In gekürzter Fassung als Rezension für die FRANKFURTER RUNDSCHAU, 23.10.1976. Die Theaterkritik bezieht sich sowohl auf das Stück selber, das am 17. und 18.10.1976 im Hamburger Schauspielhaus aufgeführt wurde, als auch auf die zum Vergleich vorliegenden Theaterkritiken zum gleichen Stück.
Hamburg. Bei ihrem jüngsten Gastspiel im Hamburger Schauspielhaus haben Robert Wilson und Phillip GLASS mit ihrer Oper 'Einstein on the Beach' in dreierlei Hinsicht beachtenswerte Wirkungen erzielt: Zum einen beim Publikum, das es sichtlich genoß, die Avantgarde der vergangenen zehn Jahre nun endlich in einer Form konsumieren zu können, die jeden Verdacht eigener Unfähigkeit des Verstehens ausschloß und das wohlige Gefühl erzeugte, nun doch noch den Anschluß an den künstlerischen Zeitgeist gefunden zu haben. Eine ähnlich befreiende Bestätigung hatte das Publikum zuletzt erhalten, als jedermann die Begriffe Happening und Pop-Art zu hantieren lernte, um damit die künstlerischen Tendenzen der Jahre 1960 bis 66 einzuholen.
Zum anderen erzielten Wilson und Glass Wirkung bei der professionellen Kritik, die wieder mal "das Theaterereignis" der Weltsaison gefunden hatte. Mit diesem Urteil konnte die Kritik beweisen, daß sie selbst immer noch bestimmt, was der künstlerische Zeitgeist ist und wann er repräsentativ wird. Rezensenten stellten ihren Lesern plötzlich Wilson als das weltberühmte Theatergenie vor, ohne zu erklären, warum sie denn ihren Lesern bisher die Weltberühmtheit vorenthalten hatten. Indem der Rezensent einem Theatermacher das Charakteristikum Originärgenie verleiht, wie es in einem Jahrhundert nur dreimal auftrete, rechtfertigt er seine bisherige Unkenntnis der Traditionen, in denen dieses angebliche Originärgenie durchaus ganz handfeste Anleihen macht.
Zum dritten erzielten Wilson und Glass Wirkung bei den deutschen Theatergenies wie Peter STEIN. Das Wilson-Ereignis veranlaßte STEIN zu einer bemerkenswerten Aussage, in der STEIN von seiner eigenen Theaterarbeit und ihrem Verhältnis zu den zeitgenössischen Künsten sprach. STEIN führte aus, daß er sich in diesen Künsten wie in einem Supermarkt bewege, um sich nach Belieben vom Regal zu nehmen, was ihm für die eigene Arbeit brauchbar erscheine. Wer an der Kasse nicht zahlt oder im Programmheft nicht zitiert, läuft Gefahr, als Ladendieb erwischt zu werden. Man darf sich wohl noch dagegen verwahren, daß derartige Praktiken der nackten Ausbeutung leichthin zur Begründung eines künstlerischen Anspruchs herhalten müssen, obgleich wir dankbar anerkennen, daß diese bei STEIN immer schon vermutete Haltung nun von ihm offen ausgesprochen wird; daß also an die Stelle des gesellschaftlichen AufkIärergestus die Greifbewegung des Selbstbedieners tritt. In dieser neuen Selbsteinschätzung ist STEIN dem Wilson weit überlegen, da Wilson immer noch den Eindruck erweckt, als verdanke sich sein Theaterkonzept der hilfreichen Arbeit mit verhaltensgestörten oder -geschädigten Menschen. Alle Journalisten gingen denn auch begierig auf diese vorgebliche Begründung ein, genauso begierig, wie sie einst auf STEINs Gesellschaftskritik eingingen.
Da wird also der geheimnisvolle Knabe Knowles vorgestellt, der verhaltensgestört und gelähmt und eine nur Wilson verständliche Privatsprache benutzend dem Meister Botschaften zukommen läßt, die der prompt als Textgrundlage seiner Inszenierungen benutzt. Knowles habe die unerhörte Fähigkeit, jeden Buchstaben eines Wortes um 13 Positionen im Alphabet zu versetzen, also statt a immer m zu benutzen. Die Mystifikationen blühen wie bei jedem dubiosen Unternehmen; Mystik tritt gern mit dem Anspruch auf Exaktheit auf. So berichtet der 'Spiegel' seinen Lesern, Wilsons Stück sei ganz präzis kalkuliert, weil das Stück vier Akte habe. Bei einer derartigen Auffassung nimmt es nicht wunder, daß Wilson glaubt, Mathematik zu betreiben, weil seine "Schauspieler exakt bis 64 zählen" können. Wilson erlaubt sich zu bekunden, daß ihn "an EINSTEIN nicht so sehr dessen wissenschaftliche Arbeit als vielmehr dessen Person" interessiere, als ob Wilson das Werk EINSTEINs auch nur soweit kennte, um entscheiden zu können, daß es ihn "nicht so sehr interessiert". Terror der Willkür drückt der Umgang solcher Burschen wie Wilson mit den EINSTEINs und ihren Arbeiten aus, wenn sie einerseits sagen: "der Zuschauer sieht, daß EINSTEIN Kalkulationen machte, daß er sich mit Zeit und Raum beschäftigte, sieht die Uhren", andererseits aber in Anspruch nehmen, mit ihren Inszenierungen tiefgreifende Analysen von Raum-Zeit-Strukturen zu liefern, die unseren Wahrnehmungen und dem Erleben zugrunde liegen.
Wenn Künstler Aussagen über Zeit-Raum-Strukturen machen können, dann wird man sie wie alle ernsthaften Aussagen zu diesem Problem zur Kenntnis nehmen. Der Hinweis auf Mathematik und Philosophie aber ist dann nichts anderes als Krücken für den künstlerischen Aussagenanspruch, wenn diese Künstler sich "nicht so sehr für die wissenschaftliche Arbeit als vielmehr für die Person" eines gerühmten Wissenschaftlers interessieren. Daß beispielsweise jede musikalische Komposition etwas mit Zeit-Raum-Strukturen zu tun hat, dürfte sich langsam herumgesprochen haben; interessant wird die Komposition aber erst dadurch, daß deutlich gemacht wird, in welcher besonderen Weise denn auf die Zeit-Raum-Problematik eingegangen wird. Phillip Glass hat das mit seiner Musik zu 'Einstein on the Beach' versucht, wenn auch die Antwort zIemlich schmal ist.
Nur ein Beispiel: wenn mit Reihung, Wiederholungen und Aufdauerstellen gearbeitet wird, ist doch die einzig interessante Frage, wie das Abbrechen der Wiederholungen begründet wird. Es gibt ja eigentlich keinen in der Sache liegenden Grund, die Wiederholung nach 25 Durchgängen und nicht schon bei elf Durchgängen abzubrechen – ebensowenig, wie es einen Grund gibt, neun statt bloß ein Element zu verwenden, wenn keine Entwicklung in der Entfaltung des Materials selber vorgesehen ist. Die Schlagerbranche hilft sich seit langem damit, daß sie den Diskjockeys empfiehlt, das Werk einfach durch Ausblenden zu beenden, da im Werk selber keinerlei Abschluß mehr begründet wird. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß nur noch die kalkulierte Publikumsreaktion (Ermüdung, Langeweile) Maßstab für künstlerische Entscheidungen über den Umfang eines Werkes ist. Warum dauerte 'Einstein' nur fünf und nicht 50 Stunden? Warum wiederholt die Zeugin vor Gericht ihren Aussagesatz nur so oft, wie sie es tat, und nicht viel öfter oder weniger oft? Glass antwortet, weil wir uns darauf geeinigt hatten! Das ist eine Antwort, aber wohl doch eine schmale. Fehlende Begründungen für Entscheidungen - also das allein Interessante bei solchen künstlerischen Techniken - kennzeichnen den Charakter der Oper insgesamt.
Der Theatermann Robert Wilson liebte die 'silent opera', die Oper ohne Musik.
Bewegungen von Sängern kommt ein eigentümlicher Reiz zu, wenn man Sänger ohne Musik so agieren läßt, als wären ihre Aktionen durch die Tempi der Musik bestimmt. Für viele Theaterbesucher ist ja die Divergenz zwischen Sprechtempo und Gesangstempo, zwischen Handlung und musikalischem Verlauf eine Belastung des Opernbesuchs. Wilson und vor ihm eine Reihe von Film- und Theatermachern nutzten gerade diese Divergenz von Zeitformen, um unsere gewohnheitsmäßigen Vorstellungen von Bewegungsabläufen und Handlungen zu relativieren: man sah eine Reihe von Inszenierungen, in denen Handlungen merklich verlangsamt und gedehnt vorgeführt wurden, so daß die einzelnen Bewegungsabläufe entgegen unserer Gewohnheit von neuem Aufmerksamkeit erzwangen.
Zu beachtenswerteren Resultaten führten Versuche, die Oper zu radikalisieren: man paßte Handlungen und Bewegungsabläufe unmittelbar den Zeitstrukturen der Musik an, das heißt, die Handlungen und Bewegungen verliefen auf der Bühne sichtbar genau analog dem zeitlichen Schema der Musik. Wenn also in der musikalischen Formulierung eine Wiederholung, eine Überlagerung oder eine Verdoppelung auftraten, wurden auf der Bühne die Bewegungen der Schauspieler ebenfalls wiederholt, überlagert oder vervielfaltigt. Das mußte natürlich zu einer völligen Veränderung der Handlungen selber führen, weil wir nicht gewohnt sind, jemanden auf der Bühne oder sonstwo eine Bewegung mehrfach wiederholen zu sehen (außer bei Verlegenheitsgesten oder Probeverhalten).
Diesen letzteren Weg wählte Wilson für seine Arbeit 'Einstein on the Beach', für die er sich von Phillip Glass musikalische Strukturen vorgeben ließ. Glass' Partitur ist denn auch das wesentliche Gerüst flir die Arbeit Wilsons.
Die Musik allein sichert einen wenigstens äußerlichen Zusammenhalt der Aktionen.
Innerhalb des heute Üblichen ist die Musik ausgezeichnet gearbeitet, wenn das ihr eigentlich zukommende Interesse auch immer wieder verlorengeht, weil man die Gesamtstruktur nicht überschauen kann. In dieser Hinsicht waren Glass' Kompositionen, wie er sie vor Jahren in der Galerie RICKE vorführte, der 'Einstein'-Partitur überlegen.
Was Wilson auf der Bühne an Handlung, Bewegungsabläufen und Bildern der Musik zuordnet (zumeist in genauer Entsprechung wie bei den sattsam bekannten Gesellschaftsspielen, zur 'Pastorale' lebende Bilder zu stellen) ist etwa folgendes: Vier jedem heutigen Bewußtsein vertraute Topoi der Alltagsmythen werden miteinander verkoppelt: die Eisenbahn, der Gerichtshof, das freie Feld und das Raumschiff.
Die Eisenbahn nähert sich den Akteuren schräg von vorne an, befindet sich parallel zu ihnen in voller Fahrt, entfernt sich mit ihnen nach schräg hinten. (Die gute alte Dampfeisenbahn, der wir unsere kindlichen Fernephantasien zuordneten, verwandelt sich in einen nicht mehr als 'Eisenbahn' empfundenen, modernen E-Zug.) Diesen Perspektiven sind im wörtlichen Sinne Erlebnisformen zugeordnet: ein Kind erlebt von erhöhtem Betrachterstandpunkt das mechanische Lebewesen in der Landschaft, ein Jugendlicher überträgt die Maschinenrhythmik auf seine Bewegungen (Lucinda CHILDS mit einer großartigen Leistung); ein Paar entfernt sich voneinander, wie der Zug sich vom Betrachter entfernt (unnötigerweise erschießt sie ihn, nachdem die beiden auf der Plattform des letzten Wagens einen langen Versuch unternahmen, sich aufeinander einzulassen).
Das Gericht tritt zusammen, die beiden Richter, die Geschworenen, zwei Stenographinnen, Wächter, die Zeugin. Die Zeugin beginnt ihre Aussage mit einem Satz folgender Struktur: "als ich gerade in einem jener bombastisch ausstaffierten Supermärkte …" Diese Aussage verweist auf das Ereignis, um das es im Gericht geht. Das Ereignis selber wird aber nicht berührt, da sich die Ereignishaftigkeit bereits mechanisch aus der gewählten Satzstruktur ergibt. Deshalb wird der Satz nur noch viele Male von der Zeugin wiederholt. Ebenso wiederholen dabei beispielsweise die Stenographinnen ihre vielsagenden Blicke, ihre Verlegenheitsgesten und Pausenrituale.
Die Zeugin durchläuft einige Verhaltenspositionen des Täters wie bei einer Tatrekonstruktion; der Gerichtshof verwandelt sich zur Hälfte in das, was er für den Täter bedeutet, ins Gefängnis. Die Teilung der Szene in Erscheinungsebene und Bedeutungsebene wird mehrmals angedeutet, wobei sich körperlose, abstrakte Grenzlinien aus Licht in Körper verwandeln und Körper, wie das im Gerichtssaal stehende Bettpodest, in abstrakte Grenzlinien aus Licht. (Das ist in der Inszenierung technisch miserabel und einfallslos gemacht, weil man deutlich spürt, daß die Ideen und Vorstellungen dazu nicht von Wilson, sondern von KUBRIK stammen, dessen metallenes Absolutum, das fliegende, kastenartige Urding, den Film '2001' so gut erinnerbar hält.)
Das Raumschiff überfliegt in verschiedenen Erscheinungsformen die freien Felder, bis man schließlich in seinem Inneren die Besatzung arbeiten sieht, wie sich das jedermann als Horrorbild einer drohenden Zukunft seit Jules VERNE vorstellt. Da tobt sich wohl nicht nur kindlicher Vorstellung gemäß der Moloch Technik aus, es rattert und glüht wie weiland bei Fritz LANG.
Auf den freien Feldern (leere Bühne) entfalten die Schauspieler in Gruppen Bewegungen, die durch eine sehr bemühte Choreographie (Andrew de GROAT) als Ballettversuche mißverstanden werden müssen. Dabei ging es gerade darum, aus der Zufälligkeit vieler Einzelbewegungen sich momentweise Figuren oder Gestaltungen herausbilden zu sehen, als wären sie geplant.
Diese Episoden sind aufeinander in ganz äußerlicher Weise bezogen, etwa so, wie man verschiedene Filmsequenzen miteinander durch Schnitt verbinden kann. Aber für einen sinnvollen Schnitt braucht man inhaltliche Kriterien, wenn Material und Ereignisse sich gegenseitig interpretieren oder konterkarieren sollen. Diese Kriterien fehlen Wilson völlig, weshalb auch die großen Wechsel auf der Bühne durch Zwischenspiele vor der Bühne überbrückt werden müssen. Zu den Choreinlagen sieht man völlig kontextbeliebige Handlungen: zwei Personen im Raum, an zwei Tischen sitzend, dann nebeneinander auf zwei Stühlen sitzend, dann vor einer Schalttafel hantierend, dann auf zwei Glastischen sich windend. Für die Zwischenspiele wäre es darum gegangen, die Disparatheit von musikalischer Verlaufstrukturierung und Handlung anschaulich werden zu lassen. Das ist etwas anderes als Beliebigkeit.
Im einzelnen kann hier aus Platzmangel nicht ausgeführt werden, wie Wilson das von anderen ausgebildete methodische und instrumentelle Repertoire benutzt, etwa die Vereinzelungstechnik: das Bäffchen der Richterrobe wird als Zweimeterobjekt vor dem Richtertisch herabgelassen. Oder die Ausbildung von Permanenzszenen: das Heranführen der Zeigefingerspitze an die Nase aus Betroffenheit wird eingefroren, auf Dauer gestellt. Oder die gestische Transformation: eine zeigende Hand wird zur Schwurhand. Oder medialer Transfer: die Wortbedeutung Hof (in Gerichtshof) wird auf ein Bild des Hofes von Versailles übertragen.
Wilson hat in dieser Hinsicht nicht eine einzige Erfindung anzubieten; ein neben mir sitzender Zahnarzt, der sich in der Geschichte der Avantgarde seit 1960 auskennt, begann, die Übernahmen mitzuzählen. Als er schnell bei zwölf angekommen war, gab er das Zählen auf. Ärgerlich ist, daß Wilson Übernahmen blind, nach Wohlgefallen, buchte, ohne sie zu verstehen, wodurch sie teilweise erheblich entstellt wurden (was bei unkundigem Publikum und Journalismus ohne weiteres durchgeht, denn übermorgen haben die ohnehin wieder alles vergessen).
Der entscheidende Mangel aber ist darin zu sehen, daß es Wilson nicht gelingt, die einzelnen, bloß formal übernommenen Elemente thematisch zu verklammern, wobei niemand eine Einheit fordert. EINSTEIN wird nur als Figur zitiert, für deren Gedanken sich Wilson nach eigenen ßekundungen nicht interessiert. Der als Sologeiger in Maske vor der Bühne und vervielfältigt auf der Bühne agierende EINSTEIN soll nur seinem Verhalten nach interessant sein, ohne Hinweis darauf, wie denn dieses Verhalten mit seinen Gedanken über Raum-Zeit-Strukturen zusammenhängt. Denn Wilson will ja Aussagen über Raum-Zeit-Strukturen machen. Dazu ist von Wilson in seinem Stück kein eigener Gedanke beigetragen worden. Wilson trägt nur dazu bei, daß der hoch angesetzte Aussagenanspruch von Künstlern trivial wird.