Tafelrunde Symposion: Ästhetik in der Alltagswelt

Internationales Design Zentrum (IDZ), Berlin, 24.09.-29.09.1973

Termin
24.09.1973

Veranstaltungsort
Berlin, Deutschland

Veranstalter
Internationales Designzentrum IDZ

KLAUS HERDING und WOLFGANG KEMP: Ästhetik in der Alltagswelt – Ein Tagungsbericht

In: Kritische Berichte, 1 (1974), Nr. 4. S. 20-29.
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:16-kb-108538

"In der Woche vom 24.9. bis 29.9.1973 fand in Berlin das Symposion "Ästhetik in der Alltagswelt" statt, veranstaltet vom Internationalen Design Zentrum (IDZ). Das Treffen war von Bazon Brock, Heinrich Klotz und Martin Warnke vorbereitet worden; die Leitung während der Tagung hatte Bazon Brock. Außer den Genannten war die Kunstwissenschaft der BRD und Westberlins durch folgende Kollegen vertreten: Tilman Buddensieg, Matthias Eberle, Walter Hess (alle Westberlin), Wolfgang Kemp (Bonn), Rudolf Knubel (Essen), Erwin Palm (Heidelberg). Die Hauptreferenten der Tagung waren aus England, Italien und aus den USA nach Berlin gekommen – in der Reihenfolge ihres Auftretens: Norbert Elias (Leicester), Rudolf Arnheim (Cambridge, USA), Carlo Giulio Argan (Rom), Gyorgy Kepes (Cambridge, USA), George Kubler (New Haven, USA). Der folgende Bericht vereinigt Beobachtungen aus zwei verschiedenen Perspektiven: aus der des Symposionteilnehmers und aus der des Referenten.

Vor einer kurzen Präsentation und Kritik dessen, was auf dieser Tagung erarbeitet worden ist, einige Bemerkungen zu ihrer Organisation. In Berlin ist ein Tagungsmodell konsequent durchgeführt worden, das für künftige Veranstaltungen der kunstwissenschaftlichen Organisationen (VDK, UV, VDS) Anregung sein könnte – mit der Einschränkung, daß man sich bei der Auswahl der Hauptreferenten weniger auf "grand old men" fixieren sollte. Insgesamt war dieser formale Aspekt des Symposions der am wenigsten umstrittene, was die Kritik an einzelnen Unzulänglichkeiten (schlechte Diskussionsleitung z.B.) nicht ausschließt. Jeder Tag war einem der fünf Hauptreferenten und seinem wissenschaftlichen Werk gewidmet; jeder dieser Tage zerfiel in drei Abschnitte. Am Vormittag stellten zwei Korreferenten den Hauptreferenten vor und gaben eine kurze Einführung, in der sie thesenhaft die Ergebnisse eines seiner Werke zusammenfaßten. Danach wurde im Kreis der "Symposiarchen" und des Plenums diskutiert – was infolge der starken Personalisierung der Tagung oft auf Fragen an den jeweiligen Hauptreferenten hinauslief. Hier hätte man die thematischen Aspekte stärker forcieren und in eine sinnvolle Abfolge bringen sollen, selbst wenn das manchmal einen Abbruch der gerade laufenden Diskussion bedeutet hätte. Bei einer gänzlich egalitären Diskussionsrunde müsste das leichter sein. Einige Themen, die morgens angeschnitten worden waren, wurden dann am Nachmittag in Kleingruppen bearbeitet. Insgesamt kamen während der Woche 16 Arbeitsgruppen zusammen, deren Resultate in einer Plenumssitzung noch am gleichen Tag mitgeteilt wurden. Am Abend hielt der Hauptreferent einen Vortrag, der seine Sicht auf das Generalthema der Tagung wiedergab. Daran schloß sich erneut eine Diskussion an – man kann also festhalten, daß jeder dieser Tage von 10 Uhr bis ca. 23 Uhr dauerte. Das Publikum war bewundernswert aktiv und konstruktiv; zumal die älteren Hauptreferenten wurden von ihm bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit beansprucht. Die Tagung geriet nicht, was sonst unvermeidbar zu sein scheint, zur Gerüchte- und Klatschbörse. Die Zeichen standen auf Arbeit.

An dem Treffen haben auf der Seite der Referenten 13 Kunstwissenschaftler (davon sind zwei auch Künstler) und ein Kultursoziologe mitgewirkt. Diese Zusammenstellung überrascht. "Ästhetik in der Alltagswelt" – dieses Thema verlangt die Beteiligung von mehr Soziologen, von Arbeitswissenschaftlern, Freizeitpädagogen und vor allem Designern; diese letzteren stärker heranzuziehen, hätte der Institution eines Internationalen Design Zentrums schon vom Namen her naheliegen müssen. Es ist wohl so, daß die Leiter dieser Tagung den genannten Disziplinen die Berechtigung, hier mitzuarbeiten, nicht bestritten hätten. Es ging ihnen aber darum, den möglichen Beitrag eines Faches, der Kunstwissenschaft nämlich, in extenso zu testen. Insofern stand hier nicht nur ein Thema, sondern auch eine Wissenschaft zur Verhandlung. Aus dem Programm der Tagung: "Die Kunstwissenschaft hat immer schon die Frage nach der Bestimmbarkeit von Objektwelt ermöglicht, die noch um vieles unbekannter und unzulänglicher ist, als es unsere gegenwärtigen Lebensumgebungen sind. Wenn es also wissenschaftliche Arbeitsweisen gibt, die den Zugang zu einer so fremden Objektwelt erfolgreich erschließen können, wie es die wenigen überkommenen Zeugnisse historischer Lebenswelten sind, dann besteht guter Grund anzunehmen, daß wir mit Hilfe jener Arbeitsweisen unsere eigenen gegenwärtigen materiellen Lebensumgebungen besser erschließen können." Diese pauschale Aussage bezieht sich sicher nicht auf die wenigen Versuche der Kunstwissenschaft, Gebrauchsgegenstände im engeren Sinn oder Kunstgewerbe ihrer Funktion angemessen wissenschaftlich zu bearbeiten. Sie meint vielmehr eine Kunstwissenschaft, die auch das Kunstwerk, bislang zentraler Gegenstand des Faches, als einen für alltägliche Bedürfnisse gefertigten begriffen hat. Alle Kunst als angewandte zu verstehen, implizierte also für die Kunsthistoriker die Konsequenz, ihren Forschungsgegenstand aus der "hohen" Kunst mit Fragen nach der Bedürfnisstruktur, nach der Alltagsfunktion (für wen, blieb meist offen) anzugehen. Den dabei erweiterten Methodenapparat jetzt auf die heute gestaltete Alltagswelt anzuwenden, war die Forderung der Tagung an die Kunstwissenschaft; dem Veranstalter und dem Ort entsprechend blieb diese Alltagswelt bruchstückhaft auf Objekte des Industrial Design, bestenfalls des Umwelt-Design beschränkt. Diese Gegenstandswahl ist symptomatisch für die ungeklärte Verfassung, in welcher der Begriff Alltag während der gesamten Tagung blieb: fiel ihrem Leiter dazu meist nur der polemische Gegensatz Sonntag ein, so wurde der Hinweis auf die grundlegende Scheidung dieser Sphäre in einen Bereich der Produktion und einen der Reproduktion außer acht gelassen. Gleichviel – auch die intensive Beschäftigung der Kunstwissenschaft mit einem Teilbereich der Alltagswelt (Design) verdiente ernst genommen zu werden.

Es kamen angeregte und anregende Diskussionen vor einer Reihe von Stühlen, vor Verkehrsschildern, vor Beispielen des UmweltDesign, die Kepes brachte, zustande, doch der erweiterte methodische Fächer reichte nicht aus, die Bedingungen, unter denen Design entsteht, als Produktform realisiert, in den Zirkulationsprozeß eingeht, gebraucht und verwertet wird, auch nur einigermaßen zu erfassen oder gar einer bedürfnisorientierten Herstellungs- und Gebrauchsweise gedanklich vorzuarbeiten. Es blieb letzten Endes (entgegen der im Gesamtthema formulierten Intention) bei der Gegenüberstellung von Ästhetik und Alltagswelt, von Kunst und Design. Die Kunstwissenschaft ließ sich zum Alltag herab, um sich – für ihre künftige Praxis – mit Alltagswissen, zu bereichern, aber sie ließ sich kaum dazu herab, den Alltag zur Kunstwissenschaft und -geschichte zu machen. Dies lag einerseits an einem Mangel an Gewöhnung (Warnke), andererseits an einem Mangel der Methoden, obwohl diese – das muß betont werden – den normalen Standard kunsthistorischen Alltags weit überschritten. Um ja nicht ökonomistisch zu wirken – Marx wurde hier von Elias dauernd der "Einseitigkeit" geziehen –, ließ man ökonomische Zusammenhänge so gut wie ganz außer acht. Daß ein solcherart verkürzter Ansatz fehlgreifen mußte, macht vielleicht das Beispiel Kubler klar. George Kubler, der in "The shape of time" das Problem von Traditionsbindungen transhistorisch mit den Begriffen Sequenz (offene Problemlösungsfolge) und Serie (geschlossene Folge) anhand von Gegenständen alltäglichen Gebrauchs zu differenzieren versucht hatte, sah durch die Industrialisierung eine grundsätzliche Unterbrechung von Formensequenzen eintreten, z.B. eine Auflösung und Vernichtung hierarchischer Strukturen, soweit sich diese visuell konkretisieren. Er saß damit dem Schein der Ideologiefreiheit technischer Produktion auf, nahm etwa den "herrschaftsfreien Herrschersitz", d.h. ein für jedermann erwerbbares und ohne Rangunterschiede benutzbares Sitzmöbel als gegeben an. Dagegen wäre einiges ins Feld zu führen. Zunächst einmal die schlichte Tatsache, daß auch die Herren von heute ihre exklusiven "Sitze" haben und den von ihnen Abhängigen andere, weniger bequeme Sitzgelegenheiten zuweisen. Bei Gunter Sachs in Paris, 32 Avenue Foch: "Selbst der anspruchsloseste Raum, das WC, fand in zweieinhalbjähriger Gestaltung durch die teuersten Handwerker und Künstler eine Dekoration, die des 'grand Sachs lui-meme' würdig ist: ein Meister der perspektivischen Täuschung schuf durch Wand- und Deckenmalerei sowie mit Spiegeln etwas, das dem Benutzer des Gunterschen Spülklosetts vorgaukelt, sich inmitten des (sehr belebten) Innenhofs eines riesigen florentischen Palazzo zu befinden ... (Kostenpunkt 200 000 DM)". Bei Gunter Sachs in Schweinfurt, Werk Süd: "Kaum einer leistet sich außerhalb der beiden offiziellen Pausen den Gang zur Toilette. Man muß ein Stockwerk tiefer laufen, Springer stehen keine zur Verfügung. Und die beiden Schleifstraßen so lange abstellen, damit wäre die Notdurft zu teuer bezahlt – ein bis zwei Mark Lohneinbuße – wer kann sich das leisten. Für die Arbeiter gibt es drei Toiletten, ohne Brille, ohne Toilettenpapier, verdreckt." (Beide Zitate aus B. Engelmann u. G. Wallraff, Ihr da oben – wir da unten, Köln 1973, S. 142, 151). Dem Arbeiter, der tagsüber an der Schleifstraße steht, wird abends eine Polstergarnitur untergeschoben, die sich großbürgerlichen Maßstäben anbequemt – ein Abfallprodukt aus dem mit historischen Formen reich gefüllten Arsenal der Herrschenden. Kein Herr sitzt mehr so – seine Möbel sind Unikate oder Ergebnisse avanciertesten Designs.

Das wäre zu diskutieren gewesen, gerade im IDZ, das Anfang 73 eine Ausstellung über klassenspezifisches Wohnverhalten veranstaltet hat. Hier hätte sich der Ansatz geboten, an einer Stelle Produktionssphäre und Reproduktionssphäre zusammenzusehen: die Entwicklung der Produktivkräfte (Möglichkeit der Massenfabrikation) macht es halt nie allein, sie sprengt nicht die alten Verkehrsformen, hinzutritt notwendig als "wichtigste Produktivkraft" (Warneken) die Denk- und Handlungsfähigkeit der Individuen, die durch ihre Stellung im Produktionsprozeß bedingt ist. Daß dergleichen Argumente in der Runde wenig Anklang fanden, lag vielleicht nicht so sehr an einer grundsätzlichen Abwehr materialistischer Ansätze durch die Anwesenden, als vielmehr an der Ergiebigkeit eines andauernden Sehens und Redens (auch einer rückwärts gewandten soziologischen Phantasie – das ist zu konzedieren), das sich mit voller Konsequenz erstmalig bis dato vernachlässigten Gegenständen zuwendet. Wer wollte da immer den kollektiven Prozeß des Sehen-Lernens mit der harten, schon vor Jahren gestellten, aber unabgegoltenen Frage unterbrechen: Sehen-Lernen – wozu?

Es kann hier nicht darum gehen, alle Beiträge und Hauptreferenten vorzustellen. Manches erschien uns geradezu indiskutabel. So die Auslassungen von Arnheim, der gekommen war, einem säkularisiert-idealistischen Begriff von Schönheit neue Ehre zu erweisen, der dagegen auf die Aufforderung, auch die sozialen Bedingungen von Apperzeption in sein (gestaltpsychologisches) Modell von Wahrnehmung einzubeziehen, mit dem Diktum reagierte: "Wir wollen doch die Werte in Ordnung lassen." Wie Arnheim, ohne Einbeziehung sozialgeschichtlicher Reflexion, dann die These vertreten konnte, gegenwärtig sei ein Verfall der optischen Wahrnehmungsfähigkeit zu beobachten, dem entgegenzusteuern sei, mußte ungeklärt bleiben. Es kam auch nicht zu einer Aussprache zwischen Arnheim und Elias, der die kontroverse Ansicht vortrug, man habe es heute mit einer gesteigerten Sensibilität und Aufnahmebereitschaft für visuelle Objekte zu tun. Elias ging soweit zu behaupten, das "große Reinemachen", die von Zeit zu Zeit (naturgemäß?) sich vollziehende Umwälzung aller Verhältnisse (Altes raus, Neues rein!), früher Angelegenheit von Kriegen und Revolutionen, habe nun die permanente ästhetische Revolution übernommen. Die Gründe für die Innovationsfreudigkeit im Bereich ästhetischer Produktion wurden in der angeblichen Absenz von Machtkämpfen vermutet, womit weder die Konkurrenz der Produzenten noch die gezielte Verkaufsstrategie bei industriell standardisierten Produkten als Faktoren berücksichtigt sind. Gefährlich ist diese These deshalb, weil sie pure Forminnovationen unkritisch mit inhaltlichen Erneuerungen verwechselt. Das Beispiel Kepes machte klar, wohin eine solche Reduktion aufs Formale führen muß. Er zeigte anhand von Dias eine Reihe von Verschönerungsversuchen unmenschlicher Umwelt: das bunt bemalte Ghetto z.B., vor allem aber den Einsatz von Wasser bei allen Gelegenheiten: den geöffneten Hydranten im sommerlich-heißen Slum, die Wasserrutschbahn auf dem Spielplatz eines trostlosen Suburbia. Im Abendvortrag entwickelte er den Plan einer ästhetischen Indienstnahme städtischer Kläranlagen. Das Wort von der Watergate- Art, das Buddensieg im internen Kreis prägte, hätte – öffentlich ausgesprochen – lange Diskussionen überflüssig gemacht.

Sehr sympathisch wirkte das Auftreten Carlo Giulio Argans, der einen scharfsinnigen, für den Anlaß vielleicht zu komprimierten Abendvortrag "Über den Unterschied zwischen Kunst und ästhetischer Gestaltung in der Alltagswelt" hielt und die Diskussion des Tages (zum Thema Bauhaus) mit provozierenden Antithesen in Gang brachte. Argan verstand es, das Programm des Weimarer Bauhauses als sozialdemokratisches zu erklären, als ein Programm, das die Auseinandersetzung mit der herrschenden Klasse nicht aufnahm, weil es seiner Vorstellung nach gar keine Klassen mehr geben sollte, sondern eine "funktionale, dynamische und stufenlose Gesellschaftsstruktur". In gleicher Weise eilte das Bauhaus unkritisch den historischen Gegebenheiten voraus, wenn es eine Revolution der Produktivkräfte ohne eine Revolution der Produktionsverhältnisse wollte, bzw. sich von der ersten ein direktes Nachfolgen der zweiten erhoffte. Diese Abgehobenheit des Bauhaus-Programms mußte sich in seiner praktischen Tätigkeit, was den Bereich des Industrial Design anbelangt, niederschlagen. Argan hat dies konsequent am Begriff der Funktion, damit am Aspekt des Gebrauchswertes der Bauhausproduktion festgemacht. Um sein Fazit verstehen zu können, muß eine kurze Reflexion über den Gebrauchswert eingeschoben werden (cf. Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie s.v. Wert). Der Gebrauchswert einer Sache ist bedingt einerseits durch deren natürliche Eigenschaft, unmittelbar oder vermittelt irgendein Bedürfnis zu befriedigen, andererseits dadurch, daß diese Sache als Gegenstand von menschlichen Bedürfnissen Gebrauchswert ist und sich nur im Gebrauch realisiert. "Wert im Sinne von Gebrauchswert charakterisiert also ein Subjekt-Objekt-Verhältnis." Das Bauhaus hat nun den vergeblichen und irreführenden Versuch unternommen, einen Gebrauchswert nur auf der Objekt-Seite zu konstituieren. Argan drückt das so aus: "Die Bauhaus-Designer verstanden unter Funktion nicht Zweckmäßigkeit im Gebrauch eines Gegenstandes, sondern die Funktionalität der Form eines Gegenstandes." Dieser von konkreten, d.h. historisch gewordenen Bedürfnissen abstrahierende Standpunkt resultiert aus der oben angesprochenen Technikgläubigkeit des Bauhauses und vor allem aus seiner mangelhaften Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse. Argan hat dann gezeigt, welche Auswirkungen eine solche Position auf die sichtbare Gestalt der Bauhausprodukte hatte. Die funktionale Form des Gegenstandes weise über sich hinaus, sei Index für die Kontinuität und Ordnung einer im Ganzen funktional bestimmten Welt. Diese lege Wahrnehmung in einem bestimmten Sinne fest, sie intendiere nicht Potenzierung der Apperzeption, sondern bloße Wahrnehmbarkeit. Die Neutralität der so begründeten Verhältnisse lasse den Designer in die Rolle des Planers rücken, welche – als scheinbar plausible – die Rolle des Künstlers und des Politikers ablösen sollte. Woran ein solches Programm scheitern mußte, hat Argan dann im zweiten Teil seines Vortrags gezeigt. Die Vorstellung des Bauhauses, man könne sich die Industrie "heranziehen", schlug in ihr Gegenteil um: der Vormund wurde zum Mündel degradiert, er wurde zum Verzicht auf seine sozialen Utopien gezwungen. "In solchem Design tritt der Gesellschaft kein Bild dessen entgegen, was sie sein sollte und sein könnte, sondern nur ein falsches Bild von dem, was sie ist." Dieses Fazit, wird man einwenden, ist der hiesigen Diskussion um das Design nicht unbekannt: es war aber von Argan in einer so noch nicht durchgeführten vergleichenden Analyse von gegenwärtiger Kunst- und Designproduktion gewonnen worden. Dieser Teil seiner Ausführungen – Argan stützt sich hier auf Mukarovsky – gehört zu den problematischen Passagen; er könnte nur anhand von längeren Zitaten besprochen werden. Argans verkürzt wiedergegebene These, daß nicht Hitler, sondern Picasso der große Gegner des Bauhauses gewesen sei, da er dem Bauhaus eine realitätsbezogenere Vorstellung vom gesellschaftskritischen Engagement des Künstlers entgegengesetzt habe, läßt sich so sicher nicht halten. Argan verweist in diesem Zusammenhang merkwürdigerweise nur auf Künstler der ästhetischen Verweigerung und der Formzertrümmerung (Dada, Duchamp, Picasso) und berücksichtigt nicht auch jene, die mit dem Design konkurrierten (Pop-Art, Minimal-Art etc.).

Je länger die Tagung dauerte, desto weiter strebten die Bedürfnisse und Interessen der Teilnehmer auseinander. Während die einen die Theorie forcierten, verlangten die anderen nach Diskussion gegenwärtiger ästhetischer Praxis. Dritte wiederum, durch Argan und Kubler inspiriert, mobilisierten historisches Wissen. Die Kunstwissenschaft, die sich hier total verausgaben sollte, ließ sich geben. Sie rezipierte aufmerksam, was aus den verschiedensten Ecken herangetragen wurde, ohne daß sie die divergierenden Tendenzen hätte vereinen können. Das abschließende Statement eines der Referenten: "Wir standen als Anhalter an der Straße und wir sind alle mitgenommen worden", konnte doch wohl nur heißen, daß der Bus Kunstwissenschaft, der anfangs eingesetzt wurde, um alle aufzunehmen, irgendwo liegengeblieben war.

Die auseinanderstrebenden Interessen der Tagung waren als solche weitgehend berechtigt, das soll betont werden. Das Bedürfnis nach dem theoretischen Diskurs ergab sich vor allem aus dem Verlangen, die disparaten Ansätze der Hauptreferenten zu synthetisieren und auf dem durch sie geprägten Diskussionsstand auch die entwickelten Theorien anderer Richtung sichtbar zu machen. Thesen von Lukacs, Kosik, Lefebvre mit zur Diskussion zu stellen, scheiterte, weil die Hauptreferenten darauf nicht vorbereitet waren. Hier hätte man bei der Vorbereitung der Tagung initiativ werden müssen; man hätte z. B. Elias auf die Arbeiten von Lepenies und auf den jüngst bei Rowohlt erschienenen Reader zum Interaktionismus hinweisen können, man hätte Arnheim mit den Arbeiten von Holzkamp, Negt und Kluge konfrontieren sollen usw. Es mag sein, daß durch ein solches Vorgehen für viele Teilnehmer die Diskussion griffiger geworden wäre, die stattdessen etwas erstaunt zusehen mußten, wie altehrwürdige Begriffe aus der Versenkung geholt oder unverbindlich umformuliert wurden (Elias’ "pleasural excitement", Arnheims sozial indifferente "Schönheit", Brocks "Sozialer Wandel"). Ob es den Designern, Stadtplanern, Graphikern, Künstlern geholfen hätte, die nach Berlin gekommen waren, um ihre praktischen Probleme mit zur Sprache zu bringen, bleibt fraglich. Daß der Bezug zur Praxis scheiterte, lag eben an einem verselbständigten idealistischen Interesse an Theorie, das besonders bei Elias ("wir brauchen eine neue Machttheorie, um die Probleme zu lösen") an die Stelle des Handlungsimpulses trat. Vielleicht hätte das Bewußtsein hierfür geschärft werden können, wenn zu Beginn eine artikulierte Darstellung des Veranstaltungsinteresses erfolgt wäre. Wer mit scheinbar interesselosem Wohlgefallen an das Thema "Ästhetik in der Alltagswelt" herangeht, kann wohl nur schwer widersprüchliche gesellschaftliche Entwicklungen feststellen, muß undialektisch von "Verfall" der "Sensibilisierung" reden und sich mit derartigen Symptomen begnügen. Die Versammlung wurde sich auch am Ende der Tagung nicht der sie bestimmenden Interessen bewußt. Ging es ihr um Veränderung oder Beschreibung, um Veränderung der Form oder des Wahrnehmungsvermögens, um Beschreibung der die Formfindung, die Formauswahl oder den Genuß des Produkts bestimmenden Bedürfnisse?

Fazit: So wichtig es war, das Thema "Ästhetik in der Alltagswelt" anzuschneiden und dafür auch ausländische Gelehrte bzw. Emigranten zu gewinnen, so klar liegt auf der Hand, daß das Thema noch nicht einmal in der für ein Design-Zentrum notwendigen Weise erfüllt werden konnte. Eine Voraussetzung für die nächste Tagung dieser Art wäre die Klärung von Grundbegriffen und eine Definition des Tagungszieles. Es kann nicht dabei bleiben, daß wie in Berlin weder Alltag noch Umwelt differenziert werden, so daß unter Alltag bald die Produktions-, bald die Zirkulationssphäre oder auch beide verstanden wurde, mit Umwelt bald die Natur, bald die Stadtlandschaft einschließlich der in ihr verstreuten Artefakte gemeint war. Vielleicht ist das am Ende der Tagung vorgeschlagene Verfahren, künftig ein Objekt oder eine Objektgruppe exemplarisch als Diskussionsgegenstand zu wählen, besser geeignet, um gesellschaftliche Produktions- und Kommunikationszusammenhänge gerade auf der Ebene ihrer alltäglichen Erscheinung präziser zu erfassen. Es wäre wichtig, daß ein solcher Impuls von der Kunstgeschichte selbst ausginge."

siehe auch: