Unveröffentlichtes Manuskript aus dem (Documenta-)Jahr 1972. Mit der 'Bodyart' als Kunstform beschäftigt sich der Essay 'Körpersprache', 1971 und 1975 (in. Band 111, Teil 3.1).
6.1 Minimal Art
Reduktion der künstlerischen Äußerung gegen ihre Grenze zur nicht-künstlerischen Äußerung.
Minimal Art ist selber die Grenze zwischen industrie produzierter Fliese und dem, was Carl ANDRE als Künstler produzierte, wenn er als Künstler produzieren würde; oder Grenze zwischen industrieproduzierter Leuchtstoffröhre und dem, was Dan FLAVIN produzieren würde, wenn er als Künstler produzierte.
Die Grenze als Resultat künstlerischer Reflexion auf die Differenz zwischen künstlerischer und allgemein gesellschaftlicher Arbeit.
Da Übergänge die kritischsten und verschwommensten Teilbereiche eines Handlungs- oder Beobachtungsfeldes sind, versuchen Minimal-Künstler, das Eingegrenzte selber als Grenze darzustellen.
6.2 Konkretismus
verfährt wie Minimal Art, allerdings mit dem Resultat, daß die ausgegrenzten Bereiche zusammenfallen. Die Grenze als das Gemeinsamkeitsstiftende, als das Identitäterzwingende. Der Zwang wird zur Willkür, da er den Anspruch des Nichtidentischen für die Identitätsbildung unberücksichtigt läßt..
Formale Operation zur Erzwingung der Identität ist Tautologiebildung, und der Künstler im Denkkrampf.
Wo alles als Eines postuliert wird, ist die Grenze aufgehoben, z.B. bei HANDKE und Timm ULRICHS und dem Postulat 'Kunst = Leben' (VOSTELL).
6.3 Environment
Hervorgegangen aus der Thematisierung der Differenz zwischen dem, was Bild ist, und dem, was nicht Bild ist: also ein Rahmenproblem. Der Bilderrahmen war die erste Ausbildung des Zusammenhangs zwischen Bild und Nicht-Bild.
Bilder expandieren zur sozialen Umgebung, in der sie vorkommen: die Wand, auf der das Bild hängt, wird zum Bestandteil des Bildes.
Die Expansion des Bildes wird über den Rahmen und die soziale Umgebung dreidimensional. Das Bild wird soziale Umgebung, das Bild wird Environment. Environment als Expansion der Kunst zur sozialen Umgebung dessen, der Kunst produziert, und dessen, der Kunst rezipiert. Das Environment holt den Rezipienten in die künstlerische Äußerung hinein; es nimmt die Spuren der Rezeptionstätigkeit in sich auf.
Es beweist den jeweils aktualen wie auch historischen Stand des Totalitätsanspruches der Kunst gegenüber dem Leben; weshalb in die Environments gesellschaftlich produzierte Lebensäußerungen umstandslos eingehen.
6.4 Destruction
Abermals Tendenz der Reduktion, aber nicht kunst-immanent wie Minimal Art.
Reduktion ist hier nicht Resultat eines kontinuierlichen Arbeits- und Gedankenprozesses, sondern Auflösung und Abschaffung; gleichsam der Anspruch des Lebens gegenüber der Kunst.
Der Trümmerhaufen demonstriert die objektive Ohnmacht der Kunst gegenüber solchem Anspruch.
Freilich sind die Fähigkeiten der Künstler zur Destruction im Vergleich zu denen der Gesellschaft minimal. Destruction in art bleibt deshalb eine Bedeutungslosigkeit wie kindliche Ohnmachtsbekundungen. Nicht zu verwechseln mit TINGUELYs sich selbst aufhebenden Maschinen, für die gerade der Prozeß der Selbstaufhebung erst die künstlerische Äußerung ausmacht; doch sehr ähnlich den Ausbruchsversuchen derer, die die objektive Grausamkeit des Kulturprozesses vom Werden und Vergehen dadurch zu mildern versuchen, daß sie ihn stillstelIen. Auch nicht zu verwechseln mit der Bilderstürmerei, die nur von außen den künstlerischen Äußerungen entgegengebracht wurde, doch sehr ähnlich dem Psychoterror neurotisch Verstellter. Im ganzen ein mattes und unreflektiertes Postulat der Reduktion auf das, was dahinter steckt, ein kümmerlicher Versuch der Überführung von etwas in etwas anderes, das aber nicht mehr ist.
6.5 Land Art
Künstlerische Äußerungsform des 18. Jahrhunderts, Demonstrierter Anspruch der menschlichen Gesellschaft gegenüber der Natur.
Die Natur sollte gezwungen werden, den Bedingungen gesellschaftlicher Rationalität zu gehorchen; die Bäume sollten gehorchen, die Bäche sollten gehorchen, die Wälder sollten gehorchen, die Hecken und das Gras sollten gehorchen.
Kurz: der französische Garten im 20. Jahrhundert.
Ein Versuch der Künstler, mit der Natur ähnlich umzuspringen, wie andere Bereiche gesellschaftlicher Praxis mit ihr umspringen, denn in der Auseinandersetzung zwischen Gesellschaft und Natur fallen bis auf den heutigen Tag die für unser Leben wichtigsten Entscheidungen.
Tendenz der Expansion: künstlerische Rationalität gegen die Natur mit der einsichtig gemachten Bedingung, daß dieser Versuch nur auf Zeit glücken kann: die nächste Flut läß den DIBBETSschen Meeresacker wieder verschwinden.
6.6 Aktions-Kunst
Eine der ursprünglichsten Formen der Rezeptionsanleitung, die Künstler der bürgerlichen Gesellschaft nahezulegen versuchten.
Was Kunst in der Aktions-Kunst ist, beruft sich auf die gesellschaftliche Rolle dessen, der die Aktion ausführt; ist er Künstler, so ist das Resultat seines Handelns Aktions-Kunst.
Im Unterschied dazu sind die gleichen Aktionen, von anderen gesellschaftlichen Rollenträgern ausgeführt, eben bloß Aktionen, die durch ihre Zielausrichtung gekennzeichnet werden. Also Aktionen zur Aufklärung der Bewohner eines Mietshauses über die Bedingungen ihres Lebens oder Aktionen eines vor Gericht stehenden Kommunarden zur analytischen Durchdringung des richterlichen Gewaltanspruches.
Als in den 60er Jahren die Künstler zur Kenntnis nehmen mußten, daß Nicht-Künstler mit ihren Aktionen die Öffentlichkeit der Gesellschaft weitgehend beschäftigten, versuchten sie, ihre gesellschaftliche Rolle in die Aktion einzubringen.
Fatalerweise wurden so die gesellschaftspolitisch wichtigen Aktionen zu bloßen Problemen künstlerischer Entäußerung. Zu berücksichtigen ist dabei, daß sich die Aktionen der Nicht-Künstler auf formale Verfahren stützten, die zuvor zum großen Teil von Künstlern entwickelt worden waren, was allerdings die Mehrzahl der an den Aktionen Beteiligten nicht wußte.
Aktions-Kunst ist versuchte Ausnutzung der sozialen Identität des Künstlers für seine Zwecke; im wesentlichen also für die Ausbildung seiner personalen Identität. Das Verfahren ist seit den Tagen des Sturm und Drang geläufig.
6.7 Prozeß-Kunst
Thematisiert wird die Verlaufsform künstlerischer Hervorbringung, nicht aber ihr Resultat. Wo bisher der Entstehungsprozeß eines Werkes bestenfalls für den Spezialwissenschaftler von Interesse war oder für die haltlosen Interpretationsversuche des Laien am Werk ausgeschlachtet wurde (Typ 'GOETHE war unsterblich verliebt; er litt stark unter der Kälte des Winters und wollte zudem seine vertraglich eingegangen Verpflichtungen erfüllen; er setzte sich hin und schrieb'), da wird jetzt die Initiierung des Prozesses und sein Verlauf als die entscheidende künstlerische Produktion betrachtet.
Allerdings gilt, daß die Bedingungen des Prozesses in ihm selber auftauchen oder daß sie als ganz formal vorgegeben werden, z.B. eine Zeiteinheit oder räumliche Begrenzung oder mediale Fixierung.
Prozeß-Kunst ist die erste Form des Mischtyps als Gegenläufigkeit von Expansion und Reduktion im gleichen Moment.
a Reduktion von Prozeßbedingungen auf Einhaltung vorgegebener Regeln und Verabredung zu einem Anlaß.
b Expansion über die Werkimmanenz hinaus; denn jedes Material, jede Erscheinungsform, jeder Bewegungsablauf soll in den Prozeß einholbar sein.
Expansion der künstlerischen Äußerung zur Technik des Lebens.
6.8 Ich-Kunst
Durch die bürgerliche Kunstideologie äußerst weitgehend ausgebaute Form künstlerischer Arbeit; stützt sich auf das bürgerliche Primat der personalen Identität und auf das Selbstverständnis des Bürgers als höchst entfalteter Individualität und als optimal ausgebildetes gesellschaftliches Subjekt. Sie wurde von der bürgerlichen Kunstideologie als die bestimmende Form künstlerischer Arbeit angesehen, weil sie zu belegen schien, daß personale und soziale Identität zusammenfallen können. Die Rolle des Künstlers, also seine soziale Identität, war geradezu vorgegeben als Durchsetzung der personalen Identität bis an die Grenzen realitätsgerechten Handelns, bis an die Grenze der Selbstzerstörung.
Die bis auf den heutigen Tag uneingeschränkte Bedeutung der Ich-Kunst für die bürgerliche Gesellschaft resultiert aus dem historischen Umstand, daß die Kunst der bürgerlichen Gesellschaft erst die Kategorien Individualität und Subjektivität erschlossen hat.
Abgegrenzt werden sollten die Selbstverwirklichungsvorstellungen und auch die von der Tiefenpsychologie entwickelte Auffassung, daß Ich-Kunst von neurotischer Prädisposition des Künstlers abhängig ist.
Generell kann Ich-Kunst Reflexionen auf die Wichtigkeit der personalen künstlerischen Identität für die künstlerische Produktion genannt werden.
6.9 Ideen-Kunst
Ideen-Kunst geht von der Theorieabhängigkeit jedes praktischen künstlerischen Versuchs aus mit dem Postulat der Vorgängigkeit der Theorie. Sie setzt als erste Bedingung ein durchgängiges konstitutives Prinzip: die Idee, der gegenüber konkret materiale Erscheinungen sowie auch der Prozeß ihrer Herstellung zweitrangig sind.
Prozeß und Resultat sind nur Transformationen der konstitutiven Idee in unterschiedliche Formen der Rezipierbarkeit. Durch alle Stufen der Transformation muß die Idee ausweisbar sein.
HEGELs Satz "das Kunstwerk ist das sinnliche Erscheinen der Idee" könnte als Formulierung des Sachverhaltes dienen, wenn er nicht durch die normative Ästhetik so häufig mißbraucht worden wäre.
Ideen-Kunst stellt an die Reflexionsfähigkeit des praktizierenden Künstlers die höchsten Anforderungen und verlangt ihm in jedem Moment seiner Arbeit den Beweis dafür ab, daß er weiß, was er tut. Das dürfte bis dato für das Gros der Künstler eine unerfüllbare Forderung sein.
6.10 Concept-Kunst
In ihrem Bereich versuchen Künstler, es mit der Fülle an Möglichkeiten, Entwürfen, Einstellungen, Plänen anderer gesellschaftlicher Praxisbereiche aufzunehmen. Antizipationsleistung war bisher nur eine Funktion der bürgerlichen Kunst; für die Concept Art ist diese Funktion eine ausschließliche.
Was sich einstmals wenigstens als Differenz von Entwurf und Ausführung beschreiben ließ, schrumpft hier aufs platte Drauflosdenken zusammen. Immerhin ist das Training des Möglichkeitssinns auch für Künstler wichtig, da sie inzwischen erfahren haben, daß heute ein mittlerer Ingenieur phantasiereicher arbeitet als noch vor Jahren die Künstler.
Als selbstverständlich sollte gelten, daß die Vielzahl der gegenwärtig praktizierten künstlerischen Ausdrucksformen, wie sie hier angedeutet werden, nicht selbständige Stile repräsentieren. Die immer weitergehende Differenzierung ist Folge der auch im künstlerischen Praxisbereich unabdingbaren Arbeitsteiligkeit. Je verzweifelter die Ausbildung von Totalkunst propagiert wird, desto eindeutiger wird die Notwendigkeit arbeitsteiliger Unterscheidung.
Als selbstverständlich sollte ebenfalls vorausgesetzt sein, daß die Erscheinungsformen der hier angesprochenen künstlerischen Produktionen vom Selbstverständnis der Künstler auch dann abweichen, wenn diese Künstler optimale Lösungen anbieten; denn die Erscheinungsformen sind in einem großen Maße durch die Vermittlungssysteme von Kunst bestimmt, in erster Linie durch den Handel. Die künstlerischen Produktionen sind auf die Vermittlung angewiesen und müssen sich einer gesetzten kapitalistischen Warenvermittlung beugen. So kann ein Prozeß-Künstler noch so richtige begründete und notwendige Arbeiten initiieren; wenn sie in den Vermittlungsprozeß nicht einführbar sind, bleiben sie nicht existent.
Für die Prozeß-Kunst heißt das, daß die dominierende Verlaufsform doch wieder in einem Maße verdinglicht und materiell vergegenständlicht werden muß, die es erlaubt, aus diesem Prozeß Resultate abspalten zu können, welche als hintergrunds- und bestimmungslose Waren am Kunstmarkt zirkulieren. So verbietet sich von selbst, die ursprüngliche Euphorie zu befördern, die von dieser neuen Form ausging, etwa in der Behauptung, sie würde die Demokratisierung der Kunst befördern. Freilich muß vermutet werden, daß Demokratisierung ohnehin nicht viel mehr geheißen hat als Voraussetzungslosigkeit, umstandsloses Rezipieren, do it yourself usw.
Werden die angeführten Beispiele unter die Kategorien Expansion und Reduktion subsumiert, so müssen Minimal Art, Konkretismus, Destruction, Ideen-Kunst und Concept-Kunst tendenziell als Reduktionen, die anderen als Expansionen der Kunst in ihrem Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit anzusehen sein.
Reduktion meint: Geringerwerden des Anteils an Irrationalismus, Bedeutungslosigkeit, Willkür, Beliebigkeit; kurz: Verringerung der Komplexität. Reduktionen von komplexitätsbefördernden künstlerischen Arbeitsweisen werden deshalb notwendig auf fundamentale Begründungen angewiesen sein; also auf einen eindeutigen Bedingungsrahmen, auf klare Zielvorstellungen und eindeutige Regeln.
Für den Rezipienten wird damit die gegenläufige Aufforderung verbunden sein, das geordnete Material dem Chaos des Lebens zu konfrontieren. Von den Reduktionen geht deshalb ein erhöhter Anreiz auf Rezeptionsaktivität aus.
Den expandierenden künstlerischen Arbeitsweisen gegenüber wird der Rezipient mit dem Verlangen nach Eindeutigkeit und Abwehr der komplexen Bedingungen reagieren. Darin steckt eine Erklärung für die Tatsache, daß entgegen den Erwartungen der Künstler von Happenings (hochkomplexe Expansionstendenzen) die Rezipienten mit großer Erstarrung und Zurückhaltung reagieren. Zudem wird hier die Kunst in ihrer bisherigen Form als notwendige Klassenkunst erkennbar. Angehörige der gesellschaftlichen Unterklassen und solche der privilegierten Gruppen bringen entgegengesetzte Verhaltensweisen als Voraussetzungen in die ästhetische Praxis ein.
Wer alltäglich in höchst geordneten komplexitätsarmen Bedingungen lebt, wird von der nicht-alltäglichen Erfahrung im Gebrauch der Kunst Komplexitätssteigerung und damit Ereignisdichte verlangen.
Wessen Leben aber alltäglich hochgradig komplex verläuft, wird die Kunst, die Wissenschaften und die Religion als Instrumente gewünschter Komplexitätsreduktion gebrauchen wollen.