1 Bekenntnisekel
Die Besucherschule der documenta war und ist kein Propagandainstrument der Ausstellungsleitung; sie war es selbst 1972 nicht, als ich ganz maßgeblich an der Entwicklung des d 5-Konzeptes beteiligt war.
Ich interpretiere also hier nicht Rudi Fuchs oder andere Ausstellungskommissare.
Seit 1968 habe ich zu jeder documenta meine Besucherschule eingerichtet. Sie versteht sich als freies Angebot, die verwirrende Vielzahl und Vielfalt der ausgestellten Werke in wenigstens einem Zusammenhang zu sehen. Im Unterschied zu herkömmlichen Führungen entwickelt die Besucherschule jeweils ein Thema als Leitfaden, anhand dessen es dem Besucher möglich wäre, sich die Ausstellung zu erschließen.
Themaleitfaden
- 1968 (d 4): "Der Ausstieg aus dem Bilde; Environments der Künstler als Alltagsumwelt";
- 1972 (d 5): "Der neue Bilderkrieg: Bildwelten heute. Wir lernen zwar zu lesen und zu schreiben, bleiben aber Bildanalphabeten, und das kann schlimme Folgen haben";
- 1977 (d 6): "Die Bedeutungen stecken nicht in den Kunstwerken wie Kekse in einer Schachtel- wie entsteht Bedeutung?"
Die Programme wurden als Multivisionen (Dia, Video, Film, Tonband) vorgeführt. Etwa zweihundert Mal habe ich die Besucherschule auch live als action-teaching abgehalten.
Zur d 7 wird die Besucherschule leider nur als Druckwerk angeboten. Ihr thematischer Leitfaden: "Haltungen zur Kunst und ihrer Präsentation auf der d 7: Die Häßlichkeit des Schönen".
Die Betrachtung von Werken hängt wesentlich davon ab, mit welchen Einstellungen und in welchen Haltungen wir uns ihnen nähern:
Ob touristisch schlendernd oder hingebungsbereit pilgernd oder kennerisch kalkulierend.
Die Besucherschule begegnet den Werkgruppen und Präsentationseinheiten jeweils zugleich im touristischen Spaziergang, im verehrungsbereiten Tempelgang und im snobistischen Paradegang. So entstehen drei Horizonte der Anschauung gegenwärtigen künstlerischen Arbeitens, vor denen die Werke weder als Jahrmarktsattraktionen noch als Kultobjekte oder potemkinsche Fassaden isoliert werden können.
Und die Betrachter erfahren hoffentlich, daß sie verantwortlich sind für den Gebrauch, den sie von den Kunstwerken machen; manchmal geben eben Kunstlaien die brauchbarsten Hinweise auf Werke, und manchmal erschließt die Auffassung des Künstlers ein Werk am besten, und ein anderes Mal bringt der snobistische Kenner mit einer Kurzfloskel ein Werk tatsächlich auf den Punkt. Recht haben alle, allerdings nicht immer zur gleichen Zeit und nicht immer zu den gleichen Werken und Problemen.
Warum mein überaus starkes Interesse an der Besucherschule? In Szene setzen kann ich mich weiß Gott mit anderen Mitteln besser, leichter und unangreifbarer! Aber: Kunstfeindlichkeit ist ein Indikator für den Zustand einer Gesellschaft. Wenn dieser Zustand schon bedenklich ist, sollten wir (unseren historischen Erfahrungen gemäß) wenigstens dafür einstehen, daß der Kunstbereich nicht wieder als Übungsfeld für zerstörerische Auseinandersetzungen benützt werden kann. Das ganz zu verhindern, ist wohl illusorisch; aber versuchen muß man es, und ich versuche es eben, auch mit der Besucherschule.
Ein weiteres Argument pro: Ich könnte heute besser denn je begründen, daß die Entwicklungen im Kunstbereich in den letzten 20 Jahren in ganz erheblichem Umfang durch die Rezeption bestimmt wurde. Das Verhältnis von Produktion und Rezeption hat sich jedenfalls stärker zur Seite der Rezeption hin ausgebildet, so weit etwa, wie es auch vom 16. bis 18. Jahrhundert gegeben war. Ein bißchen mehr Rezeptionsfähigkeit von Seiten der Ausstellungsmacher würde manche Ausstellung und vielleicht auch diese documenta ganz anders aussehen lassen.
Der Vorherrschaft der künstlerischen Produktion würde man sich ja dann wohl beugen, wenn die Künstler hinreichend Qualität lieferten. Aber ganz durchschnittlich Produziertes nur deswegen als jeder Rezeptionstätigkeit Überlegenes anzuerkennen, weil da irgendein Künstler zu Werke ging, ist lächerlich.
Im übrigen wiederhole ich die dutzendemal vorgetragenen Idiotien:
"Das Publikum wird von den Werken vollständig allein gelassen", tönt die Kunstkritik; kaum versucht aber jemand, dem Publikum Hilfestellungen zu geben, dann nennt dieselbe Kritik dieses Bemühen einen unerlaubten Versuch der Einflußnahme und Manipulation.
"Die Werke sprechen für sich selbst", schnarren die Künstler hochmütig jedem ins Gesicht, der nicht glaubt, daß aus jedem Kunstwerk der heilige Geist persönlich spreche. Wenn dann die Werke doch nicht von selbst sprechen und als "nichtssagend" empfunden werden, beeilen sich die gleichen Künstler zu betonen, daß man eben viel Vorkenntnis brauche, damit die Bilder von selber sprächen.
SUMMA: Für die Besucherschule betrachte ich mich als einen der ersten Besucher der d 7 in der Hoffnung, daß andere spätere Besucher mein Vorgehen nutzen wollen, um ihren eigenen Pfad zu schlagen. Nicht mehr, nicht weniger.
2 Weg von der Theorie?
Rudi Fuchs schien einer allgemeinen Stimmung gerecht zu werden, als er sich vornahm, bei der d 7 ausschließlich Kunstwerke erster Qualität zu zeigen; den Anspruch dieser Werke herauszustellen; weder im Katalog noch sonst wo in der Ausstellung bemühte theoretische Ausführungen in welcher Form auch immer zuzulassen, es sei denn, die Künstler stellten diese Überlegungen selber an. Didaktische Umsetzungen verharmlosten dieser Meinung zufolge Kunstwerke in unangemessener Weise, deswegen hätte auch eine Besucherschule innerhalb der Ausstellung als höheres Pfadfinderspiel keinen Platz.
Nun gut, das kann man behaupten, und jedermann wird sehen, wie weit man ohne theoretisches Konzept kommt; ich wage zu bezweifeln, daß man Auswahlkriterien ohne theoretische Anstrengung überhaupt entwickeln kann. Poetische Setzungen können durchaus interessant sein, wenn sie interessant sind. Künstlerische Qualität kostbar zu präsentieren, ist ein akzeptables Unterfangen, wenn solche Qualität geboten werden kann. Wie Kunstfeindlichkeit ein Indikator für Gesellschaftszustände ist, so ist Theoriefeindlichkeit ein Indikator für den Entwicklungsstand der Kunst. Es steht außer Frage, daß viel theoretischer Mist produziert wurde, aber es steht auch außer Frage, daß die künstlerischen Praktiker genauso viel Ausschuß produziert haben.
Theoretiker war derjenige, der das Orakel befragte. Der Theoretiker war ursprünglich der offizielle Delegierte bei kultischen Festen. Die Lateiner drückten denselben Sachverhalt mit dem Begriff "Contemplatio" aus. Kontemplation ist die erkenntnisgesättigte Schau jenes ausgegrenzten Bezirks, des Tempels, innerhalb dessen Dinge eine andere Bedeutung haben als außerhalb. Insofern als auch heute noch jede Ausstellung als ein besonderer Ort und damit als Templum verstanden werden kann, ist jeder Besucher aufgefordert, Theoretiker zu sein, also anschauende Betrachtung zu üben, damit er erkennt, was für ihn bedeutsam sein sollte.
3 Ende der Avantgarde?
Lassen Sie sich nichts einreden. Die Leute, die den Tod der Avantgarde so überaus laut und hämisch verkünden, produzieren nur die neueste Masche. Angeblich soll mal wieder alles ganz anders sein, aber das wird ja eben gerade seit 500 Jahren verkündigt. Die Herren meinen, die Avantgarde sei tot, weil ihr nichts mehr einfalle und sie deswegen auf historische Sprachen und Haltungen zurückgreifen oder aber die Historie ausplündern müssten. "Transavantgarde", "Postmoderne", das ist doch alles bloß Häme. Nach wie vor geht es darum, zwischen leistungsfähiger Avantgarde und einem zwar notwendigen, aber erfolglosen Sichausprobieren der Künstler zu unterscheiden.
Die meisten Künstler sind historisch gar nicht versiert genug, um sich auf angebliche Tradition wieder einzulassen, also beispielsweise den Expressionismus fortzuführen; ganz davon abgesehen, daß so ein Bemühen prinzipiell zum Scheitern verurteilt wäre.
Im übrigen sprechen ja die Transavantgardisten und ihre Claqueure auch bloß wieder von der "neuen Situation", so daß der Verzicht auf das Neue gar kein Kennzeichen der jetzigen Situation ist. Wenn man aber Avantgarde von der Hervorbringung des Neuen her interpretiert, dann bleiben die "jungen Wilden" schon allein deshalb Avantgarde, weil sie doch etwas Neues wollen.
Nein und nochmals nein, die sinnvollste Art und Weise, durch die Geschichte hindurch Avantgarden und Traditionen in Beziehung zu setzen, ist es, dem Neuen (wie immer willkürlich, ahistorisch, dilettantisch es in die Welt gesetzt werden mag) sich auszuliefern und zu überprüfen, inwieweit dieses angeblich Neue auch tatsächlich ein Neues ist.
Das überprüft man, indem man fragt, ob das Neue die Kraft hat, uns zu zwingen, die vermeintlich bis zum Überdruß vertrauten Traditionen auf eine neue Weise sehen und verstehen zu müssen, wodurch diese Traditionen zugleich aufgelöst und umgebildet werden.
Wenn etwas tatsächlich neu ist, dann ist es nichts als neu, hat keine anderen Bestimmungen; die wachsen ihm erst zu, wenn vom Neuen her das Alte sich verändert, und das Neue sich damit selber mit Bestimmungen auflädt.
Es ist eben nicht so, wie famose Kritiker behaupten, daß die Jungen heute z. B. das Werk von Picabia ausplünderten; sondern von den Jungen her entdecken wir Picabia in einer solchen Weise, daß uns Picabia wieder wie völlig neu, d. h. als zeitgenössischer Künstler erscheint.
Die jungen Berliner plündern nicht den Expressionismus und setzen nicht seine Tradition fort; wo das der Fall ist, sind sie bedeutungslos; sondern: von diesen Jungen her gewinnen wir ein völlig neues Interesse an Kirchner, Schmidt-Rottluff, Heckel u.a.
Ausschließlich Avantgarden schaffen Traditionen als lebendigen Bestandteil der Gegenwart; Traditionen bloß fortzusetzen, entspricht dem Geschichtsverständnis des naiven Menschen. Wer kein Zeitgenosse sein will, wer sich also nicht den Zumutungen des nichts als Neuen auszusetzen wagt, verliert die Möglichkeit, geschichtliche Prozesse als gegenwärtig wirksame zu verstehen.
Nicht jedes Werk eines guten Künstlers ist leistungsfähige Avantgarde; nicht jeder Künstler hat die Kraft, durch seine Arbeit unseren Blick in die Kunstgeschichte nachdrücklich zu verändern. Kunstproduktion ist wie jede berufliche Arbeit auch Routine der bloßen Variation.
Es hat kein Programm gegeben, das uns auf ein inhaltlich eindeutiges Verständnis von Avantgarde festlegt; es gab zahllose solcher Programme, und das nicht nur in diesem Jahrhundert.
Das ihnen einzig gemeinsame ist das Kriterium ihrer Leistungsfähigkeit, nämlich die historische Vergangenheit - von der jeweils avantgardistischen Position her - in neuer Form zu verlebendigen. Also können wir die Avantgarden nicht einfach totsagen; wir haben weiterhin zu fragen, in welchen Künstlern und Werken sich eine leistungsfähige Avantgarde manifestiert. (Mehr dazu von Bazon Brock in "Kunstforum International", Band 40, 4/80)
4 Verzicht auf Individualität?
Einer grassierenden Auffassung über die "jungen Wilden" zufolge soll die neue Situation darin bestehen, daß diese Künstler in ihren Arbeiten nicht mehr den Anspruch auf Individualität und künstlerische Identität erhöben:
Das heißt, die künstlerischen Arbeiten würden urheberlos, anonym.
Ich vermute, dergleichen ist nicht Programm, sondern Koketterie beziehungsweise Unerfahrenheit. Es ist doch kein Wunder, daß man in einer so explosionsartig sich entfaltenden Szene zunächst nicht in der Lage ist, die einzelnen künstlerischen Individualitäten voneinander zu unterscheiden.
Wo aber Anonymisierung der Werke programmatisch angestrebt würde, hätten wir es mit versuchter Mythenbildung zu tun; denn Mythos ist urheberlos gewordene Aussage. Der heute einzig verbindliche Mythos wird durch die positive Wissenschaft repräsentiert; denn deren Wissenschaftler bemessen ihren Aussageanspruch danach, inwieweit diese Aussagen keinem individuellen Urheber mehr zugeschrieben werden können.
Eine interessante Frage: Kann es eine Kunst geben, deren Aussageanspruch deswegen verbindlich wäre, weil er anonym ist wie die Wahrheit, wie die Gesetze? Eine interessante Frage deshalb, weil Künstler gegenwärtig den Wunsch haben könnten, ähnlich verbindliche Wirkungen in der Gesellschaft zu erzielen, wie sie von der positiven Wissenschaft erzielt worden sind. Anders herum wird ein Schuh daraus. Ganz offensichtlich möchten sich viele Künstler ihr Versagen und ihre Durchschnittlichkeit nicht mehr persönlich zurechnen lassen und der Verantwortung für ihr Tun auf ähnliche Weise entgehen, wie die positiven Wissenschaftler sich ihrer Verantwortung entledigt haben. (Mehr dazu von Bazon Brock in "Zeichen und Mythen", hrsg. von A. Pohlen, DuMont 1982)
5 Wahl und Auswahl?
Jede Ausstellung kommt nur durch Auswahl zustande: Es muß entschieden werden, was man zeigen will und was nicht; ganz gleich, welche Kriterien man dafür gelten läßt. Unseren Gepflogenheiten gemäß nimmt das Publikum aber nur allzu leicht an, daß diejenigen Künstler, die auf der documenta nicht gezeigt werden, damit auch als wenig qualifiziert zu bewerten seien. Darüber sollte nachdrücklicher aufgeklärt werden: Was tatsächlich gezeigt wird, ist eigentlich nur im Hinblick auf das bewertbar, was nicht gezeigt wird. Ich hoffe immer noch auf eine documenta, die einen ihrer dickleibigen Katalogbände jenen Künstlern und Werken widmet, die auf der documenta nicht zu sehen sind, die man aber kennen müßte, um die Auswahl der tatsächlich gezeigten Werke verstehen zu können. So käme man dem Anspruch auf Ernsthaftigkeit und Würde nach und verhinderte das Mißverständnis, eine documenta stelle höchstrichterliche Urteile über Qualität und Bedeutung von Künstlern aus.
Für mich würde ein solcher Band des documenta-Katalogs eröffnet mit dem Hinweis auf die Werke von Spoerri, Gerz, Blume, Christo, Schwegler, Paik, Le Gac, und ihnen folgten drei Dutzend weitere.
6 Alles nur subjektiv?
Ja, Gott sei Dank! Zum einen ist es ganz sinnvoll, solche Aussagenurheber als Künstler zu definieren, die darauf bestehen, in jedem Fall als Individuen untl Subjekte hinter ihren Aussagen sichtbar zu bleiben. Die Auseinandersetzung kann also nicht mit der Kunst geführt werden, sondern nur mit einzelnen Künstlern, die für ihre Arbeiten einstehen.
Zum anderen: Objektivität wird nicht dadurch erreicht, daß man sich bemüht, möglichst alles zu erfassen, sondern dadurch, daß man weiß, das eigene wie das Urteil der anderen erfaßt immer nur Einzelaspekte. Wer das weiß, wird deshalb das einzelne und die einzelnen Urteile nicht ein für allemal als unumstößlich wahr hinstellen, und vor allem wird er aus diesen Urteilen keine Konsequenzen ableiten, die unwiderruflich wären.
Auch die angestrengtesten Philosophen und Wissenschaftstheoretiker kommen mehrund mehr dahinter, daß die Wahrheit, die wir so oft beschwören, nichts anderes ist als einleuchtende Sinnfälligkeit (Evidenz); und daß auch logisch zwingende Ableitungen im Grund nichts anderes sind als das Entwickeln von Plausibilität.
Wir haben aber alle die Erfahrung gemacht, daß das, was uns gestern noch plausibel und sinnfällig erschien, uns heute schon unverständlich und fremd erscheinen kann. Anstatt diese Tatsache als unerträgliches Schwanken zu bedauern, sollten wir sie als Ausdruck unserer Lernfähigkeit bewerten.
Dennoch bleibt der Begriff der Wahrheit als überindividueller, objektiver Aussagenanspruch sinnvoll. Da diese Wahrheit aber nur unter Bedingungen aussprechbar wäre, die für Menschen auf Erden niemals erreicht werden können, bietet uns die Berufung auf jene Wahrheit die Möglichkeit, jeden Anspruch einer menschlichen Aussage auf absolute Geltung zu kritisieren.
7 Begeisterungsgemeinschaften
Bei aller unaufhebbaren Subjektivität unserer Urteile brauchen wir nicht zu fürchten, allein zu bleiben. Von Natur aus als Lebewesen schon in sehr hohem Maße einander ähnlich, werden wir (mehr als uns lieb ist) Gemeinschaften mit anderen zugeordnet, deren Lebensformen ihnen ähnliche Einstellungen und Haltungen zu Problemen aufnötigen, wie wir sie auch als einzelne zeigen. In leider nur geringem Umfang steht es uns frei, solche Gemeinschaften zu wählen, indem wir uns mit anderen zu Begeisterungsgemeinschaften zusammenschließen, mit denen wir also gemeinsam Ziele unseres Handelns formulieren können.
Unternehmungen wie die documenta repräsentieren solche Begeisterungsgemeinschaften. Wir sind aufgefordert zu überprüfen, ob wir ihnen beitreten möchten.