Buch Noch ist Europa nicht verloren

Kritik der kabarettistischen Vernunft. Band 2

Noch ist Europa nicht verloren. Kritik der kabarettistischen Vernunft. Band 2. Berlin: Distanz-Verlag, 2020 + 1 Bild
Noch ist Europa nicht verloren. Kritik der kabarettistischen Vernunft. Band 2. Berlin: Distanz-Verlag, 2020

Bei Brock liest man, was man bei anderen Autoren schmerzlich vermisst. Seine Argumentationen scheinen zunächst provokativ, eröffnen aber immer völlig neue Sichten auf die behandelten Themen. Nie zuvor las man, wie das Wort Fleisch wird, so wie bei ihm. Niemand erkannte die 68er als erfolgreichste Generation ohne eigenes Tun. Niemand bekannte sich zum Bekenntnisekel. Niemand beklagte, dass wir noch niemals wahrhaft kapitalistisch gewesen sind. Und wie herrlich eröffnet sich den den Lesern die Hymne „Noch ist Europa nicht verloren“, weil man nicht verlieren kann, was es gar nicht gibt. Brock war immer seit 1963 Kritiker dessen, was es nicht gibt, aber deswegen unsere Vorstellungen beherrscht.

Bazon Brock ist ein verführender, also führender Polemosoph. Ein Denker im Dienst gegen die Gemeinheit, vor allem die Allgemeinheit. Ja, ist es denn nicht hundsgemein, dass für die Historiker die Rangfolge der bedeutendsten Persönlichkeiten von der Zahl der Leichen bestimmt wird, die sie zu hinterlassen wussten? 15 Morde – lächerlich –, das ist eine lokale Auffälligkeit für zwei Tage; erst bei 1,5 Millionen Toten beginnt der Aufstieg in die ewige Bestenliste, die heute Mao, Stalin und Hitler mit mindestens 40 Mio, 20 Mio oder
mit 15 Mio Toten anführen. Von diesen Herren der Geschichte redet alle Welt seit Jahrzehnten und für die nächsten hundert Jahre. Sie haben es geschafft, die Hall of Shame zur Hall of Fame werden zu lassen.

Zum Titelbild: 

Vor 50 Jahren manifestierte Bazon, dass er den tiefsten Eindruck auf dieser Welt mit seinen Füßen hinterlassen wird. Heute ist der ökologische Fußabdruck die Metapher für aufgeklärte Zeitgenossenschaft schlechthin.

Themen:

Einheit durch Verschiedenheit – Europa fällt, Europa bleibt · Theoretische Kunst · Wie sterben Götter? · 68er: erfolgreichste Generation aller Zeiten · Alle Bildwirkung ist pornografisch · Und das Wort wird Fleisch · Vom Sturm zum Stürmer · Kunstwerk, nicht Wissenschaftsgetue · Weiße Romantik, die gute Unendlichkeit · Konservatismus heißt Verpflichtung auf das Neue · Gott lebt, der Markt stirbt · Bekenntnisverhütung · Durch’s Wurmloch in die nächste Welt · Entrümpeln bei guter Beleuchtung · Geisterreich der Moderne · Tränen sind Schmelzwasser der Seele · Sommerdenken – Winterdenken · Bewirtschaftung der Gnade

Erschienen
22.05.2020

Autor
Bazon Brock

Herausgeber
Marina Sawall

Verlag
Distanz-Verlag

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

ISBN
978-3-95476-336-8

Umfang
400 S.

Einband
Broschiert

Seite 148 im Original

Konservativismus heißt Verpflichtung auf das Neue

Traditionen wirken nicht aus der Vergangenheit. Sondern? (2019)

Moderne ist kein Epochen-, sondern ein Strukturbegriff. Deswegen ist die Auseinandersetzung um den Anspruch auf Modernität in unserer Region mehr als 2500 Jahre alt. Sprichwörtlich ist die querelle des anciens et des modernes, der Streit der Neuerer mit den Traditionalisten, aus dem Frankreich des 17. Jahrhunderts. Damals wurden die Katholiken, die sich nicht den Jesuiten unterwerfen wollten, unter dem Eindruck der unabweisbaren Neuigkeit lutherischer Gnadenlehre genötigt, sich auf einen Mann 1200 Jahre vor Luther zu berufen. Unter dem Druck der lutherischen neuen Gnadenlehre wandten sich die katholischen Geister so weit in ihre eigene Geschichte zurück, bis sie in der Lehre von Augustin einen Aspekt der vermeintlich neuen Gnadenlehre entdeckten, der es ihnen ermöglichte, gegen Luther katholischen Kurs zu halten.

Besonders im 20. Jahrhundert wurde unter der Führung des kapitalistischen Entwicklungspostulats jeder Mensch in jeder Branche auf das Neue verpflichtet. Neophilie oder Neuheitensucht kennzeichnete das Wesen von Modernität. Aber wenn etwas wirklich neu ist, kann es noch keine Bestimmung haben, sonst wäre es ja nicht neu. Neuheit ist also ein leeres Passepartout, eine Begriffsschablone, die durch den Gebrauch des Neuen erst gefüllt werden muss.

Schon unsere Haushunde, geschweige denn wir, zeigen die grundsätzlichen Einstellungen gegenüber den Zumutungen des unbekannt Neuen. Zunächst wird versucht, es zu zerstören, und wenn das nicht gelingt, es zu leugnen. Der Ikonoklasmus und die Verleugnung dominierten z.B. die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Es bedurfte entfalteter Intelligenz, um einen produktiven Umgang mit dem Neuen jenseits von Zerstörung und Leugnung zu etablieren. Von der Unbekanntheit des Neuen, über das man ja nichts sagen kann, weil es unbestimmt neu ist, lässt man sich auf das hinleiten, was man sehr gut kennt, nämlich das Alte, das Traditionelle, mit dem man so vertraut ist, dass man es schon gar nicht mehr wahrnimmt oder in Rechnung stellt.

Unter dem Druck des Neuen verändert sich wunderbarerweise der Blick auf das Alte. Die Funktion der Verpflichtung auf das Neue, der Avantgardismus, erfüllt sich darin, neue Traditionen aufzubauen, das heißt, dem Bekannten und Tradierten Bedeutung abzugewinnen, die durch die Vertrautheit gar nicht mehr wahrgenommen worden war.

Unter dem Druck des Neuen, das nichts als neu ist, verwandeln sich die Traditionen in leistungsfähige Aussagen zu der Gegenwart, in der das Neue hervorgebracht worden ist.

Die Funktion der Avantgarden ist also, das bis zum Überdruss abgestandene Traditionelle durch einen völlig neuen Blick mit Bedeutung aufzuladen, wodurch die Traditionen zur Wirkmacht in der Gegenwart werden. Damit wird Vergangenheit zur Repräsentation und Einflussgröße dessen, was nicht vergeht. Denn verginge es, so hätten wir ja keine Vergangenheit. Durch den Druck des Neuen wird das Vergangene unter den jeweils neuen Konstellationen wirkmächtig, anstatt im Orkus des ein für allemal Vergangenen, Erledigten, Überwundenen zu verschwinden.

Genau dieses Verfahren zur Aktualisierung des Gewesenen, aber nie Vergangenen als Kraft der Gegenwart kennzeichnet den Konservativismus. Daraus erklärt sich, dass die Neuerungspflicht gerade in konservativen Kreisen von Wirtschaft und Gesellschaft so selbstverständlich akzeptiert wird. Der Konservativismus ist also ein Verfahren, die Blindheit und Unbestimmtheit des Abweichungspathos, der Neuigkeitssucht im Aufbau jeweils neuer Traditionen fruchtbar werden zu lassen.

Andere Haltungen, nämlich das Neue in die Zukunft wirken zu lassen und zu deren Bestimmung zu nutzen, sind bekanntlich gescheitert, weil es für die Zukunft eben keine Bestimmungsgrößen gibt, die unter dem Druck des Neuen grundlegend verändert würden. Gäbe es das, würden gerade die programmatischen Neuerer den Blick auf die Zukunft unbestimmt werden lassen und alle bisherigen Zukunftsannahmen sabotieren. Das aber kann ja nicht im Sinne der Neuerer liegen, also bleibt es dabei, dass der Konservativismus der einzige methodisch ausgewiesene Weg ist, vom unbestimmt Neuen positiven Gebrauch zu machen – Ikonoklasmus/Zerstörung oder Leugnung sind eben nicht produktiv. Herrn Schumpeters kindisch dialektische Volte aus dem Dilemma in die »schöpferische Zerstörung« wäre, wenn man sie ernst nähme, nichts anderes als der schöpferische Wandel der Traditionen, Korrektur der geläufigen Verfahren, Verlassen der gewohnten Wege.

Die herkömmliche beliebige Neuschöpfung der Vergangenheit durch Fälschung der Historie, wie sie etwa im Stalinismus üblich gewesen ist, war eben keineswegs schöpferisch, sondern bloß zerstörerisch. Ähnlich kindisch rechtfertigen sich heute Repräsentanten des spekulativen Kapitals; die Zerstörung historisch gewachsener Stadtkerne kann man nicht als schöpferisch propagandistisch rechtfertigen, weil mit der Zerstörung der Bauten und Plätze vor allem das gesellschaftliche Gefüge und der kulturelle Zusammenhalt der Bürger zerschlagen werden. Und wie Böckenförde gezeigt hat, leben der säkulare Staat und seine Gesellschaft von Voraussetzungen in der Kultur der Bewohner, und diese Kultur kann man nicht beliebig programmieren. Alle diese Formen sind zwar irgendwann historisch von Menschen hervorgebracht worden und könnten auch ganz anders ausgesehen haben; sie sind kontingent, d.h. bloß geschichtlich gewachsen, und man kann sie doch nicht ändern.

Deshalb bleibt es beim Konservativismus als effektivster Möglichkeit, von der Neophilie, von der Neuerungssucht, von den Zufallsmutationen guten Gebrauch zu machen, indem man erkennt: Das wahrhaft Neue, das tatsächlich Avantgardistische erfüllt die Aufgabe, das kontingent Geschichtliche stets als aktuelle Produktivkraft zu gewinnen.
Den schlagenden Beweis für die Kraft des Avantgardismus als Fähigkeit, die geschichtlichen Kräfte zu aktualisieren, liefert die moderne Kunst des 20. Jahrhunderts. Die skandalösen Neuheiten der Dresdner Brücke-Maler 1905 entgingen dem Volkszorn, dem radikalen Ikonoklasmus erst, als 1908 im Prado in Madrid unter dem Druck der neuen Malerei der Expressionisten das Werk El Grecos mit neuen Augen gesehen wurde. Seit dessen Todesjahr 1614 war das Interesse an ihm vollständig erloschen; ab 1908 wurde El Greco als geradezu unmittelbarer Vorläufer, ja Zeitgenosse des Expressionismus gefeiert. Die verständliche Auffassung, El Greco sei ein Visionär gewesen, der vorweggenommen habe, was Anfang des 20. Jahrhunderts die junge Malergeneration begeisterte, ist natürlich Unfug. Erst im Blick der Expressionisten nach rückwärts gewann El Grecos Malerei neue Interessantheit.

In dieser Perspektive stiftete etwa Picasso eine völlig neue Sicht auf afrikanische Ritualobjekte oder die Handschrift des spanischen Facundas-Meisters. Vom Werk Giacomettis her wurde eine neue Kultur zwischen Kreta und Mykene erkennbar, nämlich die der Kykladen. Der Wiener Radikalmodernist Adolf Loos schuf im Alleingang den architektonischen Topos der »nackten weißen Wand«, wie man ihn mit Loos bereits bei Brunelleschi und Palladio formuliert sah, ohne dass das jemandem vor Loos aufgefallen wäre.

Zahllos sind die neuen Vergegenwärtigungen historischer Bestände durch den Avantgardismus des 20. Jahrhunderts. Er schuf so viele aktuelle, neue Vergangenheiten, dass die Zahl der Museen und Ausstellungshäuser gegenüber 1900 verzehnfacht werden musste.

Die Avantgardekunst hat seit 1900 die Geschichte der Kunst und die der kultischen Artefakte ganz erheblich erweitert und das vermeintlich Veraltete, Zurückgebliebene und Überwundene zu wahrhaft neuer, großer Bedeutung gebracht.

siehe auch: