Karl May brachte uns Kindern bei, wie ein Indianer zu sehen, wenn wir durch die Gegend streunten: ein Auge auf den Boden unmittelbar vor unseren Füßen gerichtet, das andere 50 m voraus. Beim schnelleren Laufen war es besonders wichtig, beide Blickhorizonte übereinander zu blenden. Voraus sehen wir markante Strukturen des Bodens, Erhebungsprofile und Konturlinien. Voraus sehen wir also abstrahierend. Nah sehen wir konkretisierend, d.h., wir lösen das Blickfeld in Einzelheiten auf. Teppichdesigns sind unter anderem dann so auffällig, wenn sie uns die Strukturmuster des voraussehenden Blicks konkret in die Nahsicht zu Füßen bringen. Mit den abstrakten Formen, die im heutigen Teppichdesign dominieren, lassen sich die Gestaltmuster besser repräsentieren, die wir beim vorauseilenden Blick auf den Boden wahrnehmen. Mit solcher Gestaltung von Teppichen weitet man also den Blick auf Böden selbst dann, wenn die Räume relativ klein sind. Derartige Muster erlauben uns, in Innenräumen jenen Blick wachzurufen, wie er in Außenräumen stimuliert wird. Das ist illusionierend wie jede Augentäuschung. Sie weckt Wahrnehmungsaktivität und steigert die Geistesgegenwart. Bodendesigns bewahren vor der Angst, die uns in engen Klausen zu befallen droht, weil die Muster uns die Illusion bieten, den Blick selbst in beschränkten Innenräumen noch schweifen lassen zu können. Solchen Effekt haben selbstverständlich auch Bilder an den Wänden der geschlossenen Räume; sie bieten nach alter wie auch zeitgemäßer Auffassung Fenster zur Welt – das modernste Fenster zur Welt als Bildfeld öffnet man auf seinem Computerbildschirm mit dem [S. 57:] Programm „Windows“! Das Fußbodenbild aber erlaubt uns, nicht nur diesen Bildern gegenüberzustehen, sondern uns in sie hineinzubewegen, indem wir sie beschreiten – also dem natürlichen Impuls nachzugeben, auf einen Bildeindruck mit der Bewegung unseres Körpers zu reagieren. Denn anders als bei den Wandbildern, deren räumliche Wirkung durch die Fixierung auf Fluchtpunkte zustandekommt, legt man im allansichtigen Teppichmuster durch eigene Bewegung die Perspektive selbst fest. Dieser Effekt verstärkt sich, wenn man den gesamten Raumboden mit Teppich überzieht oder „auslegt“. Auslegeteppiche bringen also die Wirkung des Teppichdesigns besser zur Geltung als einzelne Teppiche – deshalb hat sich wohl der gestaltete Teppich als Auslegware durchgesetzt, abgesehen von den praktischen Gründen der Sicherheit und Pflege.
[S. 59:]
„Fruchtfelder aller Art und Farbe wechseln sich ab mit dem Grün der Wiesen, und die Art der Ackerbestellung, die sich nicht im Ziehen geradliniger Streifen, sondern sei’s Laune, sei’s Notwendigkeit, in einer bunten, wechselvollen Musterung des Bodens gefällt, schafft hier einen phantastischen Teppich, der alle Linien zu verspotten scheint, und doch die Linie der Schönheit trifft.“ Fontanes Text dokumentiert, daß wir uns nicht nur mit entsprechenden Teppichdesigns den Blick des Außenraums in den Innenraum holen, sondern umgekehrt die Wahrnehmung des Teppichs auf die Wahrnehmung der Außenwelt übertragen. Das Muster der Felder, Hecken, Wege und Anpflanzungen erscheint uns wie ein Teppich, mit dem der Boden des Außenraums bedeckt ist. „Dieser Teppich zwischen Schloß Stirling und den Hochlandsbergen führt den Namen der Grafschaft Menteith. Wem es vergönnt wird, vom Wallrande des Stirlinger Schlosses aus in diese Grafschaft hinabzublicken, wenn über den Hochlandsbergen der Ball der untergehenden Sonne wie eine Feuerkugel hängt ..., der nimmt das lieblichste Bild mit heim, das ihm die schottische Landschaft an irgendeiner Stelle gewähren kann.“
(Fontane, Theodor; aus: Das Schottische Hochland, 1860)
[S. 61:]
Schnee
Zwischen den Bahngeleisen
Vertränt sich morgenroter Schnee. - -
Artisten müssen reisen
Ins Gebirge und an die See,
Nach Leipzig - und immer wieder fort, fort.
Nicht aus Vergnügen und nicht zum Sport.
Manchmal tut's weh.
Der ich zu Hause bei meiner Frau
So gern noch wochenlang bliebe;
Mir schreibt eine schöne Dame:
"Komm zu uns nach Oberammergau.
Bei uns ist Christus und Liebe,
Und unser Schnee leuchtet himmelblau." -
Aber Plakate und Zeitungsreklame
Befehlen mich leider nicht dort-,
Sondern anderwohin. Fort, fort.
Der Schnee ist schwarz und traurig
In der Stadt.
Wer da keine Unterkunft hat,
Den bedaure ich.
Der Schnee ist weiß, wo nicht Menschen sind.
Der Schnee ist weiß für jedes Kind.
Und im Frühling, wenn die Schneeglöckchen blühn,
Wird der Schnee wieder grün.
Beschnuppert im grauen Schnee ein Wauwau
Das Gelbe,
Reißt eine strenge Leine ihn fort. -
Mit mir in Oberhimmelblau
Wär's ungefähr dasselbe.
(Ringelnatz, Joachim; aus: Aus der Sammlung 103 Gedichte)
Abbildungen:
S. 55: Teppichdesigns für Vorwerk von Künstlern wie David Hockney (zweimal), Sam Francis, die bewegtes Wasser, Festschmuck (Luftschlangen und Konfetti) nach einer Feier und Blutspuren illusionieren, aber eben nicht darstellen. Je abstrakter die Darstellung, desto stärker wird die Illusion herausgefordert.
S. 56: Teppichbodendesigns von Künstlern wie [v. l.n.r.]:
Coop Himmelblau „Einstürzende Kartenhäuser“; Zaha M. Hadid, „Scherben bringen Glück“; Richard Meier, „Basispläne“; Hans-Ulrich Bitch, „Bonbonpapierchen“
S. 57, links: Teppichbodendesigns von Künstlern:
Joseph Paul Kleihues, „quadratisch, praktisch, gut“; Sol LeWitt, „Die Würfel fallen“
S. 57, rechts: Christian Borngräber, Rasierter Perser: Teppich Echinocactus türkis, 1985, Auslegware mit herausgetrennten Streifen.
S. 58: Teppichboden, Flower Edition, Marcello Morandini, 1998.
Ob Art? Op-Art!
„Man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn. Wird vieles vor den Augen abgesponnen, … / Da habt ihr in der Breite gleich gewonnen, / Ihr seid ein vielgeliebter Mann.“
(Johann Wolfgang Goethe, Faust, 1808)
S. 59: Augen leicht zusammenkneifen! Hervor tritt ein Gestaltmuster ohne konkrete Erinnerung an Äcker, Wälder, Zäune oder Wege.
S. 60/61: Eskimos verwenden 18 Begriffe, um schneebedeckten Boden zu beurteilen, und zwar, indem sie ihn aus der Distanz betrachten. Wir konzentrieren uns mehr auf die Reflexion des Lichts in gemütvollen Farbwertigkeiten: den blauen Schatten expressionistischer Schneewehen oder Schneeweißchens Dauerwelle.
S. 61: Teppichboden von Jean Nouvel.
Wo kein Fenster ist, kann man es sich vorstellen, wenn der Teppich auf dem Boden den Schatten eines Fensterkreuzes illusioniert.
S. 62, oben: Musterbildende Abstraktion durch Fotooptik:
Der Schatten läßt die schattengebenden Objekte und Personen verschwinden. Vertikale und Horizontale, Höhen und Tiefen, konvex und konkav werden vertauscht.
S. 62, unten: Clifford Roberts, Sliding Progression, Installation mit Gewebestreifen, 1977.
Das Teppichmuster emanzipiert sich vom Boden und erobert die vertikale Fläche. Wandbehang oder Bodenbelag? Ansichtssache!