Anlauf:
Der Herr Bundespräsident hält die „Weltdemokratie“ und „Weltregierung“ für eine Utopie, will sagen, er hielte es für höchst wünschenswert, dergleichen Einrichtungen zu etablieren, aber leider, leider ließe sich das wohl nicht erreichen. Frage an unser Alltagsverständnis: Ist eine Zukunftsvorstellung nur solange „utopisch“, wie sie nicht verwirklicht werden kann? Wie unterscheiden sich dann aber Utopien von ganz normalen Planungen, die ja auch alle erst auf zukünftiges Erreichen der Planziele orientiert sind? Ein Plan ist ja solange Plan, wie er nicht in die Wirklichkeit umgesetzt wurde. Ist also jeder Plan utopisch? Ganz offensichtlich nicht, weil wir ja hörten, „Weltdemokratie“ sei utopisch, nicht aber unplanbar.
„Weltdemokratie“ könnte durchaus geplant, wenn auch nicht unter gewissen Gegebenheiten erreicht werden; unter anderen vielleicht. Welchen Sinn aber macht es, etwas in den Blick zu nehmen, zu planen, was man doch nicht erreichen kann? Wenn Utopien im Alltagsverständnis prinzipiell nicht realisierbare Pläne bezeichnen, warum entwickelt man sie dann? Könnte man mit „prinzipiell nicht realisierbar“ vielleicht auch meinen, „prinzipiell nicht befriedigbar“, wie man das von unseren Wünschen und Bedürfnissen sagt. Man kann sich zwar satt essen, aber prinzipiell sich nicht so satt essen, dass das Bedürfnis, den Hunger zu stillen, ein für alle Mal erfüllt ist. Was bedeutet dann Befriedigung der Bedürfnisse und Erfüllung der Wünsche? Zwar werden Bedürfnisse und Wünsche kurzfristig befriedigbar und erfüllbar – aber gerade die augenblickliche Stillung provoziert die Sorge um die nächste Möglichkeit der Befriedung. Derartige Sorgen und Befürchtungen muss man möglichst so artikulieren, dass andere Menschen bereit sind, ihrerseits die Sorge in eine Vorsorge umzuwandeln. Also gilt: Wünsche können nicht ein für alle Mal befriedigt werden. Sie müssen gerade als zukünftige zur Geltung gebracht werden, indem man sie auszudrücken lernt.
Müssen wir nicht aus diesem Durcheinander im alltäglichen Gebrauch des Begriffs „Utopie“ die Schlussfolgerung ziehen, dass Utopien etwas völlig anderes sind als Planungen für zukünftiges Handeln, seien sie nun erreichbar oder nicht? Vielleicht sind Utopien so etwas wie Visionen, die gerade dadurch für uns Bedeutung erhalten, weil man sie gar nicht verwirklichen will? Karl Marx fröhlich-selig hat immer wieder betont, dass seine Vorstellungen von sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaften nicht utopisch und keine Handlungsanleitungen zur Orientierung auf Planung des Wünschbaren seien, sondern unabweisbare, von Interventionen durch utopisches Wünschen völlig unabhängige Konsequenzen der gegebenen, kapitalistischen Verhältnisse. Aber was nützen dann die Vorstellungen vom Sozialismus, wenn sie doch nicht als Handlungsanleitung dienen dürfen? Gerade soviel wie die religiösen Vorstellungen? Sind denn Religionen tatsächlich Utopien?
Sind Utopien vielleicht Vorstellungen, wie sie die Märchen repräsentieren, die man sich ja auch nicht erzählt, um sie zu verwirklichen, da Märchen prinzipiell aus einer historisch schon vergangenen Zeit berichten. Märchen beginnen mit „Es war einmal…“. Daraus entnehmen wir, dass es nicht nur Utopien des zukünftigen Lebens gibt, sondern auch Utopien des historischen Lebens. Solche Utopien des historischen Lebens von Menschen nennen wir nach dem märchenhaft-phantasievoll umkleideten Phänomen „Atlantis“: Es gab einmal legendäre Städte und menschliche Gemeinschaften, die durch göttliche oder natürliche Fügung nicht nur zerstört wurden, sondern mehr oder weniger spurlos aus der Welt verschwanden. Solche Phänomene faszinieren, weshalb das Schicksal solcher menschlicher Lebenswelten die Phantasie aller Nachlebenden beschäftigt – nicht zuletzt wegen der unterschwelligen Angst der Lebenden, auch das Schicksal von „Atlantis“ zu erleiden. Wäre aber nicht andererseits ein solches Schicksal fast eine Garantie für das Überleben in den Phantasien der zukünftigen Generationen?
Diesen Gedanken finden nicht nur märchenbeglückte Kinder verlockend. Bis heute fasziniert das Vorgehen des Philosophen Empedokles aus Agrigent, der sich „Atlantisieren“ wollte, indem er sich spurlos verschwinden lassen würde – eine zauberhafte Leistung, auf die er gerade durch seine am Kraterrand zurück gelassenen Schuhe aufmerksam machte, das Einzige, was von seiner physischen Existenz übrig bleiben sollte. Das betonte Verschwinden konnte so als eine Form der Vergöttlichung verstanden werden – als geheimnisvolle Selbstauslöschung, die den Nachlebenden auf ewig den interessantesten Gesprächsstoff bieten würde.
Übrigens ist durch die neueste Gesamtinterpretation archäologischer Erkenntnisse die Vermutung gut begründbar, dass von Platon überlieferte „Atlantis“ sei jener staunenswerte minoische Stadtstaat gewesen, der durch den Ausbruch des Santuriner Vulkans um 1.500 vor Christus vom Erdboden verschwand. Die durch den Vulkanausbruch ausgelöste Flutwelle von Santurin habe auch das Zentrum der minoischen Kultur auf Kreta weitestgehend ausgelöscht. Platon berichtet von Atlantis wie von einem Mythos; aber im modernen Verständnis ist ein Mythos urheberlos gewordene Erzählung. In dieser Urheberlosigkeit korrespondiert der Mythos mit der Wahrheit, denn auch für die Wahrheit gibt es keinen Urheber, wodurch ja gerade ihre Geltung über alle einzelnen Aussagenansprüche hinweg belegt wird. Aber naturgemäß fällt es uns ebenso schwer, in weit zurück liegenden Zeiten Aussagen über historische Ereignisse als Wahrheit zu akzeptieren, wie solche über die weit voraus liegende Zukunft. Deshalb nennen wir sie eben Mythos, den Mythos von Atlantis beziehungsweise den Mythos der Insel „Utopia“ – bei sachlicher Übereinstimmung beider Aussagentypen und bei gleichem Status des Aussagenanspruchs.
Im Arp-Museum können wir gegenwärtig dem erneuten Versuch von Jonathan „Empedokles“ Meese folgen, sich zu „Atlantisieren“. Er hinterlässt nicht nur seine Sandalen, sondern eine große Objekthalde im Museum Arp als Rand eines Runds, das Architekt Meier in Gestaltanalogie zu den Eifelvulkankegeln entworfen hat. Die Meese’schen Hinterlassenschaften sollen wir als Spuren eines Verschwindens zu lesen lernen – eines Vergehens, Verwehens und Verdämmerns, wie man das sprichwörtlich von den alten Göttern, den Helden, den Künstlern, den Monstern, den Heiligen, den Propheten und sonstigen Verzückt-Entrückten behauptet, von Fabelwesen, von Engeln, von Bäumen bewohnenden Genien, von Mitternachtsgespenstern, von Furien, von Hexen, von apokalyptischen Reitern, vom Bösen schlechthin, vom Geist des August 1914, von der Vorsehung, vom Weltgeist.
Im Feld der Literatur hat diese Atlantisierung durch Verschwinden, Vergehen, Verwehen mit größter Stimulanz der Phantasie seiner Leser Thomas Bernhard praktiziert. Das Pathos seiner Erzählungen von Auslöschungen, Untergehern, Ausradierten bewegt Künstler und ihr Publikum bis zur sehnsuchtsvollen Erwartung des Weltuntergangs – eine kontraproduktive Ausweitung des Prinzips Atlantis, weil nach dem Weltuntergang niemand mehr da sein wird, die Vergöttlichungsleistung der Verschwundenen zu beraunen. „Wenn wir abtreten müssen, reißen wir eine Welt mit uns“, hoffte einer der dämonischsten Untergeher – wohl gemerkt, eine Welt und nicht die Welt. Folgerichtig ist der von Meese seit einem dutzend Jahren entwickelte Kanon der von ihm durch Atlantisieren, Mythologisieren, Bramabarsieren zum Verschwinden gebrachten Wunschphantasien sehr beschränkt. Und er erfüllt diese dämonische Sehnsucht, Sehsucht, Bildsucht nicht, sondern bringt sie zur Sprache. Das entspricht wohl der Methode des Exorzismus, der als theologisch höchst anspruchsvolle Reformulierung der Wirkungsabsicht der katharsis verstanden werden kann, also der Vorstellung antiker Autoren, man könne und müsse durch Erzählungen von Blendung und Schändung, von Kindesmord und Menschenopfer eine reinigende Wirkung auf das Publikum ausüben, weil es gelte, gerade die düstersten und blutigsten Gewaltphantasien durch ihre Darstellung als prinzipiell unerfüllbare, das heißt verbotene, ins Licht der Erkenntnis zu rücken.
Erkenntnis ist das Gegenteil von Hingabe an das Wünschenswerte, dem sich offensichtlich so viele Splatter-Movies und Ego-Shooter-Spiele bedenkenlos verschrieben haben. Dem Exorzismus, der Austreibung der teuflischen Vorstellung von Untergang als Auferstehung, von Zerstörung als Form der Vergöttlichung, die Richard Wagner als neue Religion stiftete, habe ich auf Kraterhöhen 1984 eine pädagogische, also zivil harmlose Ausdrucksform verliehen. Ich bat die Studierenden meiner Meisterschülerklasse mir ihr Schuhwerk auszuhändigen, das ich dann in den Krater warf, damit die Vergöttlichungssehnsucht in das Schmerzempfinden der lebenden, barfuss bergab gehenden Christenmenschen überführt werde, denn Leiden ist die erkenntnisträchtigste Form der Vermittlung von Unerfüllbarkeit und Darstellbarkeit der Wünsche, Bedürfnisse, Sehnsüchte.
Sprung: Utopischer Optionismus
Atlantis ist für die Vergangenheit, was die Utopie für die Zukunft. Atlantis ist der Name für eine unabschließbare Vergangenheit. Utopie ist der Name für eine nicht erzwingbare Zukunft. Auf jeden Fall etwas gerade durch seine Unerreichbarkeit äußerst wirksames. Aber es ist nicht so unerreichbar, weil es so phantastisch, so märchenhaft, so jenseits aller Erwartbarkeiten liegt. Es ist nicht das Jenseits des vernünftig Kalkulierbaren. Es ist keine absurde Irrationalität – sondern? Mein Lieblingsbeispiel: Bei aller Bescheidenheit kann ich doch sagen, ich hätte im Laufe meines mannbaren Lebens gut und gerne zwanzig Frauen vor den Traualtar führen können, durfte aber der rechtlichen und sachlichen Logik nach jeweils nur eine tatsächlich heiraten. Unter den vielen Möglichkeiten konnte ich jeweils nur eine wählen und sie als Ehebund realisieren. Jeder wird aber verstehen, dass die nicht gewählten Möglichkeiten als solche meine Sicht auf das weitere Leben nicht nur so von ungefähr beeinflussten, sondern in nachvollziehbarer Weise durch die immer wieder nahe gelegte Frage: „Was wäre gewesen, wenn ich mich für eine der anderen 19 Frauen entschieden hätte?“
Ähnliches gilt für die Möglichkeiten, die sich mir eröffneten oder die ich mir eröffnete, einen Beruf zu wählen oder einen Wohnort. Ich hätte gleichermaßen mich für Zürich wie für München, für Hamburg wie für Berlin, für Wien wie für Basel als Lebenszentrum entscheiden können, konnte faktisch aber nur eines wählen, was unter anderem schon durch die Tatsache erzwungen wurde, dass man an seinem Wohnsitz Steuern zu entrichten hat (wer möchte oder kann schon überall wohnen, also steuerpflichtig sein?). Insofern ich für meine wirtschaftliche Zukunft verantwortlich bin, muss ich mich immer wieder für eine der Möglichkeiten entscheiden, durch Kauf von Aktien oder dergleichen wenigstens die hohe Inflationsrate und die zu zahlenden Steuern zu kompensieren. So viele Möglichkeiten mir auch durch kundige Berater eröffnet werden, kann ich mich doch nur für ein paar unter den Hunderten von Optionen (wie die Bankmenschen sagen, die sich durch die sogenannte Finanzkrise alle Optionen selber verbaut haben) entscheiden, um dann regelmäßig festzustellen, wie sehr mich die zwangsläufig nicht gewählten in der Bewertung meiner tatsächlichen Entscheidungen beeinflussen. Eben gerade dieses merkwürdige Verhältnis von nicht gewählten Optionen zu den realisierten Möglichkeiten bestimmt das utopische Denken. Mensch leben nicht nur in der Realität ihrer vier Wände, ihrer ehelichen Bindungen, ihrer Berufstätigkeit oder ihrer Kontostände. Vielmehr leben sie im Horizont der Möglichkeiten, die sie sich eröffnet haben, aber nicht aktualisieren konnten, weil man eben sich jeweils für eine der gegebenen Möglichkeiten konkret entscheiden muss. Wer sich diesen Möglichkeitshorizont als Aura seiner Persönlichkeit nicht zu erschließen vermag, gibt dafür immer wieder sprichwörtliche Gründe an: Heirate oder heirate nicht, du wirst es bereuen! Will sagen: Man kann sich nicht entschließen, sondern begnügt sich kraftlos und willenlos mit dem Status eines Opfers – bestenfalls resignierend-verbrämt mit der scheinbar realistischen Erklärung: Du glaubst zu schieben, wirst aber bloß geschoben.
Zur Entdeckung, dass das utopische Potential in handlungspsychologischer Hinsicht als Optionismus verstanden werden sollte, hat niemand so Entscheidendes beigetragen wie Robert Musil durch seinen Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Mit pietätvoller Reverenz auf eine parallele Position im 19. Jahrhundert, die Sören Kierkegaard darzustellen versucht hatte, bietet Musil seinen Lesern eine Erfahrung, wie sich durch die Konzentration auf eine Erzählung gerade die Orientierung auf möglichst viele andere, alternative Darstellungen entfalten lässt. Jede Konzentration auf die Wirklichkeit, das heißt auf Begrenztheit, Beschränktheit, Widerständigkeit, Inkommensurabilität, eröffnet denknotwendig einen Horizont der Möglichkeiten. Jeder Sinn für das Wirkliche provoziert den Sinn für das Mögliche und jede Verwirklichung einer Möglichkeit ruft den unstillbaren Wunsch hervor, sich auch andere der Möglichkeiten offen zu halten.
Das bezeichnet den Optionismus als wünschbar bedingungslosen Wechsel vom Ausprobieren einer Möglichkeit zum Erproben einer anderen. Für diese Erprobung steht der Begriff „Essayismus“, weshalb Ulrich, der Protagonist des Romans, der „Utopie des Essayismus huldigt“:
„Utopien bedeuten ungefähr so viel wie Möglichkeiten; darin, dass eine Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drückt sich nichts anderes aus, als dass die Umstände, mit denen sie gegenwärtig verflochten ist, sie daran hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Unmöglichkeit; löst man sie nun aus ihrer Bindung und gewährt ihr Entwicklung, so entsteht die Utopie. Es ist ein ähnlicher Vorgang, wie wenn ein Forscher die Veränderung eines Elements in einer zusammengesetzten Erscheinung betrachtet und daraus seine Folgerungen zieht: Utopie bedeutet das Experiment, worin die mögliche Veränderung eines Elements beobachtet wird, die sie in jener zusammengesetzten Erscheinung hervorrufen würde, die wir Leben nennen. (…)“
Das Musil’sche Verfahren der Utopie des Essayismus wendeten eine Reihe von Künstler an, unter denen Max Frisch als Literat und Martin Kippenberger als Bildner vorrangig zu nennen sind – Meese seinerseits gibt die Beispiele Artaud, Balthus, Kubrick und manchen anderen singulären Fall an. Meeses gesamte Entfaltung von Ausstellung zu Ausstellung und vom prä-potenten Aktionismus bis zur routinierten Performance bietet gelungenste Beispiele für Essayismus als Lebensform, in der sich die Zahl der Optionen langsam verringern, weil er sie schon durch Erprobung erledigte. Dafür erweitert sich der Möglichkeitshorizont seines Ausdrucks: Jonathan Meese ist in dem Maße als bedeutender Künstler erkennbar, in dem er mit jeder materiellen oder formalen Realisierung eines Werkes zu verstehen gibt, dass er auch ganz anders gekonnt hätte, dass ihm andere Möglichkeiten der Gestaltung zur Verfügung gestanden hätten und dass viel umfassendere Konzepte durch die konkrete Realisierung als bloße Möglichkeiten ungenutzt bleiben mussten. Das bedeutet: Die Einschätzung des realisierten Werkes ist ganz wesentlich von den notwendigerweise ausgeschlossenen Aspekten des künstlerischen Denkens bestimmt. Wir werden Meeses Atlantis-Arbeit umso höher schätzen, als sie gleichermaßen atlantisch oder utopisch zu wirken verspricht.
Erstaunlich genug, dass wir in unserer Alltagserfahrung ziemlich treffsicher das utopische Potential für die Zukunft und die atlantische Dimension in der Vergangenheit einer Persönlichkeit einzuschätzen wissen, auch wenn wir uns des Öfteren mit dem Diktum schadlos zu halten versuchen, jemand habe ein große Zukunft hinter sich. Das ist genau mit dem nicht erledigbaren, nicht leugbaren Potentials eines abgeschlossenen Lebens gemeint: Das belegt etwa die Wirkungsgeschichte des Werks von Georg Büchner, die erst siebzig Jahre nach seinem Tode beginnt. Und komplementär dazu scheinen Menschen schon durch Eröffnung von Möglichkeiten zu wirken, bevor sie noch irgendeine faktische Leistung erbracht haben.
Seit ungefähr 200 Jahren haben diese Vorstellungen, wie ich über Musil hinaus andeuten möchte, in der Geschichtswissenschaft Berücksichtigung gefunden. Der Name für diese Art von Geschichtsschreibung heißt „Uchronie“. Die Orientierung auf die Bedeutung eines historischen Sachverhalts wird nur tatsächlich begründbar aus dem Horizont der Möglichkeiten, der für die historisch Handelnden überhaupt gegeben war. Gefragt wird nach dem alternativen Verlauf der Geschichte, wenn handelnde Personen sich für eine andere Möglichkeit als diejenige, die sie tatsächlich wählten oder der sie sich anbequemten, entschieden hätten. Uchronie gilt sowohl für die utopische Eröffnung von Möglichkeitshorizonten des vor uns liegenden Lebens wie für den „Atlantismus“ des hinter uns liegenden. „Was wäre gewesen, wenn…“ ist kein müßiges Spiel der Fantasie, sondern die unabdingbare Voraussetzung für die Bewertung historisch-faktischer Geschehnisse. Als historische Wahrheit kann man durchaus die gesicherten Fakten als Daten, Dokumente, Ereignisorte etc. auffassen. Was aber nutzt einem diese Wahrheit des bloß Faktischen? Den Geltungsanspruch solcher Wahrheit kritisieren Uchroniker mit Verweis auf das atlantische und utopische Potential. Was man mit derartigen Wahrheiten anfangen kann oder soll, wird erst durch die Kritik am ehernen Geltungsanspruch der Wahrheit aus dem Geiste der Utopie erfahrbar oder die Kritik der Wirklichkeit aus der Eröffnung von Möglichkeiten.
Ich gebe auch für diesen Sachverhalt ein Beispiel für die missing links zwischen dem Horizont der Möglichkeiten und der konkreter Wahl einer Option: Wer als Kurator eine Ausstellung durch Auswahl einiger Werke zu Stande bringt, kann die Würdigung seiner Leistung logischerweise nur dann erwarten, wenn er seinem Publikum auch die Werke bekannt macht, die er nicht präsentieren will oder kann. Sie sind nämlich die Bedingung der Möglichkeit der tatsächlichen Auswahl. Das Vorzeigen der ausgewählten Werke bedeutet immer das Unsichtbarwerden der Nichtgezeigten, die man aber kennen muss, um die Auswahl zu würdigen. Also führt jede kuratorische Arbeit vor Publikum in die Aporie, auch das zeigen zu müssen, was man nicht zeigen will. Da Ausstellungen realistischerweise nicht doppelt präsentiert werden können als das zu Zeigende und das nicht zu Zeigende, entwickelte ich die sinnvolle Vermittlung von Gezeigtem und Nichtgezeigtem als Besucherschule, die integraler Bestandteil jeder Ausstellung zu sein hat.
Landung weit vor Bestleistung:
Leider ist auch ein ganz anderes Verständnis des Utopischen gängig, dass ich noch anführen, aber auch richtig stellen muss. Wenn die Utopie im buchstäblichen Sinne als „Nirgend-Ort“ verstanden wird, als ein nirgendwo auf Erden lokalisierbarer Ort, dann bezeichnet sie eben eine fiktive Gegebenheit, die romanhaft, fantasievoll erdacht und beschrieben wird, als „Insel Felsenburg“, als „Gelehrtenrepublik“, als Reich der Liliputaner, Yahoos und anderer Fabelwesen oder gar als erträumtes, aber nie erreichbares Paradies mit Südseeanmutung, das man sogar als einen idealen Sonnenstaat zu visionieren vermochte.
Es ist höchst bemerkenswert, wie einerseits der fiktionale Charakter utopischer Visionen herausgestellt wird, man aber andererseits immer wieder dem Verständnis von Utopien als Handlungsanleitungen begegnet. Unvermittelt wird die Unerreichbarkeit der utopischen Vision parallel zu deren Vorbildlichkeit gesetzt, ja, gar zur Planungsmaxime erhoben. Man kann den Eindruck gewinnen, als sei die Planung auf das Nichterreichen des Zieles ausgerichtet, ein Eindruck, den wir sehr häufig von den Bürokratien vermittelt bekommen. Die Planung der Unerreichbarkeit ist auf einer anderen Ebene als die Verhinderung des Erreichbaren verständlich, worin nicht zuletzt die wohlverstandene Rolle der Bürokratie zu sehen ist: Sie soll uns, wie in moderner Version Jenny Holzer formulierte, vor der Erfüllung unserer Wünsche bewahren (protect me from what I want). Man stelle sich vor, wir könnten umstandslos alle unsere jeweils situationsbedingt einleuchtenden Vorstellungen, Wünschen und Bedürfnissen entsprechen, das Chaos wäre komplett, wenn auch nur eine aristotelische Anzahl von Bürgern eines Gemeinwesens, nämlich 20.000 zusammenlebten, geschweige denn, die Abermillionen in jedem heutigen, selbst kleindimensionierten Lebensraum. Die Wohltaten der Bürokratie, jede spontane, plötzliche Orientierung auf immer neue Begehrlichkeiten zu verhindern durch Verstetigung, also durch das Bestehen auf Systematik und Verbindlichkeit, durch Orientierung auf die Konsequenzen des Handelns entsprechen auch unserem Alltagsverständnis: Wir wissen, dass wir uns schützen müssen vor den Genussversprechen der Werbung für Naschwerk, das zwar als Belohnung für erbrachte Leistung ganz sinnvoll ausgewiesen werden kann, aber zerstörerisch und sinnlos wird, wenn Nicht-Leistung sich belohnt.
Das altbackene Auffassung vom Utopischen ist tatsächlich durch die bürokratische Systematisierung der Verhinderung von beliebiger Wunscherfüllung erledigt worden, weil durch Vorschriften vom Typus „Brüssel“, also Standardisierung in der globalen Welt, der Utopos des Nirgendwo im Überall erfüllt wurde und damit eine radikale Veränderung des Verhältnisses von Möglichkeit und Wirklichkeit erzwungen hat: Die alternativen Möglichkeiten unterscheiden sich von den realisierten, also von der Wirklichkeit kaum noch.
Das möge ein Hinweis auf Hotelketten illustrieren, die auf der ganzen Welt das gleiche Architektur- und Designschema für ihre Bauten nutzen, sodass etwa in Singapur oder Berlin, in Chicago oder Oslo, in Kapstadt oder Rio de Janeiro die Kunden besagter Hotelketten sich mühelos, weil nach Gewohnheit in den Hotels zurechtfinden können. Denn die Hilton Hotels in den verschiedenen Städten der Welt sind voneinander kaum unterscheidbar. Inzwischen gelten sogar für Einkaufspassagen, für Malls, für Schwimmbäder, Vergnügungsparks und Wellnesseinrichtungen, für Tankstellen und Industrieparks weltweit die gleichen Architektur- und Designstandards. Alle diese Einrichtungen sind damit zur Geltung gebrachte, das heißt, durch Verwirklichung aufgehobene Utopien, also bestimmbare Nirgend-Orte, weil sie eben überall, das heißt nirgendwo zu finden sind.
Das genau antizipierte der Volksmund mit der Definition von Utopie als Nirgendwo im Überall und der Bestimmung von Uchronie als der nur in jedem Augenblick erreichbaren Erfahrung. Die Utopie der Einheit der Welt erfüllt sich in der Durchsetzung von universalen Standards. Auf der zeitlichen Ebene lassen sich die gleichen Beobachtungen anstellen: Mit bestimmten Ereignissen kann niemals zu einem festlegbaren Zeitpunkt gerechnet werden, außer in jedem Augenblick: Es ist unmöglich, mit dem Zeitpunkt der Katastrophen, der Unfälle, der Erkrankungen genau zu rechnen. Aber auch im Kleinen werde ich zum Beispiel das Ziel der Meditation nicht zum festgelegten Zeitpunkt als Gefühl der körperlichen Entgrenzung, der Selbstvergessenheit, des wunschlosen Glücks etc. erreichen, wenn mir das nicht in jedem Augenblick der Meditation gelingt. Das Gefühl der Zustimmung zu uns selbst und der Welt, in der wir leben, lässt sich nicht durch noch so große Anstrengung auf Dauer stellen, es sei denn, jeder Augenblick wird zur Repräsentanz der Ewigkeit. Nietzsche gab für dieses Verständnis von Uchronie seine Silvaplaner Epiphanie an, das Konzept der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“, das für Bürger der heutigen Welt durchaus ein Wunschziel und nicht eine Horrorvision der Langeweile markiert. Alle Formen der Ritualisierung, mit oder ohne kollektive Anerkennung der Liturgien, bauen auf diese Version des Uchronischen auf: Der Dauer im Wechsel als andauernder Wechsel, den schon Goethe zur Kennzeichnung der Mnemosyne, der Erinnerungskraft aufrief.
Alle Diätetiken, alle Anleitungen zum erfüllten Leben heben auf die Herausbildung der Fähigkeit ab, jeden Moment des Lebens als Verwirklichung des Anspruchs auf Bleibendes verstehen zu lernen. Mit Verweis auf entsprechende ausführliche Darstellungen, die ich in dem Band „Der Barbar als Kulturheld“ unter den Stichworten „Uchronie“, „Utopie, „Verbotener Ernstfall“ gegeben habe, sehe ich das Konzept des Utopischen und des Atlantischen im Verbot des Ernstfalls wirksam. Das bezeichnet die Widerrufbarkeit einer gewählten Option, wie sie heute andeutungsweise bereits bei der rechtlich verbindlichen Möglichkeit gewährt wird, einen Kaufentscheid innerhalb von zwei Wochen rückgängig zu machen.
Das Ziel der Utopie des Essayismus als Lebensform ist es dem zu Folge, möglichst weitgehend Irreversibilität der Handlungsfolgen zu vermeiden. Das ist mit dem Konzept der Offenheit, von der offenen Gesellschaft bis zum offenen Kunstwerk, gemeint. In der Kunst führt das zu einem neuen Konzept der Verbindlichkeit durch die Praxis, ein eben vollendetes Werk mit einem nächsten zu widerrufen und so über die Erzeugung von Differenzen zwischen den Werken eines Autors tatsächlich die Unterscheidbarkeit der utopischen Möglichkeiten zu sichern. Die Möglichkeit entsteht aus der immer gegebenen Widerrufbarkeit eines Aktes durch den nächsten, einer Landschaftsdarstellung durch die nächste. So werden seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Werke zeitgenössischer Künstler entwickelt, wie das des legendären Widerrufungsartisten Picasso oder das des Unterlassungsethikers Duchamp oder das des besagten Kippenbergers, der die wörtliche Übersetzung seines Namens als beständiges über den Haufen werfen jeder erreichten Position zu nutzen wusste. Bei Meese wird die Liturgie der Wiederholung zum Widerruf der Verfalls- und Vermüllungstendenz nach dem ersten thermodynamischen Hauptsatz, wobei er in bewundernswerter Manier auf der Unterscheidung im Ununterscheidbargewordenen, also im Müll besteht; zum näheren möchte ich auch dabei auf meine Darstellungen des Kapitels „Fininvest – Gott und Müll“ im Band „Lustmarsch durchs Theoriegelände“ verweisen.