Magazin Campus

Studium in Schleswig-Holstein und Hamburg

Campus, Winter 2020, Bild: me2be.
Campus, Winter 2020, Bild: me2be.

Erschienen
01.12.2020

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Issue
Winter 2020

Seite 44-49 im Original

Aufbruch ins Zeitalter der prinzipiell unlösbaren Probleme

[Veränderte Textpassagen im Heft wurde hier durch den Originaltext von Bazon Brock ersetzt.]

Kunst – Besucherschulen – Bildung

Herr Brock, im April 2019 mussten Sie nach sieben Jahren die Räume der ‚Denkerei – Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen‘ im Berliner Ortsteil Kreuzberg verlassen. Was macht ein Künstler ohne sein Atelier?

Wir machen ja keine Kunst, die an der Wand hängt. Wir schaffen Werke als Werkzeuge, als Erkenntniswerkzeug. Was herkömmlich Werk genannt wird, ist für mich eben abgelegtes Werkzeug. An der Wand hängt nicht Kunst, sondern bearbeitetes Material. Kunst entsteht nur durch die intellektuelle Arbeit des Betrachters.

Das haben Sie ja mittlerweile aber auf eine Ebene gebracht, die man als Kunst bezeichnen könnte.

Eben, eben. Wir nennen das Resultat ‚theoretische Kunst‘, Kunst im Konjunktiv als gegebene Möglichkeit gegenüber dem banalen Gestaltungsresultat. Denken Sie z.B. an theoretische Mathematik und theoretische Physik. 

Der Öffentlichkeit besonders in Erinnerung geblieben ist die erste „Besucherschule“ bei der vierten ‚Documenta‘ 1968.

Ja. Weitere Besucherschulen folgten 1972, ’77, ’82, ’87 und ’92. Das wird gegenwärtig in der Literatur als eine Haupterfindung der Documenta gewürdigt. Was die Documenta absolut neu eingeführt hat, waren erstens die Besucherschulen, das ist mein Konzept, zweitens, seit der Documenta fünf, thematische Ausstellungen, auch die sind mein Konzept.

Sie haben damals zur Besucherschule gesagt, das Ziel sei, das Publikum visuell zu alphabetisieren, um Neugier zu wecken und die Besucher als Partner der Künstler mit hereinzunehmen. Wie aktuell ist das Konzept?

Es gibt gegenwärtig für die politische Bildung kein anderes Konzept, als sich zu professionalisieren gegen die Übermacht der Evidenzmedien, Werbung zum Beispiel und Propaganda. Das ist der entscheidende Punkt. Wir verfolgen immer noch dasselbe Ziel: Alphabetisierung der Bildanalphabeten durch ‚Erziehung‘ zur Evidenzkritik. Das heißt, im Bild wird etwas als Wahrheit vorgegeben, das man nur erkennen kann, wenn man lernt, es zu kritisieren, aber nicht als Kritik der durchschauten Falschheit, sondern als Kritik der Wahrheit. Denken Sie an Ihren Arzt, der mit jedem verabreichten Medikament Kritik an der Wahrheit der Krankheit erzeugenden Vorgänge in Ihrem Körper übt. 

Gesellschaftliche Veränderung – Protestbewegungen

Lässt sich durch Kunst eine gesellschaftliche Veränderung erreichen?

Eine gesellschaftliche Veränderung gibt es ja nicht einmal mehr über Gesetzeswerke oder Parteiprogramme. Wie soll denn da über künstlerisches Arbeiten etwas geschehen? Nein, die Veränderungen gibt es über Technologieentwicklungen, etwa durch die Künstliche Intelligenz. Die Einführung der Dampfkraft oder der Elektrizität, das waren die wirklichen gesellschaftsverändernden Vorgänge. Alles andere ist ein Versuch, dem gewachsen zu sein. Bildung besteht doch darin, sich von den objektiven Tendenzen nicht überwältigen zu lassen. Wir lernen, uns als Individuen gegen diese objektiven Zwänge zu behaupten, aber nicht, indem wir sie leugnen, sondern indem wir die Wahrheit dieser objektiven Entwicklungen anerkennen und uns dann mit der Kritik an der Wahrheit am Leben erhalten.

Warum empfinden es viele Menschen als schwierig, sich in so einer Welt zu orientieren?

Uns fehlt der Glaube, der uns vereinigen könnte. Das ist Grund zur Sorge. So etwas hat es nie vorher in der Geschichte gegeben, dass die Individuen keinen Anschluss an ihresgleichen fanden, weil sie keine religiöse Überzeugung hatten, keine kulturelle Identität gelten lassen konnten, keine nationale oder sonstige Einheit formell wählen konnten. Daher stellen sich ganz grundsätzliche Fragen: Was heißt heute eigentlich Universalisierung? Was heißt Macht der Globalisierung? Was heißt Macht der Einheit der Welt in geografischer Hinsicht, in Hinsicht auf Gedankengebäude sowie auf Kultur- und Weltverständnis? Wo steht der Mensch in der Welt, wenn er in der Welt gar nicht mehr vorkommt?

Es gibt also gar kein verbindendes Moment mehr?

Das müssen die Menschen selbst entwickeln. Die einzige Form, die es gegenwärtig gibt, sind Proteste gegen die Rücknahme von Freiheiten wie etwa in Hongkong 2019. Und natürlich die Debatte um die Fridays-for-Future-Bewegung. Das sind Fokusbewegungen auf globaler Ebene, die die Möglichkeit bieten, sich zu vergemeinschaften ohne Ideologie, ohne Nationalismus, Rassismus – Ideologien der klassischen Art. Das scheint etwas Hoffnungsvolles zu sein. Aber auch diese Massenbewegungen schließen ja die Forderung der Individuen nach Respekt, nach Lebensgerechtigkeit nicht ein. Nur Kollektive können sich auf diese Weise wirksam wehren. Die Zukunft gehört also der Menschheit, aber nicht mehr den einzelnen Menschen. Und das ist natürlich kontraproduktiv für die Erfahrung der Einzelnen, denn sie schließen sich ja zusammen, um als Einzelne zu überleben. Es bleibt also dabei, dass das einzig wahrhaft allen Menschen gleichermaßen und gemeinsam Zugemutete nicht mehr durch Religionen gestiftet wird oder durch Teilnahme an Herrschaftsformen. Das Einzige, was Menschen in Zukunft tatsächlich gemeinsam haben werden, ist die Konfrontation mit prinzipiell unlösbaren Problemen.

Der einzelne Mensch wird also gar nicht mehr wahrgenommen?

Einzelne spielen keine Rolle mehr. Und das heißt, Europa spielt keine Rolle mehr, denn Europa vertritt das Prinzip der Individuation. Seit 1400 gibt es hier das Prinzip der Autonomie von Künstlern und Wissenschaftlern (heute Artikel 5 Absatz 3 im Grundgesetz, welteinmalig!). Nur der, der Autorität als Autor, also als Individuum, besitzt, ist als Autorität wahrnehmbar.

Klingt ambivalent.

Nicht nur das. Es ist doch das Zeichen, dass die Kapitalmacht nicht lockerlässt. Zugespitzt formuliert: Bei den ’68ern bestellte die konventionelle gesellschaftliche Ordnungsmacht die Demonstrationen, um zu zeigen, wie großartig und liberal sie sei. Und deswegen wurden alle Linken, Grünen und Radikalen ausgezeichnet, während wir Bürgerlichen, die wir wirklich substanziell Kritik übten, die rote Karte gezeigt bekamen. Die ‚Schreihälse der Besserwisserei‘ kassierten eine Auszeichnung nach der anderen, weil das durch die Fassade der Liberalität das System behübschte. Ich habe den Eindruck, die Fridays-for-Future-Bewegung könnte nach demselben Schema schon systemstützend wirken.

Wo liegt das Problem?

Die jungen Menschen sind nicht aufgeklärt genug über ihre Rolle in der Gesellschaft. Sie glauben, selbstbestimmt zu agieren, wie man immer glaubte, selbst zu schieben, in Wahrheit aber geschoben wurde.

Sollten die Aktionen nicht ganz nach Ihrem Geschmack sein: Schüler gehen auf die Straße, stellen den Protest also über den Unterricht und wenden sich gegen die Klimapolitik der Regierung?

Ja, das ist der einzige Hoffnungsschimmer, den es gegenwärtig gibt. Die Demonstrationen in Hongkong und weltweit für das Klima haben wirklich eine politische Dimension. Ob jemand auf die Fridays-for-Future-Bewegung reagieren wird, werden wir sehen. Hoffnungsschimmer sind es, aber die Hoffnung hatten wir schon in den sechziger Jahren, siebziger Jahren, achtziger Jahren, und dann kam die Yuppie-Kultur und hat das Ganze in Kapital-Power umgewandelt.

... oder vom Umgang mit unlösbaren Problemen …

Für Ihre „Denkerei“, die sich als ein „Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen“ versteht, müssten das doch spannende Themen sein.

Die Frage ist: Wie entwickeln sich Gesellschaften, wenn die Zielsetzungen des Politischen und Programmatischen nicht fruchten? Das ist ja in der Medizin sehr ähnlich. Jeder weiß, dass Rauchen schädlich ist und trotzdem wird geraucht. Alkohol ist nicht gerade lebensförderlich und trotzdem trinken die Menschen. Damit haben wir Beispiele, wie man mit prinzipiell unlösbaren Problemen umgehen muss: Man muss sie managen, man muss mit ihnen rechnen, anstatt sich der Illusion hinzugeben, sie lösen zu können.

Inwiefern?

Wo kriegen wir denn die Eliten her, das heißt die Führungs- und Machereliten, die mit diesen Gegebenheiten rechnen? Wir sehen es als unsere Aufgabe, Menschen zu befähigen und zu ermutigen, den Umgang mit unlösbaren Problemen als ihre Aufgabe zu begreifen. Wir müssen zu akzeptieren lernen, dass grundsätzlich auf Erden Probleme nur durch die Erzeugung neuer Probleme gelöst werden können. Man löst mit Plutoniumwirtschaft nicht das Problem der Energieknappheit, sondern halst sich das viel bedeutendere Problem der Endlager und des atomar strahlenden Mülls auf.

Welche Rolle spielt die Kunst in diesem Zusammenhang?

Die Kunst liefert für alle Formen der Selbstwidersprüchlichkeit, Selbstzerstörung und Selbstwiderlegung natürlich die besten Beispiele, vor allem im Hinblick auf das künstlerische Tun – Künstler leben meistens im Abseits, bis auf die vier Prozent Stars, die Geld verdienen, der Rest beutet sich selber aus. Dieses ‚Schicksal‘ aber droht früher oder später allen Menschen. Das Künstlerelend steht allen bevor. Und deshalb hat Beuys gesagt: ‚Jeder muss ein Künstler sein.‘ Wir sollten heute so leben, als ob wir die Künstlerexistenz als unsere eigene anerkennten.

Was dürfen wir hoffen? Das ist doch die Grundfrage. Wenn Hoffnung verloren geht, weil man immerzu gesagt bekommt, es gebe keine Abhilfe, dann bleibt nur eins, nämlich die Kritik genau dieser Art von Erfahrung, das heißt die Kritik der Wahrheit.
Und das ist die heutige Aufgabe. Die Zustände sind nicht zu verändern im Sinne irgendwelcher Programmatiken. Aber wenn man das Falsche als falsch erkennt oder als Lüge durchschaut, ist man damit auf die Wahrheit bezogen. Das als falsch erkannte Falsche, heute Fake genannt, repräsentiert die Wahrheit der Lüge. Die Lügner, die Ideologen, die Schönredner des Systems retten unsere Verpflichtung auf die Wahrheit.

Wissenschaft – Kritik – Glaube

Inwiefern lässt sich das denn auf die Gesellschaft übertragen?

In der Wissenschaft ist es schon die relevante Größe geworden, denn Wissenschaft heißt, alle hypothetisch angenommenen Wahrheiten zu widerlegen. Kritik ist also die Basis der Wissenschaft. Prinzipiell ist Wissenschaft nichts anderes als Kritik jeder Wahrheitsbehauptung.

Das Prinzip der Falsifikation also.

Ja. Verifikation ist nur für naive Kinder, Falsifikation betreiben die intelligenten.. Das Gleiche gilt für den Glauben. Wer nicht radikal zweifeln kann, kann nicht glauben. Das heißt, wir müssen lernen zu zweifeln, um glauben zu können.

„Kapitalismus einführen“

Im Kapitalismus ist es doch der Markt, der einen quasi-religiösen Charakter besitzt.

Der Markt ist der Gott, aber es gibt in Wahrheit keinen Markt, der irgendetwas selbst reguliert. Im Unterschied zur ’68er-Bewegung sagen wir nicht „Kapitalismus abschaffen“, sondern wir sagen „Kapitalismus endlich einführen“., indem man in vollständiger Transparenz einen freien, unregulierten, unmanipulierten Markt zulässt – das ist die Aufgabe. Und damit sehen Sie, dass wir wirklich ein Projekt haben. Wir wollen endlich Kapitalisten sehen, wir wollen endlich die Realität als Regulativ des Marktes anerkennen.

Was würde sich ändern?

Die Probleme würden beherrschbar werden. Denn wenn der Markt nicht reguliert wäre, dann ließen sich die wirklichen Probleme erkennen und als erkannte Probleme, wenn auch prinzipiell unlösbar, dennoch bewältigen – sprich: meistern. Ein Unternehmer ist eigentlich jemand, der fähig ist, unlösbare Probleme zu beherrschen und zu meistern, und nicht den lieben Gott spielen will. Die fähigste Gesellschaft in dieser Hinsicht scheint ja die chinesische zu sein, weil sie keine Götter kennt; aber leider hat sie mit dem kapitalistischen Sozialismus wieder den schlimmsten aller Götter eingeführt. China ist die einzige Kultur, die seit dreitausend Jahren ohne Gott ausgekommen ist. Das ist schon sensationell. Aber diese kulturelle Errungenschaft wird durch den sozialistischen Kapitalismus zerstört.

Warum?

Weil es nicht um das Leben der Menschen als Individuen geht, sondern ausschließlich um die Sicherung der Staatsmacht selber. Die Geschichte zeigt, dass selbst die mächtigsten Staaten gerade durch den totalitären Anspruch der Macht zugrunde gegangen sind. Totalitäre Ordnung zerstört sich selbst, wie auf der andren Seite totale Freiheit auch. Dabei gibt es längst vernünftige Bestimmungen des Verhältnisses von Freiheit und Ordnung: Wenn sich z.B. alle Verkehrsteilnehmer strikt an die Verkehrsregeln halten würden, garantierte das allen das höchste Maß an Freiheit und Sicherheit im Verkehr.

Herr Brock, vielen Dank für das Gespräch.

INTERVIEW Lutz Timm

siehe auch: