Buch Die Re-Dekade

Kunst und Kultur der 80er Jahre

Die Re-Dekade – Kunst und Kultur der 80er Jahre, Bild: Titel.
Die Re-Dekade – Kunst und Kultur der 80er Jahre, Bild: Titel.

Die Reihe »Zeit Zeuge Kunst« beschäftigt sich mit den Entstehungsbedingungen und der Rezeptionsgeschichte von Kunstwerken. An ausgewählten Beispielen der historischen und zeitgenössischen Kunst werden verschiedene Interpretationsmodelle vorgestellt, um zu einem besseren Kunstverständnis beizutragen.

Bazon Brock, einer der führenden Ästhetiker, Kulturtheoretiker und Diagnostiker des Zeitgeistes, wertet in dem Band »Die Re-Dekade« die wichtigsten Ereignisse aus Kunst und Kultur der 80er Jahre unter der Perspektive unserer Zukunftserwartungen für das letzte Jahrzehnt dieses Jahrtausends. Die 80er Jahre sind nach Meinung des Autors durch Wiederholungen, Wiedergewinnung von Gewesenem, von Vergangenern, durch Rückbezüge und Rückkehr bestimmt. Wenn er auch dieser Haupttendenz nicht jegliche Qualität und Legitimation absprechen will, bleibt er doch in einer überwiegend kritischen Haltung. Zwar haben die bildende Kunst und die künstlerisch engagierte Architektur in diesem Zeitraum einen enormen Zuwachs an gesellschaftlicher Bedeutung erfahren, Bazon Brock sieht jedoch den Preis dieses Erfolgs im Zerfall des künstlerischen Anspruchs, der zugunsten einer leichten Konsumierbarkeit und eines schnellen Verschleißes aufgegeben werde. Zwischen diesen Polen bewegt sich die vorliegende Untersuchung.

Illustration: Wassermann, Simon

Erschienen
1989

Autor
Brock, Bazon

Verlag
Klinkhardt und Biermann

Erscheinungsort
München, Deutschland

ISBN
3-7814-0288-6

Umfang
298 S. : Ill. ; 23 cm

Einband
Pp. : DM 48.00 (freier Pr.)

Seite 23 im Original

1.3 Die Re-Dekade und ihre Tätertypen

Hatten unsere 80er Jahre kein eigenes Gesicht, keinen eigenen Stil, keine unverwechselbare Eigentümlichkeit? Unsere 80er – eine Dekade ohne prägende Kraft, ohne Identität, deren man sich je erinnern wird?

Alles nur Wiederholung, alle Anmache nur Nachmache? Also Madonna nur ein remake von Marilyn Monroe, Rambo nur ein remake von John Wayne plus Vietnamleutnant Calley? Weltstardesigner Mendini nur ein Redesigner, wie er sich schließlich selber nennt? Präsident Ronald Reagan nur ein remake des 50er-Jahre-Schauspielers Ronald Reagan? Kanzler Kohl nur ein remake von Konrad Adenauer plus einiger Pfunde Ludwig-Erhard-Speck?

Selbst wenn das so gemeint sein sollte, dann wären das doch wohl merkwürdig abweichende remakes, bestenfalls Karikaturen, schlimmstenfalls tragikomische Selbstvergottungen.

Das Re – das Wieder – das Nocheinmal führt selbst dann nicht zur Wiederauferstehung, wenn man um jeden Preis als eine Re-Inkarnation erscheinen, ja eine sein möchte.

Madonna kann ja nur der für ein remake, gar eine Reinkarnation von Marilyn Monroe halten, der den Wolf nicht von der Großmutter zu unterscheiden weiß; und das auch noch im Bett! Daß die Leute Hamburger fressen, heißt noch lange nicht, sie wüßten gutes Essen nicht zu schätzen. Ist Madonna mehr als Hamburger in Höschen, das sie zuweilen sogar auszieht, um es dem Ministerpräsidenten Frankreichs in den Schoß zu werfen; alles bekleckert mit Ketchup-Flecken statt mit Zeusschem Goldregen? Alles nur ein Problem der Abfallbeseitigung? Bei der jedenfalls wäre das Re sehr angebracht, geradezu das großartigste Programm der 80er Jahre.

Recycling, Wiederverwertung: „Ich war eine Dose“. Aber Blech bleibt eben doch nicht bloß Blech; eben noch ein Bierbehälter, jetzt ein Kruzifix. Recycling ist schöpferisch; wahrscheinlich ist alle Kreativität nur ein Recycling des Vorhandenen.

Madonna recycelt kreativ Marilyn Monroe; eben noch Hollywood-Opfer, jetzt Jungfrau Maria. denn auf sie hebt ja wohl der Name Madonna ab.

Merkwürdig, daß das nicht als Gotteslästerung empfunden wird, ebenso wenig wie Jesus-Jeans und U-Boote, die Corpus Christi heißen.

Wenn das kein tragikomischer Versuch der Reinkarnation ist, dann ist es eben schöpferisches Recycling als Anverwandlung. Die zeitgemäße Madonna ergreift Besitz von den Wundergläubigen, indem sie sie elektronisiert; der Geist der Videozeitmaschine kommt über sie; die Flucht nach Ägypten ist eine Tournee durch Europa, Josef, der Handwerker, ein Medienmanager.

No Kid Jesus? No Kid, but Kids! Und die Message, die frohe Botschaft? Es gibt nur eine, immer dieselbe: Wir fürchten uns nicht vor dem Verfall der Werte, vor der Umweltkatastrophe, nicht vor Aids, vor dem Alter, vor dem Bösen; denn wir können erlöst werden, wenn wir nur bedingungslos glauben, die starken Leistungsheiden, die auserwählten Big Bosses und die reinen grünen Jungfrauen werden am Ende doch triumphieren. Ihr Erfolg hängt allein an der Kraft unseres Wünschens; sollten sie scheitern, so hätten wir uns das selber zuzuschreiben, denn nur der Erfolg bestätigt den Glauben. Das ist, Yuppie-Yäh-Yäh, ein starker alter und bewährter Gottesbeweis, aber eben recycelt. Das Erfolgsbuch der 80er Jahre bei Bundesrepublikanern, die von sich behaupten, niemals Bestsellerlisten anzuschielen, behandelt nichts anderes als diesen Mechanismus der sich selbst erfüllenden Prophetie. Watzlawicks „Anleitung zum Unglücklichsein“ drückt die Verkehrung schon im Titel aus; ihrer hatte sich in der deutschen Geschichte zuletzt mit größtem Erfolg Adolf Hitler bedient: schuld an der Niederlage seien die Deutschen an der Front und in der Heimat selber gewesen, denn hätten sie den rechten Glauben gehabt, so hätten sie auch siegen müssen. Daß sie nicht gesiegt haben, beweist ihren Mangel an Siegeswillen. Da gibt es nur ein Problem: Berge zu versetzen, heißt, sie irgendwo wieder hinzustellen. Aber da stehen sie dann wieder. Schuld muß abgetragen und nicht einfach nur umgesetzt werden.

Wer nun meint, hier stemme ein typisch deutscher Kulturkritiker leichtsinnig sein mageres Schreiberärmchen in die Windmühlenflügel des Zeitgeistes, um die Verschrottungs-, die Verwertungsmaschine anzuhalten, der irrt bezeichnenderweise! Die scheinbar radikalen Schmähungen der 80er Jahre kommen aus Amerika. Sie werden nicht nur von den Medien-Ayatollahs effektvoll vorgetragen, jenen „Prediger“ genannten Geldschnorrern, die soeben bei unfrommen Spielchen mit Privatmadonnen erwischt wurden. Nein, wohlbestallte Universitätsprofessoren wie Allan Bloom aus Chicago hauen den Videofreaks mit dicken Büchern auf den Kopf, wenn nicht gar in die Fresse.
Der Bestseller der US-Saison von Allan Bloom heißt, wörtlich übersetzt: „Die Verkommenheit der amerikanischen Geisteskräfte – wie die höhere Bildung die Demokratie zur Strecke brachte und die Seelen der heutigen Studenten verkümmern ließ“. Das klingt nun ganz nach Adorno, nur machte der nicht die höhere Bildung, sondern den Konsum und Medienzirkus für die Verkümmerung der Geister und Seelen verantwortlich. Ein erheblicher Unterschied, wie wir gleich merken werden. Aber davon einmal abgesehen, läßt sich ja fragen, ob Adornos im amerikanischen Exil entwickelte Kulturkritik nun endlich auch in den Vereinigten Staaten zur Kenntnis genommen wird. Dafür sprechen kulturkritische Stellungnahmen wie die von Tom Shales im amerikanischen ESQUIRE (1), die radikale Abrechnung mit den 80er Jahren durch den führenden Fernsehkritiker der WASHINGTON POST. Shales’ Leser müßten sich in Tränen der Scham, der Reue und Bitternis selbst ersäufen, nähmen sie auch nur einen Teil der selbstmitleidigen Klagen ernst, die Shales ihnen vorlegt.

Also großer Appell zur letzten Wende? Fundamentalistische Radikalität zur Errettung der elektronisch gemarterten amerikanischen Seele, der Demokratie, der Freiheit und der Humanität? Daß Adorno nicht lache! Er hätte diese Kassandra in Madonnastrapsen weniger ernstgenommen als seine barbusigen Studentinnen im Hörsaal 6 der Frankfurter Universität im Jahre 1968; denn Tom Shales und Kollegen sind sehr schnell als plumpe Beutegeier über Trümmern auszumachen, die sie selbst erzeugt haben. Elende Dummheit, mit der man sich von Verantwortung freisprechen will; denn wer das Elend lauthals beklagt, kann es schlechterdings selbst nicht verursacht haben, so soll uns nahegelegt werden. Wären die Herren doch wenigstens Zyniker, die da jahraus, jahrein dem elektronischen Zirkus Höchstattraktionen abverlangen; mit Hinweis auf Leser- und Zuschauerzahlen alles aus ihren Zeitungen, TV-, Radio- und Theaterprogrammen rausschmeißen, was ihrer Meinung nach die Auflagenhöhe und den Massenzuspruch gefährden könnte. Aber die sind nicht zynisch, sie sind naiv, wie die Wundergläubigen, die sie als Opfer der elektronischen Anmache beklagen. Naiv zu sein hat einen Vorteil, man braucht nicht zu bemerken, wenn man lügt. Deswegen ist Allan Blooms Lügengespinst zum Bestseller geworden. Er behauptet doch in aller Naivität eines selber verkümmerten Geistes, die von europäischen Emigranten in Amerika erst entscheidend weiterentwickelten Wissenschaften hätten die amerikanische Demokratie versaut, indem sie deren Träger mit dem Geist der kritischen Rationalität infizierten. Das ist die neueste, vermeintlich unverdächtigste Version des Antisemitismus, des Antihumanismus und des Antisozialismus und aller anderen Antis. Re und Anti, die amerikanischen Monster der 80er Jahre, wie sie Shales im Remake, Recycling, Redesign der 80er Jahre beklagt, und Bloom sie als antiamerikanische Umtriebe aufzuspüren behauptet. Re und Anti, Hand in Hand. Die Wiederkehr von McCarthys Hexenjagd gegen Antiamerikaner? Den Shaleses und Blooms zufolge wäre das die elektronische Verkörperung des Geistes der 80er Jahre.

Aber das ist nicht das Resultat einer Analyse, sondern die Projektion einer Wunschvorstellung; so hätten die Herren es gerne, um sich in ihrer tatsächlichen Naivität gerechtfertigt zu fühlen, mit anderen Worten: um die zeitgenössische Naivität als angemessene Reaktion auf die beim besten Willen nicht mehr zu leugnende katastrophale Selbstzerstörung der Menschheit empfehlen zu können. Alle wissenschaftliche Rationalität, aller spekulative Gedankenreichtum, alle künstlerischen Bildphantasien und kulturkritischen Alternativen werden für die drohenden Katastrophen verantwortlich gemacht; also – schließt die Dummheit messerscharf, und sie hat ja ihre eigene zwingende Logik – ist das Gegenteil von kritischer Rationalität und phantastischer Spekulation, nämlich die Naivität, als Heilmittel zu verordnen. An den amerikanischen Universitäten soll demzufolge wieder die Einübung in die natürliche Dummheit und Naivität des Menschen Vorrang haben, die Einübung in Anerkennung von Autorität, in vorschriftsgemäßes Verhalten, in fraglose Etikette. Noch höhere Auflagen als die Verdammungstiraden der fundamentalistischen Seelenverkäufer haben in den USA der 80er Jahre nur „Benimmbücher“!
Die in die USA emigrierten Schüler von Marx, Max Weber und Freud, von Schopenhauer, Nietzsche und Picasso, also die Adornos, Horkheimers, Schönbergs und Thomas Manns werden verantwortlich gemacht für die Verkümmerung der amerikanischen Geisteskräfte und Seelengröße. Die Boten werden geköpft, damit die Botschaft nicht gehört zu werden braucht. Die Videotechnik wird verantwortlich gemacht für den Verlust der Jetztzeit, für den Verlust der Kindheit, der Gottheit. Anders herum wird aus der Projektion der eigenen Machtgelüste die Analyse dessen, was tatsächlich vor sich geht. Was also? Shales argumentiert im Kern immer wieder so: Der Videorekorder, die alle Zeiten zertrümmernde Maschine der endlosen Wiederholungen, hindere uns daran, den alten Ballast loszuwerden, Alles und jedes sei beliebig präsent, und das auch noch gleichzeitig. Das Wichtigste sei nicht mehr zu erkennen, wenn ihm das Vergänglichste, das Zeitgebundene gleichgeschaltet werden könne. Man habe keine Kontrolle mehr darüber, was die Leute sehen und wie sie es sehen. Eben, eben, da liegt der Hund begraben. Man möchte Verbindlichkeit wieder verordnen können durch zeremoniös überhöhte Gleichschaltung: eine Nation, ein Programm, ein Wille, eine Macht.

Kurioserweise behauptet aber Shales, daß die Vielfalt der heutigen Programme nur die ewige Wiederholung der gleichen Muster biete. Da hätte er doch eigentlich den Einheitsfraß, die Kraftnahrung der Weltmacht USA, um deren Sicherung es ihm wie all seinen scheinbar selbstkritischen Geißelbrüdern geht.

Die Wahrheit ist, daß nie zuvor in der Geschichte so viele (wenn auch bei weitem noch nicht die Menschheit) der Zeitgenossen aller Bildungs- und Statusränge zur kritischen Unterscheidung fähig waren wie gegenwärtig. Die Wahrheit ist, daß nie zuvor so viele landläufige Bürger bereit waren, Konsequenzen aus ihren Einsichten zu ziehen. Die schmähliche Amtsvertreibung des Präsidenten Nixon, die Erzwingung des amerikanischen Abschieds aus Vietnam haben den amerikanischen Machteliten dieses Faktum zu Bewußtsein gebracht, das ihnen bis heute im Nacken sitzt. Sie fühlen sich von der Kritikfähigkeit ihrer Klientel bedroht und möchten sie gern loswerden; daher die Empfehlung patriotischer Naivität als Allheilmittel.

Aber die kritische Analyse und Wertung von Irangate, kindischem SDI-Zauber, CIA-Totalitarismus und die schier endlosen Prozesse von Verbrauchern gegen die leeren Haftungsversprechen der Industrie nach dem Verursacherprinzip machen klar, wie viele Bürger nicht bereit sind, ihre Kritikfähigkeit gegen das hohle Versprechen imperialen Glanzes und feierlicher innerpolitischer Weiheruhe von Heldenfriedhöfen einzutauschen, Die amerikanischen Machteliten leben heute bereits wie die europäische Aristokratie im Zeitalter des Viktorianismus und des Wilhelminismus, nämlich im bloßen Reich der elektronischen Geister, die sie selbst als Helfershelfer ihrer Marktstrategen kreiert haben. Sie leben in der irrealen Welt total beliebiger Behauptungen, die sie allen anderen verordnen möchten. Nicht die breiten Massen versinken in elektronischer Verblödung, sondern die Dirigenten, Besitzer und Beherrscher der Medien sind ihren eigenen Fiktionen aufgesessen und beklagen lauthals ihr absehbares Schicksal als das der Zivilisation schlechthin. Mit dem Untergang des Adels gingen zwar Machtkonstellationen zugrunde, sie bedeuten aber keineswegs das Ende der Gesellschaftsfähigkeit der Massen. Wo der Medienzirkus dirigistisch beherrscht wird, hat er fatale Ähnlichkeiten mit viktorianischen, wilhelminischen Adelsgettos. Da werden immerfort Prinzessinnen und Herrschergestalten geschaffen. Da werden willkürliche höfische Zeremonien und Etiketten als verbindliche Normen ausgegeben und Traditionen vermeintlich wieder aufgenommen Die Wahrheit ist, daß es keine Wiederholung gibt; die Wiederholung des Gleichen ist eine Behauptung derer, die sich vor den zwingenden Notwendigkeiten des unbekannt Neuen und Anderen aus Angst, ihnen nicht gewachsen zu sein, drücken wollen. Die Wiederkehr des Gleichen ist Instrument der Selbstbehauptung längst irreal gewordener Aristokratien des Geistes, des Geldes, der Macht und der Chronokratie. Wer behauptet, die 80er Jahre seien die elektronisch gesicherte Wiederkehr des Gleichen, was die 30er, 40er, 50er Jahre ausgemacht habe, also die Jahre des Triumphs der Demokratien über die Diktaturen, des Humanismus über den Sozialismus, des christlichen Offenbarungsglaubens über die gottlosen Sozialingenieure, der Eliten über die dumpfbrütenden Massen, des Starglanzes über den tristen Alltag, hat sein eigenes Todesurteil schon gesprochen So billig, wie man sich das als abgetakelter Medienaristokrat und Big Boss der totalen Simulation wünscht, sind Traditionen nicht zu haben, schon gar nicht als Wiederkehr des Gleichen. Traditionen müssen aus den jeweiligen Gegenwarten in der Angst vor dem unbekannten Neuen immer erneut nach rückwärts erst aufgebaut werden. Die 80er Jahre sind nicht die elektronische Wiederholung der 30er, 40er und 50er Jahre und erfüllen keineswegs die an diese Wiederholung geknüpfte Erwartung der Dauerhaftigkeit ewig gleicher Macht, verbindlicher Werte und gesicherter Autorität Die 80er Jahre sind darin bedeutsam, daß von unserer Gegenwart her so viele Zeitalter, so viele unterschiedliche Werthierarchien, Machtkonstellationen und Zielvorstellungen vergegenwärtigbar sind wie nie zuvor. Das fördert über den Vergleich die kritische Distanz zur eigenen Gegenwart, ja den Ausstieg der Massen aus dem Zeitgeist Was da als mangelnde festgefügte Identität der 80er Jahre beklagt wird, ist eine sehr sinnvolle Distanzierung und Relativierung, wenn das auch bedeuten mag, daß gegenwärtig selbst die zukunftsträchtigsten gedanklichen Konstrukte und Visionen nicht die Aufmerksamkeit, nicht den Einfluß zu gewinnen vermögen, der ihnen zukäme.

Der Rekorder vernichtet nicht die Zeit als Historie, er macht sie überhaupt erst zugänglich; die Zeit wird strukturierbar, anstatt als bloße unveränderbare Größe hingenommen werden zu müssen. Daß vor allem den Programmherrschern die Zeit entschwindet, ist die Konsequenz ihrer eigenen Unbeherrschtheit, ihrer Machtgier; denn Macht ist letzten Endes nichts als erzwungene Dauer, erzwungener Stillstand, erzwungene Verbindlichkeit. Das ist ein nur allzu verständliches menschliches Gelüst, führt aber nur zu einer Kultur der steinernen Götzen, zur viktorianisch/wilhelminischen Maskierung.

Shales beklagt die endlose Wiederauferstehung der Toten im elektronischen Recording – wäre das nicht geradezu der Triumph des Humanismus? Er sollte besser beklagen, daß sich die Medienherrscher längst als lebende Leichname erwiesen haben; Mumien der Selbstvergottung in Konzernzentralen, die es manchmal sogar mit Pharaonengräbern, aber nur in ihrer steinernen Pracht, aufnehmen können. Die amerikanischen Kritiker werden sich noch gewaltig anstrengen müssen, um auch nur eine Ahnung davon zu erhalten, wie ein Adorno in der amerikanischen Konsum- und Medienwelt seine Dialektik der Aufklärung entwickeln konnte. Sie hindern sich selbst daran, so lange ihnen dialektisches Denken ein teuflisches Instrumentarium der Zerschlagung aller Verbindlichkeit zu sein scheint, das die amerikanische Naivität zerstört habe. Jenes dialektische Denken aber war gerade darauf gerichtet zu klären, warum die machtvollste Sicherung von Verbindlichkeit am schnellsten zu deren Zerstörung führen muß. Es versucht, die Tatsache zu werten, daß Ideale nicht verwirklicht werden dürfen, sondern nur als kritisches Gedankenpotential ins Spiel gebracht werden können, um sich gegen ideologische Behauptungen ewiger Wahrheiten und Werte wehren zu können. Jene Dialektik zeigte auch, daß gerade die fatalsten Fehlentwicklungen Gegenkräfte hervorrufen und daß die einzige Möglichkeit, Bestände, auch Macht, zu sichern, in der Bereitschaft zur Veränderung liegt.

An dieser Einsicht mangelt es den Konjunkturkritikern des Zeitgeistes, weil sie fürchten, die durch Veränderung gesicherte Macht sei eben nicht mehr ihre alte Macht. Da allerdings haben sie Recht. Die von Madonna recycelte Monroe ist eben nicht die Wiederkehr der 50er-Jahre- Monroe, und der Präsident Reagan konnte selbst dann in seinem Amte nicht seine alten Filmrollen durchsetzen, wenn er es mit aller Gewalt wollte. Die Redesigner präsentieren uns nicht nur die alten Klamotten noch einmal, sondern sie verändern unsere Sicht auf und unsere Wertung der alten Klamotten von heute aus. Sie alle schaffen uns bestenfalls ein neues Bild der alten Zeiten, können sie selbst aber nicht wieder aufleben lassen. Re und Anti sind eben nicht ex und hopp der 60er Jahre; da ist Aids vor und das Ozonloch, die sterbenden Wälder und die Verschuldung der USA. Selbst die naivste Wiederholung des Gleichen produziert Abweichungen, meist schlimme, nicht nur im Sinne von Stilfragen. Naivität läßt sich auch nicht als Totstellreflex in Permanenz nutzen, das wäre nämlich die Existenzform der lebenden Leichname.

Also: Nicht zu viel kritische Bildung ruiniert die Demokratie, sondern zu wenig. Nicht zu viel kritischer Rationalismus führt ins Desaster, sondern die verführerische Behauptung einer selbstgenügsamen Naivität. Die Geisteskräfte werden nicht durch Relativismus und Pluralismus gelähmt, sondern durch die Macht, die korrumpiert, sobald sie sich ihrer eigenen Dialektik zu entziehen versucht. Und diese Macht, das ist wahr, sitzt heute vor allem in den Etagen der Programmmacher des elektronischen Medienzirkus. Zu ihm gehören inzwischen alle Kulturtäter – je unzeitgemäßer ihr Rollenverständnis als Genie, Märtyrer, Held, desto stärker hofiert sie das Unterhaltungsgewerbe. Monster sind eben attraktiver als schlichte Arbeiter im Weinberg der Künste.


• (1) Tom Shales, in: Esquire 2, New York 1988. Vgl. „Zwischen Revival, Recycling und Re-edition“ in: B. Brock: Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Köln 1986, S. 362 ff.

siehe auch: