Buch BESUCHERSCHULE d 7

Die Hässlichkeit des Schönen - Spaziergänge Tempelgänge Paradegänge

Besucherschule zur d7, 1982
Besucherschule zur d7, 1982

Fotos: Lothar Koch. Verantw.: Walter Spötter
Besucherschule zur Documenta 7: Die Hässlichkeit des Schönen

  • Spaziergänge durch die Ausstellung – Im Gehen sehen
  • Tempelgänge in der Documenta – Im Sehen verstehen
  • Paradegänge zur d 7 – Im Verstehen weggehen

Erschienen
1981

Autor
Brock, Bazon

Verlag
D+V Paul Dierichs GmbH & Co KG

Erscheinungsort
Kassel, Deutschland

ISBN
3-920453-03-6

Umfang
133 S. : zahlr. Ill. ; 28 cm

Seite 32 im Original

3 Kounellis

Ohne Titel

Wieder Gold, aber davon reden wir nicht mehr. Nehmen wir es als monochrome Farbfläche von höchster denkbarer Einheitlichkeit und Geschlossenheit und gleichzeitiger höchstmöglicher Durchlässigkeit. Sehen wir es als Licht.
Die documenta-Arbeit hat man als eine Variante einer ähnlichen zu sehen, die Kounellis 1975 realisierte. Der entscheidende Unterschied: In unserer Variante ist die Lichtwand nicht wie 1975 von einer Tür durchbrochen; außerdem befindet sich hinter der Wand offenbar kein abgeschlossener Raum.
Von unserer Alltagserfahrung aus hätten wir 1975 die Situation etwa folgendermaßen umschrieben: Jemand kam in Hut und Mantel, also von draußen, legte beides an der Garderobe ab und trat durch die Tür (in der Wand) in einen Innenraum, der hinter der Wand zu vermuten ist. Aus dem Stil der Kleidungsstücke und ihrer Verarbeitung sowie ihrem Material hätten wir auf den Besucher vielleicht gewisse Rückschlüsse ziehen können. Soweit es uns selbst unmöglich gewesen wäre, durch die Tür in der Wand zu gehen, um nachzusehen, was sich hinter ihr verbirgt, hätten wir uns entscheiden können, vor der Wand so lange auszuharren, bis der Besucher wieder fortgehen würde.
Im Kunstkontext bilden wir die Erwartung an die Rückkehr des Besuchers erst gar nicht aus. Erinnerungen an andere Darstellungen eines ähnlichen Motivs (z. B. bei Magritte oder Segal) sagen uns, daß das Bild auf Konventionen des Verständnisses künstlerischer Arbeiten verweist, die nur im übertragenen Sinne (anagogisch) mit unserer Alltagserfahrung zu tun haben. Wir ziehen nicht Hut und Mantel selber an, um von dem Aussagenangebot Gebrauch zu machen, sondern tragen das Bild als Eindruck mit uns fort.
Ist die Kounellis-Arbeit nur durch die räumlichen Gegebenheiten des Fridericianums diesmal ohne Tür und ohne Wandrahmungen geblieben? Das wäre inakzeptabel (zum einen sollten auf der d 7 fast ausschließlich jüngste Arbeiten der Künstler zu sehen sein; zum anderen würde die 75er Lösung durch die jetzige entscheidend verstümmelt).
Ich finde nach langer Konzentration auf das Werk: die jetzige Lösung ist eine eigenständige Variante.
Der große Chinesenkünstler Wu Tao-tse zauberte durch seinen Pinsel eine Landschaft mit Höhleneingängen an die Wand des kaiserlichen Palastes. Vor den Augen des erstaunten Kaisers trat er in eine der Höhlen ein, die sich sofort schloß – und es verblieb bloß die weiße Wand. "Welch herrliches Beispiel für das Aufgehen eines Künstlers in seinem Werk", rief der Kaiser.
Als das Volk von Agrigent dem Empedokles schon fast göttliche Wirkungskraft seines Geistes zugestand, um sie ihm abverlangen zu dürfen, rettete Empedokles sich und das Bild, das seine Mitbürger von ihm hatten, indem er in den Ätna sprang, um vollständig unauffindbar zu werden, um spurlos zu verschwinden.
Die türlose Lichtwand wird Medium des Verschwindens; diesmal hinterließ Empedokles nicht seine Sandalen, sondern Hut und Mantel. Oder war es lkarus? Oder der zum kalifornischen Lichtleib vergöttllchte Paul Getty? Näher liegt: das Schaffen von (zurück-)bleibenden Werken verstehen die Künstler immer noch als ihre Apotheose. Welch hoffnungsstarke Verkennung: zeigt Kounellis nicht doch einen unbekannten Feierabendbürger, den der erste Neutronenbombenblitz des 3. Weltkrieges überraschte? Sein Schatten brannte sich matt-schwarz in die Wand.