Buch Karl-Heinz-Ströhle: Ornament und Aformation

Otten Kunstraum

Karl-Heinz Ströhle: Ornament und Aformation, Bild: Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 2011..
Karl-Heinz Ströhle: Ornament und Aformation, Bild: Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 2011..

Der Zeichner, Maler, Performance-, Objekt- und Medienkünstler Karl-Heinz Ströhle gehört zu den interessantesten künstlerischen Positionen Österreichs. Die multimediale Auseinandersetzung mit Linie und Raum zählt ebenso wie eine reduzierte Formensprache zu seinen Markenzeichen. Mit Federstahlbändern nutzt der Künstler ein Material, mit dem er Gemälde und fragil wirkende, bewegliche Objekte gestaltet. In Ströhles Arbeiten treffen Emotion auf Minimalismus, Konzept auf spielerische Spontanität und konkrete Ansätze auf abstrakte Formulierungen.
Der in Wien lebende Karl-Heinz Ströhle hat zahlreiche Kunstprojekte im öffentlichen Raum realisiert, u.a. für die Swisslife-Rentenanstalt in München, für Krankenhäuser in Salzburg und Vorarlberg, für die Passage zwischen Kunsthaus Bregenz und Vorarlberger Landestheater, etc. und aktuell ein Baunetz für das Vorarlberg Museum. Das abstrakte Streifenmuster, welches die Baustelle in Bregenz verhüllt, erzeugt durch einen optischen Effekt räumliche Schwingungen, die Assoziationen mit einem Theatervorhang hervorrufen, der sich zur Eröffnung heben wird.
Karl-Heinz Ströhle hat am Mozarteum in Salzburg sowie an der Universität für angewandte Kunst Wien, bei Bazon Brock studiert, wo er nach Lehrtätigkeiten in Salzburg seit 2005 in der Klasse »Kunst und kommunikative Praxis« unterrichtet.

Gestalter:
Roland Stecher

Herausgeber:
Josef Otten

Vorwort:
Josef Otten

Text:
Bazon Brock, Vitus Weh, R. Woelfl

Interviews:
von Ingrid Adamer mit dem Künstler

Deutsch/Englisch
96 S.
45 Abb. in Farbe

Erschienen
2010

Herausgeber
Joseph Otten

Verlag
Verlag für moderne Kunst Nürnberg

Erscheinungsort
Nürnberg, Deutschland

ISBN
978-3-86984-218-9

Umfang
96 S. : zahlr. Ill.

Seite 9 im Original

„Geprägte Form, die lebend sich entwickelt“

Zu den aformativen Skulpturen von Karl-Heinz Ströhle

Giacometti hat das dialektische Formenspiel von Entschwindungen (so Sartre) und Erscheinungen erprobt. Karl-Heinz Ströhle setzt nun mit seinen Skulpturen aus beweglichen Metallbändern an dieser Auffassung an. Die zu Kuppeln, Reifen oder Käfigen oszillierenden Bänder halten eine (Form-)Spannung, die jederzeit aufbrechen und sich in einen anderen Zustand verlagern kann - verursacht durch äußere Einwirkungen wie Tänzer, die sich in und durch die Metallreifen hindurchbewegen und das Material in Schwingung versetzen (so zum Beispiel im Kunsthaus Bregenz). Nicht der Künstler erschüttert feste Formpositionen, wie es die Volkshochschule gerne lehrt, sondern das Material selber tendiert, zumindest temporär, zur Transformation, um seine materielle Qualität auszuspielen. Wir möchten aber solche permanenten Transformationen in actu als Aformationen kennzeichnen, weil es sich um eine fortwährende Bewegung zwischen Entformung und Reformierung handelt. Bei Transformation denkt man nicht ausdrücklich an die Rückführung in die Ausgangsform. Auch Deformationen zielen in unserem Verständnis auf einen irreversiblen Zustand. Mit dem weicheren Begriff Aformation wird auch auf die höchst bemerkenswerte Tatsache verwiesen, dass Formen nicht endgültige Fixierungen sind, sondern sich lebendig entwickeln: Ströhles Objekte demonstrieren aufs Anschaulichste, was mit dem ominösen Goethewort von der „geprägten Form, die lebend sich entwickelt“ gemeint sein kann. Ursprünglich war mit dem Wort die Entfaltung genetischer Codes in der Entwicklung von Lebewesen angesprochen – also das Verhältnis von Phylogenese zur Ontogenese. Spätestens seit Anfang des 14. Jahrhunderts – abgesehen von antiken Griechen und Römern – versuchten Künstler im toten Material den Effekt der Verlebendigung zu erzielen. Das gestaltete Material schien quasi vivente/nearly living zu sein. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das mit der Formel „als ob“ gekennzeichnet. Aber in all diesen Beispielen dominiert die lineare Entfaltung in einen neuen Zustand ohne die Erwartung der Rückkehr in die Ausgangsposition.
Für die Techniken der Deformation als Formgebung stehen in der jüngeren Kunstgeschichte der Amerikaner John Chamberlain und der Franzose Arman. Chamberlain stützte sich auf die Alltagserfahrung der massenmotorisierten Gesellschaft. Fasziniert schauten Automobilisten auf die Großpressen, die ihre einstmaligen Prachtstücke in auf engstem Raume stapelbare Wrackpakete verwandelten. Als Automobilkarosserien zu Anfang der 60er Jahre popbunt lackiert wurden, waren mit der deformierenden Pressung unerwartete malerische Effekte verbunden, die Chamberlain gezielt für seine Skulpturen einsetzte. Auch Arman hob mit seinen Sprengungen auf die allgemeine Erfahrung von Zerstörung als Gestaltung ab: der sogenannten schöpferischen Zerstörung, die von den Futuristen um Marinetti sowie den Wirtschaftstheoretikern um Schumpeter emphatisch begrüßt wurde. In beiden Transformationsstrategien ist die Unumkehrbarkeit der Prozesse unvermeidbar.
Jean Tinguely ging einen entscheidenden Schritt weiter, indem er die Selbstzerstörung der Maschinen in einen geschlossenen Kreislauf des Bewegungsprogramms seiner Maschinenskulpturen zu reintegrieren versuchte. Wie das gedacht, wenn auch nicht gemacht werden konnte, demonstrierten Fischli&Weiss in ihren Laufprogrammen der Dinge mit Aufbauten, die die Ereigniskaskaden so lenkten, dass immer gleiche Ausgangssituationen zu entstehen schienen. Der Betrachter erkennt das Prinzip, das potentiell endlos wirksam wird.
Generell aber sind die Ereigniskaskaden in all diesen Beispielen ein Vorlauf zum Ende und nicht zugleich ein Rücklauf zum Anfang, wie ihn die Ströhleschen Aformationen ermöglichen.

Anfang der 90er Jahre machten Materialforscher die Entdeckung, dass man Bimetallen oder Trimetallen beibringen kann, bei Deformationsprozessen wieder in ihre Ausgangslage zurückzukehren. Es sind vor allem Bimetalle gewesen, also Buntmetalle, die eben die für Ströhle entscheidende Eigenschaft haben, sich erinnern zu können. Man könnte vielleicht auch eine Flüssigkeit von einem Chemiker herstellen lassen, die sich in einen Aggregatszustand wie ein Pudding bringen lässt und die dann in ähnlicher Weise das Verhältnis Formation-Deformation-Reformation demonstrierte. In meiner Kindheit hatten wir bei den Götterspeisen Sonntag Nachmittags das Vergnügen, die Masse auf dem Teller zum Schwingen zu bringen, um diese Formspannungen zu erleben. Es gibt natürlich auch gewisse Perversionen bei Belastungstests von Personen, die bei 3G aufwärts eine Aformierung ihres Gesichts oder ihres Körpers zeigen. Das haben wir in der Raumfahrt gesehen. Weitere Beispiele bieten die Versuche der Aformation durch Shaken. Das Shaken als Ursprung, vielleicht sogar mit dem protestantischen Modell der Shaker, wäre eigentlich etwas, das sozialpsychologisch auf die Spur führt, die diese Untersuchungen begleiten könnte, z. B. mit Blick auf die heutige Form des Shakens in Discotheken. Auch Formverhalten unter Wasser bei entsprechenden Zügen und Drücken fesselt die ästhetische Aufmerksamkeit.
Erinnern wir uns kurz an die Diskussionen älterer Formensprachen, die im Wesentlichen den Übergang aus der Formierung in die Entformung als Chaotisieren klassifizierten. Chaos ist der Zustand gleichförmiger Verteilung von Gestaltungselementen, die eben dadurch ihre Informiertheit und Form verlieren, aber durch Gewaltanwendung reanimiert werden können, also Gewalt gegen Chaos – ein heute wieder favorisiertes Verständnis des rappel à l’ordre. Diese Form von schöpferischer Zerstörung erhellt eine schöne Pointe von Nietzsches Idee der „Ewigen Wiederkehr des Gleichen“. Wir brauchen Gewaltdemonstrationen, wie bei Ströhle die Akteure im Geflecht seiner Bänder, um lebendige Formentwicklung vom Typ der Aformation zu erreichen. Wir können also Ströhles Skulpturen als Denkmale des Nietzscheanischen Gedankens auffassen.
Bei all den Einwirkungen von Entformungen wird also immer auch ein Kampf um die Selbstähnlichkeit geführt, das Material will wieder zur Ausgangslage zurück. Ein ähnliches Formverhalten wird in der Architektur bei der Entwicklung erdbebensicherer Gebäude angestrebt. Ich habe mehrere Videos gesehen, die zu dem Zweck aufgenommen wurden, erdbebensicher gebaute Häuser im Fall eines tatsächlich eingetretenen Erdbebens zu beobachten – eine ganze Stunde lang aneinandergehängtes Material nur mit Aformationen durch Erdbeben ohne Destruktion. Das Entscheidende dabei ist das Schwankungsbreite, der Bewegungsausdruck innerhalb des statisch Vorgegebenen. Wer vor einem Hochhaus steht, wird herausgefordert, sich diese scheinbar monumentale stabile Masse in ihrer Spitze als bewegt vorstellen – und zwar in der erheblichen, eigentlich auch der natürlichen Wahrnehmung zugänglichen Schwankungsbreite von mehr als zwei Metern. Das ist in Ströhles Arbeiten sehr schön gelungen, sie demonstrieren tatsächlich das Bild der Schwankung in der Stabilität. Man kann auch sagen, stabilitas gibt es nur, wo hinreichend Raum zur Aformation vorhanden ist.

In den Wahrnehmenden entspricht die herausfordernde Instabilität als Voraussetzung von Stabilität der psychoenergetischen Erschütterung im Inneren, an die man sich als einschneidendes Erlebnis erinnert. Wenn zum Beispiel das Erlebnis bei der Einnahme von Psychopharmaka richtig gedeutet wird, dann haben beispielsweise bei Ecstasy verschiedene Einflüsse auf das neuronale Impulsgeschehen dazu geführt, dass nicht, wie beim Konsumieren von Bier, der Trinker taumelt, sondern dazu, dass der Ecstasy-Nehmer völlig klar in der Mitte steht und die Welt um ihn herum beginnt, zu taumeln. Die Rückschwingfrequenz in den normalen Status der Beruhigung ließe auf die Wirkkraft außerpsychischer Faktoren schließen. Die Balance gelingt hier aber immer nur in der Asymmetrie. Das ist die psychologisch wichtige Einsicht: Man kann nicht stabil bleiben wollen, indem man sich zu einem rigiden Charakter macht – wie die unveränderbare Gestalt der „Eisernen Maske“ –, sondern man wird zu einer stabilen Persönlichkeit, indem man die Amplituden der Erschütterbarkeit immer weiter ausweitet. Insofern sind das hier wirklich psychodynamische Ausdrucksmuster für die Kraft, sich den äußeren Einwirkungen gewachsen zu zeigen, indem man ihnen ausweicht und – bei aller Deformation – wieder in die Form zurückkehrt.

Im Hinblick auf die Architektur geht es – anders als häufig angenommen – nicht um fixe Berechnung, sondern um ein Ordnungsgefüge. Es gibt andere Ordnungen als die berechneten. Zum Beispiel ist die Wiederholung ein grundlegendes Prinzip des Ordnungschaffens, weswegen man beim „Telefonkritzeln“ die ornamentale Urgeste zur Geltung bringt – das ist auch ewige Wiederkehr des Gleichen. Ordnungschaffen ist hier in dem Sinne zu verstehen, dass sich der lineare Überraschungsprozess auf die Wiederholung auswirken kann und das ist sehr befriedigend. Während beim Tachismus oder im Informellen die entscheidende Tat ist, dass man es nicht auswendig lernen und niemals wiederholen kann, geht es Ströhle gerade um das Prinzip des Wiederholens als Zurückholen der Form. Die verlorene Form wird zurückgeholt in sich selbst – das ist ein grundlegender Unterschied zum Informell und zum Tachismus, wo man gerade bestrebt ist, Singularität zu zeigen; nach dem Prinzip „Einmal und nie wieder“. Bei Ströhle besteht die Spannung eines jeden Elements darin, dass man ihm ansieht, wie es in die Form zurückgeholt werden kann.
Das ist natürlich rettungskomplett. Rettungskomplette Aktionen lassen sich zusammenfassen als alle diejenigen, die das Prinzip der Stabilität überhaupt erst ermöglichen; und zwar nicht durch rigides Behaupten von Eisernheit oder Granitsteinhaftigkeit, sondern gerade in der lebendigen Aformierbarkeit und Anpassbarkeit. Ein wunderbares Bild für Ströhles Arbeiten wäre deshalb auch der Wind, der durch das Weizenfeld geht. Die Frage ist, wie sich das in eine künstlerische Formsprache übersetzen lässt. Wie sieht das Material aus, dass das Kornfeld darstellt und wie sieht der Hauch des Künstlers aus, der da als Sturm hereinfährt und in sich immer wieder zurückkehrende Bewegungen ausführt? Wenn der Sturm die Baumkronen erfasst, ist der interessanteste Augenblick jener der Rückkehr aus der Deformation in die Ordnung. Das ist ein gestalterisches Urprinzip.

Ich erinnere mich noch, wie Kinder freudig die Gummibänder, die zuerst die Rehazentren für das Training der Muskulatur entwickelt hatten, dazu verwendeten, um daraus merkwürdige Figuren zu machen. Man trat mit beiden Beinen auf die untere Seite des Gummis und zog es dann mit einem Arm ganz nach links, mit dem anderen ganz nach rechts und hat so die verschiedensten Arten von Formulierungen entwickelt. Anhand des Gummibandes lässt sich das Verhältnis von inneren Kräften zur äußeren Kontur, also die Veränderbarkeit der Kontur veranschaulichen: als Verdrängungsgeschehen oder als Häufungsgeschehen sehr merkwürdiger dynamischer Spannung. Interessant wird es, wenn man das Prinzip der Dehnung der Bänder mit dem Prinzip der Atmung verknüpft – dann kann man sagen, die Form atmet, sie ist nach allen Seiten hin dehnbar.
Das Prinzip der Dehnung findet sich auch in den Ströhleschen Käfigen aus Metallbändern, in denen sich die Tänzer bewegen. Sie erinnern einerseits an den Käfig in dem ursprünglichen Sinne, dass beispielsweise die Kleidung ein Käfig ist und mit der Bewegung mitschwingt, sich ständig zerrt und schiebt, verkleinert, vergrößert, aber am Ende doch wieder auf die Körperform zurückkommt. Es ist sozusagen der Käfig des gefangenen Vogels, der versucht mit seiner Stimm- und Lautgebung das Gehäuse in Schwingung zu versetzen. Innerhalb der IT-Technologie gab es Mitte der 90er Jahre dann den Gedanken, solche Käfige mit rein virtuellen Mitteln zu bauen. Diese Versuche hießen „Cage“, im Sinne eines großen Käfigs, in dem man die Rundumsimulation in 3D entwickelt hat. Das Metallband kommt den elektronischen Impulsbahnen schon sehr nahe, denn wenn man es aus dem Profil ansieht, verschwindet der materiell-physische Träger schon fast vollständig. Es bleibt nur noch eine ganz feine Linie übrig.
Bei Ströhle finden wir also eine schwingende Form, eine geschüttelte oder zitternde Form, die sich vielleicht für einige Augenblicke aus ihrem Käfig befreien will. Hinweise auf Formen, die atmen, finden sich bereits in der Architektur. So kann man am Grundriss von Santa Salute in Venedig oder an der Münchner Theatinerkirche sehen, wie in der Vierung die Quer- und Längsschiffbewegung ständig als Atmungsprozess verläuft: Einmal nach links gedehnt, dann wieder nach oben, nach unten und nach rechts gedehnt oder eben gleichzeitig nach links und rechts, nach oben und nach unten gedehnt. Das sind Atmungsvorgänge oder Formatmungen. Die Form auf dem Papier dagegen ist tot. Aber dies ist der Ausdruck dafür, dass die Form atmet und dass Atmen selber ein Formgeben ist. Als Gott den Odem, den ruach, in den Ton gehaucht hat, war das ebenfalls eine Art von Formverflüssigung als Ausdruck der Verlebendigung. Das Material scheint tatsächlich einen eigenen Willen, einen eigenen Bewegungsimpuls oder auch eine eigene Energie zu haben. Es ist trotz der Feststellung, dass es sich hier um totes Material handelt, in der Wahrnehmung doch mit starker empathischer Vision verbunden. Man kann zum Beispiel sämtliche Gesten der Befreiung aus Fesseln nachempfinden. Man wird gefesselt und zwar nicht an ein starres Material, sondern an ein bewegliches Material. Wie würde man sich bewegen, um sich zu entfesseln? Welche Regungen passieren auf dem Ballettboden, wenn wie bei Pina Bausch geschnürte Pakete von Gefangenen beginnen, sich zu bewegen? Es gab bei Pina Bausch eine Zeit, als geschlossene Plastiksäcke von innen bespielt wurden. Von außen wurde das als kontinuierlicher Verformungsprozess sichtbar. Daran haben sich auch andere Choreografen orientiert. In der Formverlebendigung oder der Form(be)atmung scheint etwas Generelles zu liegen. Eigentlich ist es die beatmete Form, die verlebendigte Form, die die Möglichkeit gewinnt, eigenständig Erinnerung an die verschiedensten Zustände aufzubauen, in denen sie sich einmal befunden hat und sie schwingt dann in Erinnerung an diese Formzustände.
Erste Beispiele aus dem Bereich des Tanzes finden sich bereits in den berühmten Darstellungen von Schlangentänzern oder von Ausdruckstänzern der 20er Jahre, von Mary Wigman, über Laban bis hin zu Harald Kreutzberg: Die Tänzer haben diese Art von Bewegung mit ihren Körpern erzeugt und mit Bändern die unterschiedlichsten Arten der Orientierung studiert. Kreutzberg saß beispielsweise auf einem schmalen Band, das er auf unglaubliche Weise nach unten und nach oben dehnte.
Wenn man die exzentrische Bewegung der Ausdruckstänzer bis zu den Freestyle-Tänzern der Gegenwart als Film aufzeichnen würde, bekäme man ein Schema aus Bewegungsschleifen, das aber noch nicht dem eigentlich Ziel entspräche, die Bewegung selber zum Objekt werden zu lassen, also die Bewegung ins Objekt zu verlagern und so real werden zu lassen – sozusagen als Vergegenständlichung der Bewegung selbst. Das Bewegungsausdruckstanzen, das mit dem Punk übergegangen ist in die Erfahrung des einzelnen Menschen in der Disco, gibt eigentlich die Wahrheit der künstlerischen Anstrengung wieder. Das heißt, die Künstler hatten sich wahnsinnig anzustrengen, als es noch niemanden gab, der das real in seinem Alltagsleben nachvollziehen konnte. Die verlorene Nachvollziehbarkeit der Bewegung im Alltag ist hier gespeichert. Hier kann der Tänzer aus seinem Körper aussteigen und ihn alleine weitertanzen lassen, aber nicht als Simulation im Computer, sondern er steht direkt vor ihm. Es wäre sicher wunderschön, so etwas einmal in einer Disco zu zeigen. Theatralisch würden sich zehn, fünfzehn Leute auf einer Bühne bewegen, von denen dann nur ihre Lineargestalten übrigbleiben, die den Tanz von alleine fortsetzen. Das wäre die Fortsetzung des „Triadischen Balletts“ von Schlemmer als ein „Amorphes Ballett“, im Sinne der Amorphie als Ungestaltigkeit und der Polymorphie als Vielgestaltigkeit. Eine Art von Swing der Form, in der die Form vom Swing erfasst wird.
Die allbekannte Analogiebildung zu Körperformen war in den 50er Jahren der Nierentisch. Sie blieb aber statisch und auf eine einzige Gestaltanalogie bezogen. Ströhles tänzerische Installation wäre dagegen auf die Spur des Lebens selbst hin wahrnehmbar. Um das darzustellen, bräuchte man nur eine weiße Wand. Mehr ist nicht nötig. Würde man die Metallbänder stattdessen mit UV-empfindlicher Farbe beschichten und auf der Bühne mit Schwarzlicht arbeiten, ließe sich die Aktion auch als ein Lichtballett aufführen. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Notationen von Choreografen, nach denen der Tanz als Bewegungsmuster und Verhaltensschema einstudiert werden soll. Der körperliche Ausdruck wird also als eine Schriftdeutung lesbar.
Derartige Gehschriften von Menschen in Gruppen ohne äußeren Anweiser, sondern als „Abdruck“ kollektiver Seelendynamik bei der Orientierung im unbestimmten Raum, bieten freie Plätze, wie z.B. Parks oder Wiesenraine, in die sich die „Wildwechsel“ der Menschen eingeschrieben haben. Das sind gleichsam Organogramme mit markanter Leseanleitung: Wo sich die Anzahl der Linien verdichtet, verweist das auf intensiven Beziehungsverkehr; da, wo sie vereinzelt sichtbar werden, hat man es offenbar mit schwer zugänglichen Personen oder Unvermögen zu tun. Es wäre also interessant, diese psychologische Ebene noch mit der Fixierung im Verlaufsmuster zu sehen: Das wären beispielsweise Pinkelspuren im Schnee, die Spuren der Skifahrer auf der Piste, das „Gekritzel“ auf dem Eis durch die Schlittschuhe von Eisläufern – vielleicht kann man sogar den gesamten Sternenhimmel darauf beziehen. Im Film gibt es – analog zur Langzeitbelichtung in der Fotografie – die Möglichkeit, durch Zeitraffer Tausende von Autolichtern auf einer Straße so festzuhalten, dass sie eine kontinuierliche Bewegungsspur als Lichtspur ergeben. Das entspräche dann kollektiven Erinnerungen, die sich ins Gedächtnis der Menschen eingeprägt haben und durch körperliche Aktion wieder zur Geltung gebracht werden. Das nennt man Bewusstwerdung durch Verhalten und Tätigkeit.

Ströhles aformatische Objekte – ich würde sie fast mit dem Begriff des „theoretischen Objekts“ oder mit des „epistemologischen Objekts“ gleichsetzen – lassen sich auch als Ausformungen der Dingmagie betrachten – ähnlich Kafkas berühmter Spule „Odradek“. Durch das Loch der Spule schob man als Kind der Kaiserzeit dünne Gummis und zwirbelte sie dann mit einem Streichholz auf. Die entstandene Spannung in den Gummis entlud sich, beim Entfernen des Streichholzes, in eine verlebendigende Tanzbewegunng der Spule selbst: eine Reformationsentladung als Rückkehr in den spannungslosen Ausgangszustand. Schon als Kleinkind will jeder herausfinden, was mit der Beschwörung eines Dinges erreicht werden kann. Die Bewegungen der Ströhleschen Objekte sind ebenfalls Ausdruck der magischen Beschwörung von Formen, bis so etwas wie eine Urform als Summe aller Formen erkennbar wird: das ist die Endform. Die Darstellung der Urform als Endform durch Summieren aller einzelnen Formbewegungen ist dann die geschlossene Fläche, so wie die Summe aller auf einem Papier ausführbaren Linien am Ende das gleichmäßig von Graphit beschichtete Blatt ergibt; die Summa als Repräsentation des Absoluten ist quasi das „Schwarze Quadrat“. Magische Beschwörung ist also das Fortschreiben von einzelnen konkreten Formen bis zu einer Gesamtheit, in der die Einzelheiten nicht mehr sichtbar werden. Dingmagie durch Formbeschwörung führt demnach zur Orientierung auf die allumfassende Möglichkeit des Gestaltens, die aber nur im Schwarzen Quadrat der Gestaltlosigkeit als Summe aller Gestaltungsmöglichkeiten erreicht werden kann. Die Urform heißt hier nicht, „das, was allem zugrunde liegt“, sondern „das, worauf alles hinausläuft“.
Auf die Stabilität der Einheit von erstem und letztem Augenblick zielen auch die virtuellen Volumen, wie sie sich beispielsweise bei Naum Gabo oder auch Marcel Duchamp ergaben, der 1920 erstmalig einen schräg angeritzten Stab auf einen rotierenden Teller stellte, was in der Bewegung ein Gefäß simulierte, einen Zustand der ewigen Bewegtheit des Grundes wie ihn Goethe mit der Feststellung kennzeichnet, das einzig Dauerhafte sei der Wechsel. Ströhle erreicht die Vergegenständlichung solchen Wechsels in einem einzigen Objekt – also nicht in einem Medium der Bewegung wie dem Film. Wenn das Kino mit der Illusion einer Bewegung, die durch 24 Bilder pro Sekunde im Sehen erzeugt wird, wieder in den einzelnen Objektstatus zurückkehren könnte, ergäbe sich so etwas wie eine Skulptur Ströhles – ein im Dauerzustand fixiertes bewegtes Kino, das die aformatische Schleife von Form, Transformation, Deformation und Reformation permanent vorführt.

Das entspricht stilgeschichtlich wie kunstgeschichtlich einer Wiederentdeckung oder Wiederkehr des barocken Systems. In den letzten Jahrzehnten gab es eine Renaissance des Neoklassizsmus mit Minimal Art als Höhepunkt, der Neogotik und sozusagen auch des Jugendstils in postmodernem Gewand; nur den Barock hat man schlecht behandelt. Die Wiederkehr des Barocks ist zwar postuliert worden, es ist aber nichts Genuines dabei herausgekommen. Die Arbeiten Ströhles stellen in diesem Zusammenhang so etwas wie eine Vereinheitlichung der wissenschaftlichen, der künstlerischen, der architektonischen und der gestalterischen Markierungen des Übergangs von der Form zur Entformung und Aformation als einem immer wieder reversiblen Prozess dar. In einer so verstandenen Wiederkehr des Gleichen werden die verschiedenen Zustände sichtbar, die jedoch ausnahmslos die Tendenz haben, zum Ausgangszustand zurückzukehren. Das ist der befriedete Kreis: das spannungslose Dasein in der Harmonie der Selbstähnlichkeit.