände bestätigt sich, daß die Ausbreitung der Fabrik sich etappenweise vollzogen hat. ... Von dem Baukern, aus dem sich die spätere Anlage entwickelte, ist nichts mehr erhalten. Aus Chroniken und Bildberichten ... geht hervor, daß an der Stelle, wo noch die flache sarazenische Turmkuppel aufglänzt, einst der Webstuhl gestanden hat, den man später den goldenen nannte. ... Als feststehend kann die Tatsache gelten, daß es eine längere Periode gegeben hat, in der sich Würde und Recht, den heiligen Teppich zum Wohl des Landes zu weben, innerhalb einer auserwählten Familie vom Vater auf den ältesten Sohn vererbt hatte. ... In der Bevölkerung ist damals noch der Glaube an die Wunderkraft des Teppichs lebendig, der durch stete Erneuerung jedem Einwohner einen magischen Schutz verleiht. ... Der Landesteppich bildete das Zeichen für Würde und Mächtigkeit eines einheitlichen Ganzen, dem sich jeder als unmittelbar zugehörig empfand, das jeder durch sein Leben mitschuf. Der Teppich, in seiner Farbigkeit und Großartigkeit, bedeutete das allen sichtbare Dokument dieser Zusammengehörigkeit, er stellte das Eigentum aller dar, zu dem der einzelne freiwillig und freudig seinen Teil zur Verfügung stellte. Man leistete sich den Teppich, wie man sich den Schmuck an seinem Haus leistete, sich ein Festgewand oder einen Prunkbecher zulegte. Es war ein Kult. ... Bald aber wurde die Aufgabe dem Beamtentum übertragen, und mit diesem Zeitpunkt beginnt die Anlage, in der sich die kultische Herstellung des Landesteppichs abspielt, sich rasch auszudehnen ... Unmerklich ist an die Stelle der Idee der Apparat getreten. Die Arbeiter und Angestellten wurden zu Sklaven des Fahrplans, nach dem die Fertigware mechanisch von Station zu Station lief. Wie ein eingefrorener Koloß schleppte sich das Unternehmen neben dem Leben her, träge, gefräßig, menschenfeindlich. Alle hatten der Teppichfabrik zu dienen. ... Um die Verwahrlosung zu verdecken, wurde beschlossen, die Hausfronten in allen Orten mit Stücken des Landesteppichs zu behängen ... Jeder Hausbewohner hatte regelmäßig seinen Pachtanteil für den Hausschmuck zu entrichten. Auch die Dächer mußten einheitlich in den Landesfarben bespannt werden. Aber damit nicht genug! Die Ziergärten, wie sie vielfach vor den Häusern bestanden, entbehrten wie die Grünanlagen auf den Straßenplätzen ebenfalls der notwendigen Pflege, sodaß angeordnet wurde, sie mit Teppichen zu belegen, die in heiteren Farben großgemusterte Blumen und Früchte in einem Ornament aus Gartengeräten, wie Gießkannen, Harken und Spaten auf grünem Grund zeigten. Schließlich begann man auch die Felspartien und Berggipfel mit einem buntgesprenkelten Tuch zu überziehen, ja allmählich alle kahlen Flecken des Landes mit grünen Riesenmatten zu bedecken. Konnte man dort auch kein Vieh weiden lassen, so boten sie doch dem Auge einen beruhigenden Anblick.“ (Kasack, Hermann; aus: Der Webstuhl, 1949)
Abbildung:
S. 20/21: Skizzen zu „Verpackte Gehwege“, Christo, Projekt für Haus Lange, Krefeld 1971.
Mit solchen Collagen aus Blei- und Farbstiftzeichnungen auf Fotografien und Stoff erprobt Christo jedes zu realisierende Projekt. Mit dem Verkauf der Collagen finanziert er seine Vorhaben. Bodenverhüllungen entwarf Christo nur zweimal [für Deutschland]: für Krefeld und den Park von Sonsbeck, 1970. Träumt er nicht auch wie J. L. Borges davon, eines Tages einen Kontinent oder die gesamte Erdkugel zu verhüllen, um endlich nur noch mit der Kraft der Gedanken auf dem Boden zu wandeln?