Mein bisheriges Fazit über die Entwicklung von Kunst und Kultur in den 60er Jahren hatte ich 1984 in dem Band Che Schah Shit (1) veröffentlicht. Ich muß zumindest den Schluß dieses Berichts zur Lage der Nation in jenen Jahren zitieren, damit meine neuerlichen Anmerkungen einen Horizont erhalten: „Andy Warhol formulierte die Tendenzen der damaligen Programmatik wahrhaft meisterlich: ‘Das Schönste an New York ist McDonalds. Das Schönste an Paris ist McDonalds. Das Schönste an Berlin ist McDonalds. In Moskau gibt es noch nichts Schönes’. Es wäre ja auch allzu lächerlich gewesen, sich als pinselschwingender Künstler den Milliarden bewegenden Konsummaschinen entgegenstemmen zu wollen. Campbells Suppendosen mußten ihren Anspruch auch in die hohe Welt der Kultur tragen, wenn sie schon die ganze Welt besetzten. Da durfte auf keinen Fall so getan werden, als sei die Kultur etwas anderes als Kaufhausangebot. Die einzige Möglichkeit, Veränderungen herbeizuführen, lag bestenfalls darin, den Leuten möglichst total und radikal die Konsequenzen ihrer Verhaltensweisen vor Augen zu führen – sie also möglichst schnell mit der ersehnten Schokolade so vollzustopfen, daß sie kotzen mußten.
Kurz, die Pop-Programmatik war affirmativ. Dummerweise hatte der alte Marcuse das noch nicht mitgekriegt und versuchte immer noch, den jungen Leuten jenen Typus von Kulturkritik nahezulegen, den er als junger Mann in den zwanziger Jahren kennengelernt hatte. Und Marcuse veröffentlichte einen alten Aufsatz, in dem er den affirmativen Charakter der Kultur geißelte. Da galt affirmativ als positiv rechtfertigend und zustimmend. Davon konnte in der Pop Art keine Rede sein, obwohl es natürlich genügend Künstler gab, die selig zu sein schienen über die Gelegenheit, mit dem Talent von Plakatmalern und der Haltung von Werbefritzen ins Allerheiligste der Malereigeschichte vordringen zu können: ins Pantheon der allgemeinen Akklamation durch Herr und Gott. Marcuses platte Begriffshülse affirmativ stiftete jedenfalls so viel Verwirrung, daß der philosophisch einwandfreie Begriffsgebrauch unter die Räder geriet. Affirmation ist ja Negation der Negation als erneute Ausgangsposition. Vielleicht hätte man stets negative Affirmation sagen sollen, wenn man die Haltung der Pop Art zu kennzeichnen versuchte. Aber nun ja – inzwischen ist allgemein bekannt, daß der Dienst genau nach Vorschrift die denkbar vollständigste Sabotage des Dienstes ist. Und also haben sogar schon einige Gewerkschafter verstanden, was affirmative Strategie bedeutet – was sie den Pop-Artisten bedeutete. Was an der Pop Art noch heute beachtlich ist, verdankt sie dieser Haltung. Der Rest, vielleicht sogar der überwiegende Teil, ist doch bloß schlechte Reklamemalerei.
Wie es Mary Quant mit der Durchsetzung des Mini zum ersten Mal gelang, dem Unterschichtengeschmack zur Führung zu verhelfen, so gelang es der Pop Art zum ersten Male, dem Unterhaltungsbereich, dem Kitsch, dem Camp, wie Susan Sontag den Kitsch für affirmative Strategen nannte, die führende Rolle in der effektiven Kritik an der Gesellschaft aufzunötigen. Der Kulissenzauber der Unterhaltungsindustrie ist durch die Pop Art zum Enthüllungskunststück verwandelt worden, wie es sich Brecht oder Kracauer oder Benjamin vielleicht auch schon für die erste Phase der Massen-/Konsumgesellschaft Ende der zwanziger Jahre hatten vorstellen können. Diese Verwandlungs- und Enthüllungskunststücke verlangten die Bereitschaft, nicht mehr an totem Material zu kleben. Weg mit dem Zeug, das uns einreden wollte, aus sich heraus kostbar, wertvoll zu sein. Noch besser, gar nichts erst haben zu wollen, was nicht nur Instrument, nur Mittel ist. Die angestammten Verlaufsformen von Pop-Aktionen waren das Happening und das Fluxus-Konzert. Geschehnisse ohne Rest, ohne Kulturmüll, der auf die Museumsdeponie befördert werden mußte. Das Museum selbst hatte zum Kaufhaus zu werden, eine Durchlaufstation, ein Umschlagplatz für Lebensmittel und Alltagspraktika.
Dennoch berührt es merkwürdig (vor allem die damaligen Attraktionsstars), daß tatsächlich nichts übriggeblieben ist, weder im Designbereich noch in der Architektur. Es gab Wegwerfmöbel aus Preßpapier. Damals waren wir restlos erfüllt vom subversiven Geist der Zustimmung; er galt geradezu als alleiniger Maßstab. Scheel wurde angesehen, wer möglicherweise darauf spekulierte, seine Werbemalerei im Gewande der Kulturrevolution durch Pop zum Rembrandt-Ersatz werden zu lassen. Es gibt kein Pop-Design für Möbel und Architekturen über das hinaus, was in Las Vegas und auf Jahrmärkten, in Fernsehunterhaltungssendungen und auf dem Theater an Kulissenzauber entfaltet worden ist. Nichts davon blieb als schlechte Durchschnittsmalerei von Künstlern, die gar keine Pop-Artisten waren und eigentlich auch nur akademische Maler sein wollten. Nichts blieb, alles löste sich in Aktion auf, vor allem in die Aktion der Studentenrevolution, in den Vereinigten Staaten, Frankreich, Italien und der Bundesrepublik. Nichts blieb, und das ist ein Triumph, denn es bezeugt doch, wie wirksam die Pop-Programmatik gewesen ist.“ Soweit die damalige Abrechnung. Meine Feststellung, daß nichts blieb, hat einigen Widerspruch erregt. Die einen meinten, daß man ja wohl nicht Ausstellungen über so entmaterialisierte Kunstpraktiken wie Fluxus, Action Teaching und die Lidl-Akademie zusammentragen könne, wenn angeblich nichts geblieben sei. Die anderen meinten, man müsse aus der Feststellung, nichts sei geblieben, das Urteil ableiten, die besagten Kunstpraktiken seien nicht museumswürdig geworden, weil sie eben doch nur von minderer Bedeutung gewesen seien. Darauf ist zu antworten: Meine Feststellung, daß nichts geblieben sei, war nicht klagend gemeint, nicht bedauernd; sie sollte vielmehr triumphal verstanden werden. Triumphal deswegen, weil die programmatischen Auseinandersetzungen der 60er Jahre auch heute noch nicht überholt sind. Im Gegenteil, wir drücken uns mehr denn je vor den Einsichten, denen sich damals schon sehr viel mehr Menschen als heute zu stellen wagten, obwohl doch inzwischen die Probleme dringlicher sind als sie es damals waren.
Der Kunstmarkt explodiert, „interessante“ Ausstellungen folgen einander bis herab zur Kreisstadtebene in solcher Geschwindigkeit, daß selbst Leistungsfanatiker unter den Besuchern den rein physischen Belastungen des Kulturlebens nicht mehr gewachsen sind. Die Klagen über das unverbindliche Kulturgetue sind herzzerreißend: Je mehr dickleibige Kataloge als Kaufanreize produziert werden, desto geringer die Chance des einzelnen Besuchers, noch einen Überblick über die durchaus interessanten Themen zu gewinnen; je mehr Kunstberater, desto unglaubwürdiger die Beratung, weil man die vielen angeblichen Experten nicht mehr durch persönliche Kenntnis einzuschätzen vermag; je dicker die Ausgaben der aktuellen Kunstzeitschriften, desto schneller werden sie durchblättert, ganz wie die Werbebroschüren aller anderen Branchen, die einem ins Haus flattern.
Die ästhetische Macht war im wesentlichen auf die Massenmedien übergegangen. Sie lag in den Händen von Journalisten, von Werbetreibenden, von Unternehmern, von Produkteerfindern etc. Das richtig zu verstehen, es zu akzeptieren und aufzuarbeiten bedeutete im Grunde, etwas in Gang zu setzen, was scheinbar gegen jede Modernität sprach, und das wir ja auch als heutiges Problem noch mit uns rumschleppen.
Natürlich hatte man mit diesen Problemen, wenn auch in abgeschwächter Form, in den 60er Jahren zu tun. Gerade deshalb aber sind die Programmatiken der 60er Jahre so interessant und aktuell. Im Kern hatten die damaligen Aktivitäten der Künstler, der Kulturpolitiker, der aktivistischen Studenten, der Kommunegründer und Alternativkulturler eines gemeinsam: Sie wollten eine grundsätzlich andere Einstellung der Aktiven wie des Publikums zu den Phänomenen der Kultur erreichen. Zum einen sollte diese nicht mehr als Erfinderin feiertäglicher Überhöhungsrituale beschworen, sondern in das Alltagsleben integriert werden; zum anderen hoffte man, Kultur nicht mehr als normativen Kanon geistig-seelischer Bildungsexerzitien ansehen zu müssen, sondern ihr gegenüber Forderungen zu stellen, die sich aus den Problemen des zu bewältigenden Lebens ergaben. Diese beiden Einstellungen zur Kultur lassen sich mit den damaligen Programmnamen Ästhetik in der Alltagswelt und Emanzipation der Wünsche kennzeichnen. Der Grundtenor von Ästhetik in der Alltagswelt lautete: Was nützen die schönsten Kunstwerke in Museen, wenn wir in der Rasterarchitektur der Funktionärsmoderne eingesperrt werden? Was nützt alle Phantasie der Architekten, wenn sie der kommerziell motivierten Zerstörung unserer Städte faktisch nicht entgegenzuwirken vermag? Was soll uns der große literarische Entwurf, wenn wir als kümmerliche Einzelexistenzen ohne Biographie, ohne Entwicklungsanspruch dahinvegetieren? Der Tenor der Emanzipation der Wünsche lautete: Wir leben nicht bloß, weil wir geboren wurden, und wir leben nicht unter Bedingungen, wie sie nun einmal gegeben sind, sondern wir leben auf ein Ziel hin und versuchen, für dieses Leben Bedingungen zu schaffen, die es fordern. Man mag über die Nennung der Ziele (zum Beispiel als Selbstverwirklichung, Entfaltung der Persönlichkeit, Emanzipation) spotten, so viel man mag – sobald die Spötter ihre Ziele benennen würden, käme dabei, aufs Ganze gesehen, auch nichts anderes heraus als das abenteuerliche Streben nach Glück (seit der amerikanischen Verfassungsdeklaration); die Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit (die Kant analysierte); Selbstverwirklichung durch schöpferische Arbeit (eine Marxsche Maxime) und das Recht auf sogar destruktive Phantasien sexueller oder intellektueller Kraft (wie sie von de Sade, Baudelaire, Nietzsche und Freud entdeckt wurden).
Was die 60er Jahre prägt, und 68 steht dafür als Synonym, ist eine Form der Entpersönlichung, vielleicht sogar der Enteignung der Person des großen Dichters, des Literaten, des Architekten, des Gestalters: in der Weise, daß aus dieser Art des Abstandnehmens, diesem langsamen Urheberloswerden seiner Zeichnungen oder Bilder, seiner Aussagen sich die Möglichkeit eröffnet, das, was er zu sagen hat, auch jedem anderen als dessen eigene Form der Aussage zu ermöglichen. Also nicht, wie im neunzehnten Jahrhundert, die Einmaligkeit einer Form der Präsentation, sondern ganz im Gegenteil, eine Form der Nachahmbarkeit, der Übernehmbarkeit zu bieten, die allerdings von vielen Künstlern als Enteignung verstanden wurde. Wenn wir an Leute wie Wolf Vostell denken, dann haben wir im Ohr, wie sie jeden Tag herumtelefonierten und sich darüber beklagten, sie seien von den Studenten auf der Straße, von den demonstrierenden Massen schon wieder künstlerischer Ideen enteignet worden. Denn alles, was sie in mühseligen Einzelaktionen entworfen, an Konzepten hervorgebracht hatten, wurde jetzt auf der Straße als urheberlos gewordene Aussage, eben als Mythos, praktiziert. Denken Sie nur an ganz einfache Bilder: Menschen werfen sich auf die Straße und muten damit wie Opfer eines kriegerischen Angriffs an. Dieses Motiv war in theatralischen Aktionsformen entwickelt worden und ließ sich ab 1965/66 in allen Formen der gesellschaftlichen Aktivität wiederfinden – gegen den Verkehrstod, gegen Vietnam, gegen die Unwürdigkeit der Städte etc. Das ist ein zentrales Phänomen der 60er Jahre: daß etwas, was vorher den Künstlern gehörte, den Aktivisten, den Spinnern, den Einmaligkeits- und Ausnahmefanatikern, nun plötzlich insofern Allgemeingut war, als es die Sprache des öffentlichen Lebens wurde. Das ist es, was die 60er Jahre auszeichnet und sie in einer bestimmten Weise einmalig erscheinen läßt.
Wir hatten also eine präzise Vorstellung von der Art der Tätigkeit als Künstler, die darauf ausgerichtet war, nicht mehr in unseren eigenen Werken zu verenden, auch nicht in den Entsorgungsanlagen für Kunst: in den Museen. Denn uns war klar, daß das Museum kaum noch etwas von der Müllhalde unterscheidet. Diese herkömmliche Kulturinstitution zur Bewahrung der Intentionen auf persönliche Bedeutung und Größe eines Menschen für die Zukunft schien noch aus anderen Gründen (als der bloßen Beschränktheit der Erinnerungskapazität) sinnlos geworden zu sein, nämlich aus der Tatsache heraus, daß die Adressaten unserer künstlerischen Tätigkeit nicht die zukünftig lebenden Menschen sein würden, daß wir also überhaupt keine zukünftigen Menschen als Adressaten unseres Tuns mehr annehmen konnten, sondern ausschließlich die mit uns unmittelbar lebenden Zeitgenossen. Die Dimension des künstlerischen Schaffens hatte sich damit vollständig verschoben.
Für die Kunstpraxis der 60er Jahre wurden Ästhetik in der Alltagswelt statt im Museum und Emanzipation der Wünsche statt Einübung im Bildungskanon in zwei Punkten bedeutsam. Wer der Kultur keine Sonntagsfeiern, sondern die Bearbeitung von Alltagsaufgaben abverlangt, muß die starren Grenzen zwischen Kunst, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Erziehung aufgeben – selbst dann, wenn dabei die grundsätzlich garantierte Freiheit der Kunst zu Schaden kommt. Wer es wagt, seine bisher als Geheimnis unterdrückten Phantasien ohne Vorbehalt kennenzulernen, muß selber ein hohes Maß an künstlerisch/wissenschaftlicher wie intellektueller und seelischer Arbeit leisten – er kann sich also nicht mehr der Kultur gegenüber bloß rezeptiv verhalten und in der Rolle des passiven Betrachters von Exhibitionen anderer verharren. Das bisherige Publikum mußte also selber zum produktiven Akteur werden; und die mit Spezialwissen gepanzerten Ökonomen, Politiker, Künstler, Psychologen hatten sich in die Arena der ihnen bisher fremden Disziplinen zu wagen.
Natürlich erschienen diese Haltungen und Einstellungen den etablierten Profis als die Entfesselung eines naiven Dilettantismus – und dieses Urteil hatte, von ihrem Standpunkt aus, durchaus seine Berechtigung. Leider vergaßen sie dabei, daß ihre Haltungen ja gerade zu der Misere geführt hatten, aus der man sich zu befreien versuchte. Zudem hätten sie sich ja mit wissenschaftlichen und sonstigen einwandfreien Methoden auf die Theorien des Dilettantismus einlassen können, die, von Goethe initiiert, für die Werke so unterschiedlicher Kulturgrößen wie Friedrich Theodor Vischer, Friedrich Nietzsche, Georg Simmel und Bertolt Brecht oder die Werke so unterschiedlicher Künstlergruppen wie der Dadaisten, der Surrealisten, der Art Brut oder der Pop-Artisten bedeutsam wurden. Selbst das ehrwürdige Universitätsprogramm des Studium generale ist im Grunde auf die Einsicht in die kulturschöpferische Kraft des Dilettanten gegründet (vielleicht nannte man ihn deshalb in den 60er Jahren lieber einen Generalisten).
Auch von einer anderen Seite hätte man den alternativen Zielsetzungen eines zeitgemäßen Kulturverständnisses entgegenkommen können. Schon lange postulierten Künstler, daß ihnen der Prozeß der Arbeit wichtiger sei als dessen Resultat in Gestalt auratisch strahlender Werke. Die Psychologie hatte herausgearbeitet, um wieviel wichtiger Ideen und Obsessionen für schöpferische Menschen sind als die bloß besitzergreifende Aneignung der vorgegebenen materiellen Welt. Allerdings hatte sich auch zeigen lassen, daß Ideen und Vorstellungen nur über materielle Verkörperungen thematisiert werden können. Diese Grundvoraussetzung scheint ein wesentlicher Teil der Kunstproduktion und Kunstrezeption der 60er Jahre nicht hinreichend berücksichtigt zu haben; man erhob den Vorwurf, die Fixierung auf Ideen und Konzepte sei folgenlos geblieben, weil man die Werke nicht zu schaffen verstand, durch die sich jene Ideen und Konzepte zu Bewußtsein bringen ließen. Wenn das auch richtig sein mag – die seither wieder bombastisch auftrumpfende Malerei, Skulptur und Musik haben es noch viel weniger vermocht, ihre Themen im öffentlichen Bewußtstein zu verankern. Im Gegenteil, durch die ökonomische Wertsteigerung des materiellen Gebildes Kunstwerk wurden die in ihm thematisierten künstlerischen Konzepte und Kriterien sinnvoller Rezeption weiter abgewertet.
Wenn man sich über eine Zeit – die 60er, die 70er, die 80er Jahre – orientieren will, dann orientiert man sich eben an etwas wie dem Zeitgeist, an diesen undefinierbaren, merkwürdigen Vorgaben, die in einer bestimmten Zeit offenbar alle Menschen beherrschen wie eine Epidemie, wie eine Krankheit, wie eine Manie. Im Grunde genommen ist der Zeitgeist nichts anderes als die Erwartung, die die Menschen einer Zeit an die Zukunft haben. Zwar machen sich die Befürchtungen und Ängste wie alle interessanten Aspekte der Menschen nur im Hinblick auf die Zukunft geltend, aber sie wirken sich nicht in der Zukunft aus, sondern in der Gegenwart.
Gerade weil von den wichtigen Überlegungen zur Ästhetik in der Alltagswelt und zur Emanzipation der Wünsche aus den 60er Jahren nur bruchstückhafte Spuren und Objektruinen übriggeblieben sind, haben die damaligen Überlegungen heute zumindest im Unterbewußtsein eine derartige Kraft, daß man behaupten kann, ihre Wiederentdeckung sei zu erwarten. In diesem Sinne sind Ausstellungen zur eigentlich nicht ausstellbaren Kultur der 60er Jahre wichtig und wirksam: In der Rekonstruktion jener Zeit werden heutige Probleme sichtbar gemacht, die wir aus vielen Gründen nur als Projektion in die Vergangenheit ertragen. Also: Nichts blieb übrig als unsere damaligen Wünsche und Zielsetzungen, gerade weil sie nicht in prächtigen Werken von Museumsrang scheinbar ein für allemal erfüllt worden sind. Gerade die unerfüllten Wünsche aber haben die größte Wirksamkeit. Die Kultur der 60er Jahre lebt in dem fort, was wir als unerträglich, unverbindlich und überfordernd gegenwärtig empfinden.
(1) Haben wir gelebt? Op, Pop und Hopp auf dem Laufsteg durch die Wohnlandschaft der 60er Jahre. In: CheSchahShit, die 60er Jahre zwischen Cocktail und Molotow. Berlin 1984, Seiten 236-243.