Alle Verwertung ist Haufenbildung. Zum Kulturlehrpfad der historischen Imagination
Motto:
„Ich schreite kaum, doch wähn ich mich schon weit!
Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit!“
(Wagner, Parzifal, 1. Akt)
„Zwar wähn ich mich schon weit, doch schritt ich kaum; Du siehst, mein Freund, zur Zeit wird hier der Raum!“
(Bazon Brock an die Teilnehmer des Kulturlehrpfades)
Das Troja unseres Lebens
Gegeben ist der Raum zwischen Niederkirchner Straße, Wilhelmstraße, Anhalter Straße, Askanischem Platz, Möckernstraße, Landwehrkanal, MendelssohnPlatz und Dessauer Straße. Oasen des Lebens in einer flachen Einöde, Trümmerfelder der Träume, Gärten des Bösen. Eine Apotheose der von Menschen zugerichteten Welt. Ein Bruchstück als Ganzes, unvergleichlich jedem anderen so kleinen Territorium in unserer Welt. Territorium des Nirgendwo. Diaspora der Erinnerung, der Anklagen, der Flüche, der Vertreibung aus der Hölle verwirklichter Utopien.
Diesen Raum, mit wenigen Schritten zu durchmessen, kaum größer als eine barocke Freilichtbühne oder ein englischer Garten – und ihnen auch in seinen Kulissenaufbauten, ruinösen Architekturen und Ereignispodesten ähnlich – diesen deutschen Garten gilt es, kraft unserer zu trainierenden Imagination, in den geschichtlichen Zeiten zu verlebendigen, die hier ihren Ort hatten. Das sind lange Zeiten, aber eben auch nicht länger, als sie ein geschichtliches Bewusstsein zu fassen vermag: Das Bewusstsein von der Beständigkeit des Wechsels, von der Kontinuität der Brüche, vom Augenblick als Ewigkeit. Wie lang ist der Augenblick, in dem sich (vom Anfang der Wanderung auf dem Gelände des ehemaligen Völkerkundemuseums Stresemannstraße, Ecke Niederkirchner Straße bis zu seinem Endpunkt, dem Pumpwerk am Landwehrkanal) die Geschichte vom Ende Trojas bis zu Schliemanns trojanischen Schatzfunden und der erneuten Verschüttung des Schatzes im Zweiten Weltkrieg zu jener Geschichte zusammenschließt, unter deren Trümmern wir lebenden Trojaner erneut drohen begraben zu werden.
Dass wir in diesem Gelände zu Trojanern werden, ist leider nicht feuilletonistische Phantasterei. Im Völkerkundemuseum hatte Schliemann seinen Schatz des Priamos deponiert, um dafür auf Betreiben Professor Kochs wenigstens die Ehrenbürgerschaft von Berlin zu erhalten; Ehrendoktorhut oder eine Professur wollte man dem Wilderer in den Altertumswissenschaften denn doch nicht zugestehen. Aber die goldgeile Einholung des Schatzes erwies sich als trojanisches Pferd für das Preußen-Deutschland: Denn Schliemann hatte mit seiner Methode, den homerischen Mythos wörtlich zu nehmen, genau jenes Verfahren als äußerst leistungsfähig bewiesen, dessen radikaler Anwendung Deutschland den größten Teil seines Elends und seiner selbstüberheblichen Geistesgrößen verdankt. Das galt schon vor Schliemanns scheinbar beweiskräftiger Demonstration – aber doch nur als deutsche Begriffsgläubigkeit und Buchstabentreue. Nach Schliemann war dann kein Halten mehr: Bismarcks, Wilhelms und vor allem Hitlers Großabenteuer und Wildereien in den Gärten des Herren kann man nur verstehen, wenn man sie von Schliemanns quod erat demonstrandum her sieht: Erzählungen, Utopien, Weltentwürfe der Künste und Wissenschaften wurden von den Deutschen preußischen Geistes als platte Handlungsanleitungen für die Realisierung einer jeweils gewollten Welt angesehen. Und zwar so platt und so umstandslos wie nur denkbar und das heißt, so radikal wie nur denkbar. Hatte nicht zum Beispiel Hitler alle seine Programme in wünschenswerter Eindeutigkeit jedermann kundgetan? Wie sollten sich die Bewunderer Schliemanns dagegen wehren können, dass diese Programme bis zum letzten Blutstropfen auch in Taten umgesetzt werden würden. In Deutschland isst man eben so heiß wie man kocht, der häufigste Ordnungsruf in deutschen Wohnungen hieß „Marsch, an den Tisch, das Essen wird kalt!“ Da verbrennt man sich sehr leicht!
Wir werden uns hüten, unsere geschichtliche Erschließung des Geländes als Programmatik im Schliemannschen Sinne zu verstehen. Aber Schliemanns Vorgehen scheint der Schlüssel für das Verständnis des spezifisch Deutschen, also des Radikalen und Selbstzerstörerischen im historischen Handeln zu sein. Mit diesem Schlüssel soll zum Abschluss des historischen Lehrpfades im historischen Pumpwerk am Landwehrkanal vor den Standbildern Goethes, Fontanes und dem des Herkules, das eiserne Herz der Deutschen aufgeschlossen werden: Um den Schatz des Priamos wiederzufinden?
Die Trojaner waren ja nicht erst mit Schliemann nach Berlin gekommen. Im Zentrum des Lehrpfad-Geländes liegt der Askanische Platz. Den Namen erhielt er von den Askaniern, die mit Albrecht dem Bären 1134 an Havel und Spree zu ,kolonialisieren’ begannen – im Auftrag Kaiser Lothars. Seit 1150 konnte sich der Askanier Albrecht dann auch Markgraf von Brandenburg nennen. Bis 1320 herrschten die Askanier in Altmark, Nordmark, Brandenburg. Mit ihrem Namen wollten sie auf die anspruchsvolle, geschichtsträchtige Herkunft ihres Geschlechtes aus Troja verweisen, denn Askanius ist der latinisierte Name eines Sohnes von Aeneas. Der Askanische Platz war also immer schon trojanisches Gelände, ganz offiziell und absichtsvoll; denn die Askanier waren die ersten ,Deutschen’, die in dieser Weltgegend herrschten. Insofern das Heilige Römische Reich tatsächlich deutscher Nation war und insofern die Römer sich zu Recht von dem trojanischen Stammvater Aeneas ableiteten, waren damit auch deutsche Fürsten Abkömmlinge Trojas.
In Trümmern geboren, aus Ruinen ein Haus
Troja, das ist wohl nicht nur in der Vorstellung von Großgruppentouristen immer nur ein Haufen Trümmer. Ruinen sind die Lustziele touristischer Paradiesgärtlein. Was kaputt ist, erweckt Interesse; man kann sich mehr dabei denken und wünschen als bei den Architekturen der heilen Welt, vor denen sich der sprichwörtliche deutsche Handwerksmeister auf Reisen doch immer nur fragt, mit wie viel Mann, in welcher Zeit alles platt zu machen ist. Zerstörungsmacht verleiht dem Manne das Bewusstsein, auch selbst eine historische Kraft zu sein. Kinder demonstrieren Schöpfungswillen vor allem im Kaputtmachen. Das zeigt mehr überwältigende Effekte, weil es plötzlich geht und alles auf einmal. Bemessen wir nicht bis auf den heutigen Tag unsere historische Kraft stets danach, welche Zerstörungskraft unseren Waffen zukommt? Die größte Utopie, an deren umstandsloser Realisierung alle Machthungrigen aller Zeiten gearbeitet haben, ist die totale Vernichtung der Welt. Noch Hitler glaubte, darin der bedeutendste aller historischen Täter zu werden; und er ist ja auch ziemlich erfolgreich gewesen. Der todkranke Franco ließ sich zum Trost und zur Einübung ins Unabwendbare die letzten Monumentalfilme Hollywoods über die Vernichtung ganzer Erdteile vorführen.
Halten wir uns in den Trümmern der Vergangenheit so gruselnd gerne auf, weil wir glauben, allein auf diese Weise einen Blick in die Zukunft unserer Gegenwart werfen zu können?
Hat sich der volle Optimismus der 60er Jahre in der Sentenz verdichtet, „Leute, reist jetzt nach Deutschland, bald gibt es keine Trümmer mehr“, weil damals viele glaubten, dass doch der Menschheit eine andere Zukunft als die in Trümmern blühen könnte? (1) Das Gegenteil trifft wohl (wenigstens für die Deutschen) zu: Hemmungslos wurden die vom Kriege verbliebenen Ruinen, von denen die meisten hätten wieder aufgebaut werden können, abgeräumt. Der unselige Herr Düttmann ließ noch lange nach dem Kriege kräftig abräumen, um einen städtebaulichen Gestaltungsplan von wahrhaft Speerscher Anmaßung in ganz-deutscher Radikalität in unserem Gelände zu verwirklichen. Hatte jedoch Speer noch Architekturen unter dem Gesichtspunkt errichten wollen, welche gigantischen Ruinen sie nach Jahrhunderten hinterlassen würden, so schufen seine Nachfolger nichts als Wüste: Jene Wüste, in deren Sand das Zentrum Preußens immer schon gesetzt war. (2) Abräumen als Aufräumen meint für die Deutschen wohl damals wie heute, den Blick in die drohende Zukunft unserer Gegenwart zu verstellen; wo keine Ruinen stehen, braucht man an die Zukunft nicht zu denken.
Es gibt nichts Humaneres als den Versuch, selbst an Ruinen zu zeigen, was konstant bleibt. Ja, es lässt sich sagen, dass nur die Trümmer sich selbst gleich bleiben und damit Zielpunkt derer sind, die ihre Heimat suchen. Seit Mantegnas, Brunelleschis, Albertis Reisen in die Trümmer Roms gilt dieser Begriff von Heimat als der einzig ernst zu nehmende. Nicht aber, um zurückzukehren, wohin man, da es in Trümmern liegt, nicht zurückkehren kann, sondern um jedes zukünftige Handeln auf Kritik an sich selbst zu verpflichten; durch die Kritik der Ruinen. Diese Kritik war auch in Preußen, wenn auch nur ganz zurückhaltend, vorhanden. Immerhin kaufte ja ein doch nicht ganz zurechnungsfähiges Mitglied des preußischen Herrscherhauses als einziger zu seiner Zeit einige Arbeiten Caspar David Friedrichs, der sich mit diesem Problem ganz ausdrücklich beschäftigt hat. Denn Caspar wusste, dass nicht die gegenständliche Natur für sich die Konstante, also Heimat sein kann, sondern dass wir Heimat nur in den Formen unserer Aneignung und unseres Bezuges auf die Natur und die Dingwelt finden können. Friedrich hat, vor allen Dingen in seinen Ruinenbildern, diese Art der Konstanz gemeint, diese Heimat formuliert; Ruinenbilder, die den Gegenstand der Wahrnehmung als veränderten, ja bereits zerstörten zeigen, als vergangenen. Selbstverständlich musste Friedrich sagen, dass absolute Konstanz nur im sich selbst Gleichbleibenden, das heißt also, dass definitive Heimat nur im Tode gegeben sein kann. Aber die Menschen leben nicht als Tote. (3)
Für unser Training der historischen Imagination wollen wir das Ruinieren als ein Verfahren verstehen, die für jede Erkenntnis notwendige Differenz von Erscheinung und Wesen, von Gegenwart und Vergangenheit, von Wunsch und Wirkung, von Plan und Realisierung, von Entwurf und Verwirklichung herzustellen. Durch Ruinieren erzwingen wir die Differenz im unterschiedslos uns Vorgegebenen; die Ruine ist Vergegenständlichung der erzwungenen Differenz. Wie wenig wir uns dessen bewusst sind, obwohl wir danach täglich verfahren! So konsumieren wir ausdrücklich Waren, die so produziert sind, dass sie durch ihren Gebrauch zu Ruinen werden. Und wir haben ja auch schon ein Gespür für den Typ der monumentalen Landschaft, den unsere Abfallhalden repräsentieren. Dennoch reagieren wir automatisch mit Putzgesten, wenn wir in diesen Landschaften unserer Städte ein Autowrack, eine Ruine herrenlos herumliegen sehen. Reinigt die Wälder von Blechbüchsen und Kunststofflaschen, also von Ruinen, die sich ausschließlich aus der Nutzung dieser Wälder als Landschaften ergeben! Die Wälder selbst sind nichts anderes als ruinierte Natur, das bedeuten uns die Blechbüchsen und Cola-Flaschen. Natürlich ist es verständlich, dass man seine Wohnstube von den Ruinen des vorgängigen Lebens reinigt, damit darin weiter gelebt werden kann, was nichts anderes heißt, als weiterhin darin Ruinen zu erzeugen. Aber diese Reinigung ist richtigerweise nur eine Verlagerung des Sachverhalts, ist bloß Ritual, da der Dreck doch nie aus der Welt zu bringen ist. Ja, nicht einmal aus der Welt gebracht werden sollte, wenn wir nicht auf jede Art des Verweises aus dieser unmittelbar uns gegebenen Welt verzichten wollen. Was hätten wohl unsere Archäologen uns Großartiges über die Welt von gestern zu sagen, wenn unsere Vorfahren tatsächlich den Dreck aus dem Hause und nicht unter den Teppich geschafft hätten. Es ist ja doch jedermann klar, inwieweit wir von den Ruinen leben, nur sollten wir uns auch langsam angewöhnen, in ihnen zu leben.
Die Misere der modernen Nachkriegsarchitektur liegt doch nicht darin, dass unsere armen Architekten, die genialen Künstler, daran gehindert worden wären, ihre großartigen architektonischen Visionen auch in die Tat, also in gebaute Umgebung umzusetzen. Das behaupten die Herren zwar immer wieder gerne, um sich aus der Verantwortung zu stehlen, um die Misere anderen (den kommunalen Aufsichtsbehörden, den beschränkten Bauherren) aufzuhalsen. Nein, der unmenschliche Zustand ist allein der Tatsache zu verdanken, dass die Architekten tatsächlich umstandslos ihre Vorstellungen realisieren konnten – und nicht bedachten, dass menschenwürdig und menschengerecht nur ist, was deutlich macht und sagt: Dies ist nicht, was es der Vorstellung nach sein sollte, dies ist nicht für die Ewigkeit; dies könnte auch ein anderes sein, es ist Verwandelbares, also Ruine. Kurz: Unsere Herren Architekten haben zu wenig Ruinen stehen lassen und zu wenig Ruinen erzeugt, zuviel ganz und gar Verwirklichtes und zu wenig Unfertiges. Sie haben zuviel Systematisches konstruiert und zu wenig Fragmentarisches. Sie haben zuviel ausgeführt und zu wenig gedacht. Wollten sie den Verweis los sein, den die Ruinen (und damit jede Erkenntnis) auf das Vergebliche und das Versagen geben? Auf den Verfall, auf Funktionslosigkeit, auf die Unwiederholbarkeit des einmal Gewesenen? Auf Krankheit und Zerstörung? Immerhin scheint es ja in Berlin ein Gegenbeispiel zu geben: Aber Eiermann ließ den Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche nur als Ruine stehen, anstatt die gesamte Kirche als Ruine auszulegen, als funktionstüchtige Ruine. Eine solche herzustellen verlangt Anstrengungen, Kenntnisse und Fertigkeiten, über die offensichtlich unsere Gegenwartsarchitekten nicht verfügen. (4)
Gewitzt durch Erfahrungen, die ich in früheren archäologischen Unternehmungen vom Typ des Kulturlehrpfades gemacht habe, wollen wir für den Kulturlehrpfad im neuen Troja darauf verzichten, uns Schliemannschen Konzepten zufolge tatsächlich in die Erde einzuwühlen.
Archäologie des Selbstverständlichen
In Segesta’s Tempelruinen grub ich 1971 nach den Zeugnissen der Besuchergenerationen. Die aus dem Boden gewühlten Kippen, Zigarettenschachteln, Flaschen und Scherben, Schuhreste, Taschentücher, Bonbonpapiere, Kämme usw. stellte ich auf dem Stylobat aus und begann, das Material chronologisch zu ordnen. Eine geschlossene Gestaltreihe, die allerdings nur aus drei Elementen bestand, ließ sich bilden: Flaschenverschluss durch Korken, durch Schnappverschluss und Krondeckel, wobei dieser Systemzusammenhang zwar von der Tatsache ausging, dass der Korkenverschluss dem Schnappverschluss vorausging und der wieder dem Kronverschluss, nichtsdestoweniger aber an der Verkaufsbude vor dem Tempelgelände alle drei Verschlusstypen angeboten wurden.
Neugierigen Besuchern des Tempels versuchte ich mühsam (italienisch) zu erklären, was ich mit der Präsentation des Mülls neben dem ehrwürdigen Museumsstück bezwecken wollte. Ich holte weit aus bis ins Jahr 1967, als ich in der Stadthalle von Hannover zum Architektentag ganze Lastwagen voll Kulturmüll zum Kulturzeugnis aufwertete. Die damaligen zwei Dutzend schauspielerischen Akteure sollten dem Publikum demonstrieren, dass man verpflichtet sei, die unmittelbare Vergangenheit seines eigenen Lebens historisch werden zu lassen, wenn man den Anspruch erhebe, die Tätigkeit der Archäologen zu würdigen und für sich selbst tatsächlich zu nutzen. Man muss lernen, das eigene Leben so respektvoll anzugehen wie die Archäologen den Kulturmüll der Zeiten. (In Unterstzuoberst 1969 wurde eine solche Rekonstruktion des Gegenwartslebens aus vielfältigsten ,Lebensmitteln’ vorgeführt, also aus Material, das durch seine Benutzung notwendigerweise zerstört wird.)
Ich schloss den Exkurs mit der pathetischen Frage, ob sich aus der Rekonstruktion des Lebenszusammenhangs von solchem Material die gleiche Art von Geschichte vergangenen Lebens ergebe, wie sie anhand von Objekten erzählt wird, die einst hervorgebracht wurden, um die Zeiten zu überdauern. Frau HUSS wollte gerade mein Gestammel in ein verstehbares Italienisch überführen, als einer der Angesprochenen auf Deutsch vernehmlich zu seinem Weibe bemerkte: „Der spinnt.“ (5)
Wenn wir nicht in Ziegelsteinen und anderen Gegenständen zuhause sein können, sondern nur in Themen und Gedanken und Vorstellungen, dann verführten die ausgebuddelten Fragmente historischer Dingwelten nur allzu leicht dazu, an ihnen kleben zu bleiben, anstatt über sie zur Ausbildung jener Imagination zu gelangen, die dem toten Material erst Bedeutung verschafft.
Das archäologische Bewusstsein, das wir für den Lehrpfad ausbilden wollen, soll auf uns selbst als Gegenstand des Interesses ausgerichtet sein. Wir sollten lernen, uns selbst schon als gewesen zu betrachten, damit unserer Lebensgegenwart die notwendige Zeitlichkeit historischer Prozesse zukommen kann. Wie das gemeint ist? Wer sich fragt, in welchen konkreten Erscheinungsweisen unser gegenwärtiges Leben historisch späteren Betrachtern am präzisesten und eindeutigsten gegenständlich aufbewahrt werden könnte, wird mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu dem Resultat kommen, dass ein solcher späterer Betrachter sich über uns am sinnfälligsten ein Bild machen könnte, wäre es ihm möglich, die Schaufensterfassaden einiger Kaufhäuser abzuschreiten. Er würde das in diesen Schaufenstern zu Betrachtende im gleichen Maße für die Rekonstruktion unseres Lebens als bedeutsam erachten können, in dem wir heute für die Rekonstruktion des Lebens der römischen Kaiserzeit uns auf die Ausgrabungen in Pompeji stützen. Was dort als Leben in den Häusern und in den Straßen durch die vesuvische Lava zu einer Permanenzszene des Gewesenen erstarrte, wird in den Schaufenstern unserer Kaufhäuser bereits inszeniert. Bewegungslos, auf keine Aufforderung reagierend, eingeschmolzen in undurchdringliche Glaskuben, verharrt das im Schaufenster gezeigte Leben in einer unübersehbaren und unvermeidbaren Aufforderung an uns, das Ausgestellte zur Kenntnis zu nehmen; wobei es im Interesse der Aussteller liegt, dass durch diese Konfrontation unser Verhalten bestimmt wird, also von uns Schlussfolgerungen gezogen werden und wir infolge dieser Schlussfolgerungen handeln sollen.
Im gleichen Sinne betrachtet man die pompejanischen Versteinerungen mit der Absicht, die durch das Material ermöglichten Wahrnehmungen in die Handlungsfähigkeit des Betrachters mit aufzunehmen. Wo wir in der Konfrontation mit den Schaufensterinhalten bisher überwiegend nur zu einem einzigen Typ der Handlung veranlasst werden, nämlich die ausgestellten Gegenstände durch Kauf zu erwerben, gilt es, auch jene Handlungen, die dem Archäologen oder Kulturwissenschaftler oder Touristen aus der Betrachtung pompejanischer Versteinerungen ableitbar sind, dem Schaufenster gegenüber zu aktivieren. Mit dem pompejanischen Blick erschließen sich uns Möglichkeiten, den eindeutigen Handlungsappell, der von den gezeigten Gegenständen ausgeht, zu differenzieren und aus der Wahrnehmung auf mehr zu schließen als auf die Aufforderung zum Kauf.
Dieses Mehr lässt sich am einfachsten als die zu erlernende Fähigkeit bezeichnen, das Gegenwärtige als ein bereits Vergangenes zu sehen, das auf die Gegenwart als eine Zukunft verweist. Darin liegt die Möglichkeit, das Gegenwärtige nicht nur als eine unumstößliche Konsequenz des Gewesenen zu sehen, sondern als eine historische Erscheinungsweise dessen, was möglich und zukünftig wäre. Das Gegenwärtige als ein Vergangenes betrachten zu können, meint in erster Linie, sich Gegenwärtigem nicht ausliefern zu müssen. Das aktual Betrachtete lässt sich so in die Distanz zwingen, die notwendig ist, die Wahrnehmung zu kontrollieren und in bewusste Reaktion zu überführen. Der pompejanische Blick ermöglicht die Konstruktion eines Experimentierfeldes, den Aufbau einer Laborsituation, in der auch das Wimmelnde und diffus sich nach allen Seiten Ausdehnende unserer Lebensäußerung festgehalten wird, um es mit Verstand zu betrachten.
Die Arbeit eines zeitfesselnden Lavaspeiers soll dabei unser Bewusstsein übernehmen, dass wir selbst Bestandteil der toten Welt sind, die als Vergangenheit immer auch die Zukunft unserer Gegenwart ist. (6) Wir werden also im Gelände im Wesentlichen uns selbst ausgraben müssen: Uns selbst also aus den Trümmern herauswühlen müssen als lebende Trojaner.
Historische Imagination: Zukunft als Vergegenwärtigungen der Vergangenheiten
Eine der folgenschwersten Konsequenzen aus der seit dem Beginn der Renaissance, seit Petrarcas Zeiten, geförderten Umorientierung von der Theologie zur Anthropologie als Basiswissenschaft ist der Verlust von Zukunft, wie sie die Heilsgeschichte garantierte.
Was heißt dann noch Zukunft, wenn sie nicht mehr als Erfüllung eines vorgegebenen Plans der Heilsgeschichte bestimmt werden kann? Eine offene Zukunft als das schlechthin andere, völlig Unerwartbare, wagt ja wohl kaum jemand zu denken; es ist bis heute die Frage, ob damit überhaupt etwas gedacht wäre. In einer Neubestimmung der Zukunft ist Petrarca tatsächlich der Inaugurator der Renaissance; Renaissance aber nicht als Wiedergeburt oder Auferstehung der Antike verstanden, sondern als deren Verwirklichung. Auch wir wollen uns ja mit der historischen Imagination nicht in die wie immer guten oder bösen alten Zeiten zurückversetzen, sondern? Bei unserem Vorhaben können wir nicht als moderne Historiker vorgehen, vielmehr haben wir Historiographen zu sein ganz in dem Sinne, in dem Petrarca diesen Rollentypus bestimmt hat; und das nicht, weil wir etwa unfähig wären, Historiker im heutigen Sinne zu sein, sondern weil für uns die Konstruktion von Geschichte eine völlig andere Funktion zu erfüllen hat als für den wissenschaftlichen Historiker. Es ist dies die Funktion eines lebenschaffenden Künstlers oder mit dem Fachwort der Zeit Petrarcas und der Renaissance, die eines Zoographos. Die Historie zum Bestand der eigenen Gegenwart werden zu lassen, heißt, die historischen Gestalten und Sachverhalte zum Leben zu erwecken. Dabei müssen diese Gestalten und Sachverhalte selbstverständlich Wesenszüge und Erscheinungsmerkmale annehmen, die mit ihrer historischen Faktizität nicht viel gemein haben. Sie sollen nicht wiedererstehen; nicht wiedergeboren werden, sondern sie sollen als die lebendig werden, die sie in ihrer Zeit nicht hatten sein können, wozu sie aber hätten werden können, wenn sie in den jeweiligen späteren Gegenwarten in Erscheinung getreten wären – anders gesagt, die historischen Gestalten verwirklichen sich erst in der Zukunft ihrer eigenen Geschichte. Petrarca verstand als solche Zukunft der Antike sein eigenes Zeitalter. Wir müssen als Zukunft der vergangenen 200 Jahre Geschichte im Areal des Kulturlehrpfades unsere heutige Gegenwart verstehen.
Was also ist Zukunft ohne heilsgeschichtliche Gewissheit? Sie wird erzwungen, wenn es gelingt, Geschichte als Dimension der Gegenwart aufzubauen. Die Zukunft jeder Gegenwart besteht in der immer weitergehenden Vergegenwärtigung der Geschichte als Gegenwart. Dabei wird aber nicht nur Vergangenes im Gegenwärtigen wieder lebendig – aber als Gewesenes – es werden vor allem aus dem Potential der Wahrnehmungen, der Vorstellungen und Handlungsmöglichkeiten der Vergangenheit jene in der Gegenwart verlebendigt, die in der Vergangenheit selbst sich nicht hatten durchsetzen und verwirklichen lassen. Das unterscheidet unser Vorgehen wie das des Petrarca von historizistischen Auffassungen, die ihre jeweilige Gegenwart nur mit den Versatzstücken der Vergangenheit möblierten, ja, eigentlich derart verbauten, dass Geschichte ganz dimensionslos wurde.
Welche Dimension der historischen Fakten als Vergegenwärtigung der Geschichte in der Gegenwart ist bedeutsamer, die zeitliche oder die räumlich-geographische? Ist die Orientierung des Menschen im Raum oder in der Zeit von ausschlaggebenderer Bedeutung? In Petrarcas Jahrhundert war die Antwort auf diese Frage deshalb so wichtig, weil man klären musste, ob die Institution Kirche und ihr höchster Repräsentant, der Papst, als Garanten der Geschichtlichkeit des Lebens von Jesus Christus überhaupt wirksam werden konnten, wenn sie nicht in Rom residierten, sondern irgendwo in der Welt. Fast durchs ganze 14. Jahrhundert hindurch waren die Päpste aus machtpolitischen Überlegungen der französischen Könige nach Avignon deportiert. War ,Rom’ das Haupt der Welt, war der christliche Glaube noch bestimmende Macht, wenn ,Rom’ repräsentiert durch Kirche und Papst, nicht in Rom, an jenem bestimmten geographischen Ort, anwesend gedacht werden konnte? Petrarcas Antwort ist eindeutig und sie wurde zumindest von seinen italienischen Zeitgenossen auch geteilt: Die Konstanz der Orientierung im Raum ist für den Menschen gerade als historischem Wesen unverzichtbar. Der Papst musste nach Rom zurück. Petrarcas Konzept der Verwirklichung der Geschichte hat nämlich die Konsequenz, dass das zeitliche Vergehen in einer ganz unerhörten Radikalität begriffen werden muss.
Was einmal war, hat gerade darin seine geschichtliche Bedeutung, dass es nie wiederkommen kann. Das verschafft auch dem unbedeutendsten historischen Ereignis einen Anspruch darauf, wahrgenommen zu werden. Was in der Gegenwart von der Geschichte verwirklicht werden kann – und uns Zukunft garantiert – ist gerade die historische Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit alles Gewesenen. Das in der Gegenwart präsent gehaltene Vergangene erzeugt uns gegenüber eine schaudernd machende Wirkung, weil es uns auf die Kluft verweist, die unsere Vergangenheit und unsere Zukunft als einen unüberbrückbaren Schlund trennt. Was wir wollen, ist eines, was daraus wird, ein anderes. Niemand – bedeuten uns die Repräsentationen der Vergangenheit – kann durch irgendwelche noch so heroische Anstrengungen dafür sorgen, dass sich die Zukunft als Verwirklichung seiner Pläne bestimmen lässt. Sie hat einen eigenen Plan, den erst zu erkennen vermöchte, wer das Ende der Geschichte in der völligen Stilllegung des zeitlichen Vergehens erlebt hat. Das wird der Fall sein, wenn alles bisher Historische, Vergangene simultan die lebendige Gegenwart ausmacht und daher nichts Neues mehr geschehen kann! Da dieser Zustand menschlichem Bewusstsein niemals zugänglich sein wird, bleibt es den Menschen verwehrt, von einem Plan der Geschichte Kenntnis zu nehmen.
Preußen wurde 1947 per Dekret aufgelöst. Gerade wenn wir diese Sachverhalte als historisch unwiderrufbare präsent halten, öffnen und erweitern wir den eng begrenzten Raum unserer Lebensvollzüge; die Zeit als geschichtliche Dimension baut Stockwerke auf dem fixierten geographischen Grundriss. (7)
(1) Vgl. Bazon Brock: Bitte um glückliche Bomben. 1963.
(2) Vgl. Ulrich Giersch: West-Ost / Oase-Wüste. Berlin 1981.
(3) Vgl. Bazon Brock: Dreh dich endlich um, Kerl! Ein Versuch, Caspar David Friedrichs Rückenfiguren ins Gesicht zu sehen. 1974.
(4) Vgl. Bazon Brock: Ruinieren, ein handlungs- und erkenntnistheoretisches Konzept. In: Werk und Zeit (2)1978; und (5) Bazon Brock: Die Ästhetik des Kaputten - Ruinen, Collagen, Fragmente oder die Typologie des Aus-der-Welt-Bringens. In: Werk und Zeit (3)1980; sowie Bazon Brock: Die Ruine als Form der Vermittlung von Fragment und Totalität. 1981.
(5) Bazon Brock: Ästhetik als Vermittlung, Hrsg. von Karla Fohrbeck. Köln 1977.
(6) Vgl. Bazon Brock: Das Leben im Schaufenster. 1972; sowie Bazon Brock: Ein Friedhof senkrecht in den Himmel - zu einer innerstädtischen Totenheimat. 1973; sowie Bazon Brock: Ästhetik in der Alltagswelt - zur Archäologie des Alltäglichen. SFB. TV. 1973.
(7) Bazon Brock: Ästhetik als Vermittlung. Hrsg. von Karla Fohrbeck. Köln 1977; und Petrarcapreis 1975-79. Autorenbuchhandlung München. 1980.