Cocks inszeniert den Blick des modernen Betrachters: die Erwartung der Katastrophe. „Der Himmelsausschnitt, den wir über uns sahen, wenn wir ihn sehen konnten, wurde kleiner und kleiner, ein langgestrecktes, verzerrtes Deltoid mit sich stumpfwinklig schneidenden Diagonalen, und als der Ballon mit seiner an manchen Stellen, vor allem am unteren Ende, schon platten Hülle sich auf einmal zu drehen begann, war es, als wäre er an ihnen aufgehängt, wie eine Marionette an ihren Stäben, und die ineinander verwickelten Fäden entwirrten sich langsam ('Höhe 3000 m, nicht mehr', schrieb der Professor ins Bordbuch, und es war seine letzte Eintragung: 'Wir kommen ins schlingern.') Da war es, plötzlich, noch mitten in der Drehbewegung, daß sie Stimmen hörten, einmal leiser, einmal lauter, oder vielmehr, sie glaubten sie zu hören und wagten nicht, es sich einzugestehen, und als es nicht mehr Stimmen und ein Singen wurde, versuchten sie, es zu ignorieren, und ertappten sich ein ums andere Mal pfeifend, die Hymne, tatsächlich die Hymne, die sie hörten oder nicht hörten, so oder so, nicht hören wollten, und sie pfiffen sie mit, pfiffen dagegen, pfiffen und pfiffen, auf einmal voll Entsetzen: 'Wir verlieren noch im letzten Augenblick unseren Verstand.' (Gstrein, Norbert; aus: O2, 1993) Heutzutage schützt man sich vor dem Verrücktwerden, indem man seine Pocket-Videokamera ergreift, sobald man das Haus verläßt - es könnte ja etwas passieren. Und jederzeit damit zu rechnen, vermindert die Angst vor der Plötzlichkeit, mit der kritische Situationen eintreten. Zur Zeit Pieter Brueghels (ca. 1525-1569) war das noch anders: Die Katastrophe ereignet sich im Rücken der Menschen, ohne ihre Zeugenschaft. Brueghel entfaltete sein kurzes Werkschaffen unter dem Eindruck radikaler Auseinandersetzungen zwischen Reformation und Gegenreformation einerseits und zwischen Humanisten und Alchimisten andererseits. Von seiner geschäftstüchtigen Schwiegermutter wurde er angehalten, seine Brüsseler und Antwerpener Klientel nicht durch eindeutige Stellungnahmen zu verschrecken. Von Zeit zu Zeit aber entwarf er Bildkonzepte, mit denen er zu allen streitenden Parteien gleichermaßen auf Distanz ging. So auch mit dem Gemälde „der Sturz des Ikarus" von 1558. Was das Bild erzählt, beschrieb der flämische Dichter Albert Verwey um 1900: „Fielst du, Ikarus? Der Bauer zieht die Furche: Er hat für's platschende Geplumps kein Ohr. Der Fischer auf der Felswand rührt sich nicht. Auf Fang erpicht, er auf den Köder sieht. Der Vogel, auf dem Ast ihm nah, paßt auf, Ob von der Beute etwas für ihn abfällt. Der Wind die Segel der Fregatte bauscht, Die Leut' sind mit den Wanten voll beschäftigt. Nur über dir der Mövenschwarm bemerkt Das Untertauchen deines weißen Beins. Ein Mann schaut auf: Der Hirt sah in der Luft Ein seltsam Ding und fragt sich, wo es blieb. Die ganze Samos-Bucht bestrahlt die Sonne, Der Ikarus sich nähern wollt', doch nicht konnte." Das Projekt Ikarus bezeichnet alle hochfahrenden Pläne einzelner Menschen, sich durch ihr Ingenium zu den Göttern aufschwingen zu wollen. Die auffällige Betonung des Gleichmuts und der Pflichttreue, mit denen Bauern und Schäfer ihre Kultivatorenarbeit leisten, soll aber nicht dazu verleiten, ikarische Unternehmungen abzuwerten; denn mit der Wiedergabe einer Fregatte in der Bucht vor imposanter Hafenstadtkulisse wird auf komplexe technische Systeme verwiesen, die sich bewährt haben. Ein hochseetüchtiges Schiff erfolgreich einzusetzen, verlangte neben navigatorischen Fähigkeiten und Technikbeherrschung vor allem die Bereitschaft von Menschen, zu kooperieren. Von dieser Fähigkeit hing der Ausgang aller gefährlichen Unternehmungen ab. Ikarus scheiterte, weil er in bewußter Mißachtung der Gebote seines Vaters Dädalus sich selbst überschätzte, weil er also ohne soziale Bindungen auszukommen glaubte. Der Künstler Brueghel hütete davor, ein Einzelgänger zu sein. Er bezog sein Arbeiten stets in erster Linie auf menschliche Gemeinschaften, unter denen er die bäuerlich-dörflichen bevorzugte, weil in ihnen die Bedeutung der sozialen Bindungen am offenkundigsten war. Auch die Gefährdungen solcher Gemeinschaften wurden im Dorf schnell sichtbar: Brueghel schildert in seinem Werk minutiös, welche Sprengkraft etwa Trunksucht oder asoziales Verhalten entwickeln. Solcherlei Gefahren sind aber gering einzuschätzen im Vergleich zu den Gefährdungen, die vom Geltungsanspruch der Religionskrieger, aber auch der Humanisten und Alchimisten ausgehen. Diese Leute werden dazu verführt, „ihre Wahrheiten" schon deshalb erstrangig zu halten, weil sie verfolgt wurden oder ihre Wissenschaften mit der Aura des Geheimnisvollen und der übermenschlichen Fähigkeiten zu umkleiden vermochten. Die im Gemälde systematisch repräsentierte Elementenlehre der Alchimisten, sowie das Pathos der Humanisten und die Glaubensgewißheiten der Theologen stuft Brueghel mit seinem Konzept auf Banalitäten herab, mit denen jeder Alltagsmensch ohne Aufhebens umgeht.
Abbildungen:
S.234: Ballon über Dover, E.W. Cocks, 1825/40.
Da der Maler nicht den Blick aus dem Ballon, sondern die Beobachtung der Ballonfahrt abbildet, konzentriert sich die Betrachtung auf die Frage, ob und wie lange noch die Luftschiffer ihren Weg in schöner Regelmäßigkeit fortsetzen können.
S.235: Sturz des Ikarus, Pieter Brueghel d. Ä., 1558.
Der Bauern-Brueghel und Lebensliederjan hat in seinen knapp 20 Arbeitsjahren als Maler immer wieder Bekenntnisse seiner Zeit und Lebenserfahrung formuliert. Zu den herausragendsten gehören der „Sturz des Ikarus“ und der „Blindensturz“.