Das Kaufhaus repräsentiert die Ganzheit der Welt
Von den Zivilisationsagenturen Hotel, Akademie, Diplomatie und Fernhandel wissen wir, dass sie auf das Erzeugen von Differenzen ausgerichtet sind. Denkt man an sie als Tätigkeiten, so stellen sie nicht die platte 1:1 - Übersetzung in der Parallelität von Plan und Wirklichkeit dar, sondern arbeiten mit der Differenz zwischen dem Plan und der Ausführung. Beispielhaft für diesen Sachverhalt ist das Kunstwerk, insofern es selbst die Gestalt der Differenz als Ruine ausbildet. In der Geschichte der Entwicklung der Zivilisationsagenturen spielen erst Fernhandel und Diplomatie, dann Kunst und Wissenschaft eine entscheidende Rolle. Auch der englische Garten, z.B. in Wörlitz, ist eine Zivilisationsagentur reinsten Wassers. Ebenfalls in diese Reihe gehört die Entwicklung des Hotels, beflügelt von den Engländern der Grand-Tour-Idee ab ungefähr 1820. Seit den 1880er Jahren gewinnt das Kaufhaus an Bedeutung. Haben zwar alle Kulturen einen eigenen Begriff und eine eigene Auffassung von der Welt als Ganzer hervorgebracht, so rechnen sie dennoch zur Welt immer nur das, was sie selbst sehen. Mit dem Warenhaus wird endlich eine Totalität geschaffen, in der auch all das vorhanden ist, was überhaupt nicht bekannt ist, d.h. was die kulturelle Erwartung zu überschreiten vermag. Das Warenhaus präsentiert die Ganzheit der Welt jenseits der eigenen kulturellen Erwartungen und repräsentiert das, was zur Ganzheit gehört. Damit etabliert sich das Zivilisationsmodell Kaufhaus als die erste Realisierung der Totalität, auch im philosophischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und architektonischen Sinne des Begriffs des Ganzen. Das Kaufhaus ist das Ganze der Welt, das nicht nur meine Welt, sondern alle Welt ist. Wenn ich kulturell legitimiert bin, erwarte ich nur das, was zu meiner Kultur gehört. Im Kaufhaus habe ich zu erwarten, was ich nicht erwarten kann. Also das, was ich sehen lerne, ohne es zu wissen. Ohne zu wissen, kann man jedoch nicht sehen. Wie lernt man im Kaufhaus zu sehen, ohne etwas zu wissen? Für diese Zusammenhänge hält der Kapitalismus ein Modell bereit.
Der Optionismus als Realisierung von Freiheit
In der Demokratie ist der Begriff der Freiheit entwickelt worden. Freiheit bedeutet, nach allen Richtungen seiner Willkür gleichermaßen folgen zu können, also auch die ganze Welt zu durchstreifen, überall hinreisen zu können, keine Grenzen zu kennen. Diese Freiheit im Sinne einer Erfahrung der Totalität der Welt wird im Kaufhaus im Modus einer Freiheit vorgeführt, die immer zuallererst eine Wahlfreiheit ist. Im Kaufhaus kann ich zwischen A, B, C, D, E und F wählen. Obschon es zahlreiche Möglichkeiten der Wahl gibt, bleibt es dabei, dass immer nur eines gewählt werden kann. Es gibt natürlich Personen, die behaupten, dass sie zwar eigentlich nur ein paar Schuhe benötigen, aber da sie unfähig sind, sich zu entscheiden, wählen und kaufen sie unter den hundertfünfzig angebotenen Modellen wenigstens zehn, um dann zu Hause den Entscheidungsvorgang an den Schuhkartons nachzuvollziehen. Diese Entsprechung von Ganzheitserfahrung der Welt jenseits meiner Erwartungen und Freiheit ist das, was eigentlich die kapitalistische Entwicklung kennzeichnet. Denn sie hat einen neuen Modus der Entscheidung entwickelt. Gemeinhin gehören die Entscheidungstheoretiker zu den Konservativen. Jemand wie Carl Schmitt, ein Widerpart der Demokratieentwicklung, hat übersehen, dass es eine kapitalistische Form der Vermittlung von Entscheidungsprozessen gibt, die man Optionismus nennt. Das Kaufhaus ist eine philosophische Darstellung der totalen Welterfahrung jenseits der eigenen Kultur, die den Freiheitsbegriff in der Freiheit der Wahl verwirklicht, und zwar unter der Bedingung, dass die Option offen bleibt. Sollte ich etwa heute die Entscheidung treffen, ein Taschentuch zu kaufen, so kann ich mich ebenso auch morgen entscheiden, ein anderes zu kaufen, denn es ist immer noch im Warenregal als offen stehende Option. Das Kaufhaus garantiert mir die Option, dass ich morgen auch ganz andere Taschentücher kaufen kann. Allerdings muss ich immer irgendein Taschentuch kaufen, denn ich kann ja nicht alle kaufen. Wenn ich das täte, wäre ich ein Psychopath und würde in die Psychiatrie eingewiesen, da ich die Einsicht Adornos missachtet habe, „Das Ganze ist das Unwahre.” (1) Als Psychopath kommt man leicht zu der Aussage, dass das Ganze nicht nur das ist, wozu es noch ein größeres Ganzes gibt, sondern dass es auch noch „das Mehr“ gäbe. In allen kapitalistischen Staaten der westlichen Welt sieht man allerorten die glorreiche Verheißung auf Schildern angekündigt: „Alles vom Fisch und mehr“, „Alle Spielsachen und mehr“, „Alle Blumentöpfe und mehr“. An allen Geschäften ist also eine Bewegung vermerkt, die der Totalität noch das Mehr hinzufügt. Was aber ist das Mehr von Allem, wenn nicht die offene Option, die der Kapitalismus realisiert? Im Gegensatz dazu steht der Konservative, der heute sich für diese eine Frau entscheidet, dann aber auch für vierzig Jahre an ihr hängen bleibt. Dagegen meldet der moderne kapitalistische Optionismus eine Wahl an, die heißen kann, dass ich heute diese Frau, morgen aber vielleicht schon deren Schwester wähle. Ebenso hält sich das moderne kapitalistische Girl die Option auf Reduplizierung offen. Aber dann meldet sich die Natur mit ihren Ansprüchen an und erzählt der Frau etwas von der sich einschränkenden Option auf Nachkommen. Sobald die Frau vierzig ist, ist die Option erloschen. Auch das Kaufhaus hat als Institution der Zivilisierung von Freiheit durch Entscheidungsfreiheit im Modus der offenen Option bestimmte vorgegebene Grenzen.
Das Kaufhaus ist das limbische Regulativ des Kapitalismus
Die entscheidende Frage für den Kapitalismus lautet: Wie werden Optionen gelöscht? Die Antwort erhält man im Kaufhaus. Im Durchgang durch die Esswarenabteilung ermöglicht mir das Kaufhaus die alte Erfahrung des Paradiesmodells. Am Paradiesmodell wird anschaulich, dass wir nicht in unseren Klamotten, Schuhen oder Häusern leben, sondern dass wir jenseits dessen leben, was wir mit Optionen offen halten können, denn wir haben bereits in Vorstellungen und in Gedanken unseren Aufenthalt genommen. Im Angesicht der Konfrontation mit der Totalität des Ganzen und dem Mehr erzeugt das Kaufhaus beim Käufer einen Ekeleffekt, der von der Natur aus vorgesehen ist. Das Kaufhaus realisiert das limbische Regulativ des Kapitalismus. Das limbische Regulativ ist eine Zwischenhirnregion, die das Verhältnis von Attraktivität und Abstoßung, von Anziehen und Abstoßen, von lustvoll Schokolade Essen und Wiedergeben reguliert. Isst jemand wahnsinnig gierig Schokolade, besorgt nach ein, zwei, drei Tafeln, je nach kulturellem Training, das limbische Regulativ die Ablösung vom Attraktor. Das Kaufhaus als kapitalistische Zivilisationsagentur organisiert den Attraktor und zugleich den Modus der Entscheidung als Wahlmöglichkeit, unter dem Vorbehalt der frei bleibenden Option, morgen etwas anderes zu wählen. Dies geschieht aber immer nur bis zu einer bestimmten Schwelle des Ekels, der Abwendung. Im Angesicht der Vielzahl an Zumutungen, der Totalität aller Waren, organisiert das Kaufhaus selbst noch den Ekel vor diesen Zumutungen. Alles, was unser Vorstellungsvermögen, unser Urteil und unser Gefühl übersteigt, zwingt uns zur Ablösung. Diesen Effekt verdanken wir dem Kirchgang in die Kathedralen des Kapitalismus, denn im Kaufhaus vergegenwärtigen wir die Befreiung vom ewigen Attraktor unserer Wünsche. Durch die Entkopplung von der Welt der Wünsche sind wir nicht mehr ewig die Sklaven unseres Wollens. Wir müssen nicht mehr wollen, da ohnehin alles ewig da ist. Während der Passage im Kaufhaus trifft man die Entscheidung, sich überhaupt nicht entscheiden zu müssen, da die Ware übermorgen noch anzutreffen ist. Stattdessen lernt man, sich zu reinigen und zwischen Attraktion und Ekel hindurchzusteuern. Man wird gewissermaßen asketisch von der Notwendigkeit befreit, ständig sich mit Waren voll zu stopfen, weil sie morgen nicht mehr da sein könnten oder weil es sie nur einmal gibt. Am Ende ist ein nackter Mann der König des Kaufhauses, der im Kaufhaus durch die Herrenabteilung marschiert und alles mit dem Hinweis an die Dame kauft: „Ich brauche es nicht.” Dies ist die eigentliche zivilisatorische Aufgabenstellung des Kaufhauses.
Askese als kapitalistischer Leistungssport.
Ist das Kaufhaus wirklich die Befreiung vom Terror der Wünsche? In einer Mangelgesellschaft nimmt man, was man kriegt. Die Leute stellen sich an, nicht wissend, was es geben wird; doch ist es allemal kostbar, weil alle anstehen. Der gesamte Terror der Wünsche und Erfüllungsverlangen wird in der Agentur der Zivilisierung des Kapitalisten parademäßig durchexerziert. Durch Baseler Großkapitalisten habe ich bei Einladungen verstehen gelernt, warum sie bloß Wassersuppe und zwei Stück Brot zu sich nehmen. Sie wollten demonstrieren, dass zu ihnen gehören bedeutet, dass man in der Lage ist, aus Freude verzichten zu können. Damit demonstriert man, dass man ein zurechnungsfähiger Mensch sein kann, der nicht mehr von seinen Wünschen terrorisiert wird. Möchte man also zur Oberschicht sich zählen dürfen, muss man erst die Askese der Bedürfnislosigkeit lernen, aber nicht als Terror der Religionen, sondern als Ausdruck der Freiheit von ihnen. Ein großer Kapitalist, Hubert Burda, nahm mich an die Hand und führte mich durch alle Luxusgeschäfte, vorbei an großen Bergen Kaviar. Von dem Gedanken beherrscht, einmal so viel Kaviar zu essen, wie überhaupt denkbar, aß ich immer weiter, aber – wie furchtbar! – Es ging nicht. Nunmehr kann ich Gold, Schmuck, Edelsteine, Kaviar, Wurst und Lachs in Würde entbehren und Souveränität unter Beweis stellen, indem ich es nicht benötige. Der Kapitalist, vor allem derjenige hohen Ranges, macht selbst niemals den Terror der Waren mit, den er anderen anbietet. Denn im Kaufhaus als Zivilisationsagentur lernen wir, uns vom Terror der kleinbürgerlichen Wünsche zu befreien. Hat ein Kleinbürger nur wenig Geld, gibt es nur heute die Gelegenheit. Dann ist der Druck so groß, dass man nur noch zugreift und ununterbrochen auf der Jagd ist. Dann ist man aber auch weit entfernt von demjenigen paradiesischen Zustand, der Souveränität ausmacht. Das Paradies verheißt eben nicht, soviel fressen, wie man will, sondern das Paradies ist die Fähigkeit, auf das Fressen verzichten zu können. Aus Berlin stammt die große philosophische Schule des Kabarettisten Wolfgang Neuss. Der lehrte Askese als kapitalistischen Leistungssport. Er saß da als alte Squaw und hat den Leistungssport des Verzichts als Höhepunkt des Kapitalismus gefeiert. Sogar auf seine Zähne hat er verzichtet. Mit seiner Schule ist er durch die Luxusabteilung des KDW gegangen. Als wir heraus kamen, hatten wir das souveräne Gefühl der Befreiung, nachdem uns der geschickte Neuss wechselseitig verführt hatte und uns reinlegen wollte. Aber wir haben uns als ganz souverän erwiesen. Ich habe ihm dann 1963 geschildert, dass ich 1957 schon mit dem Programm „Dichter ohne Werk” angetreten bin: Ich bin ein so souveräner Künstler, dass ich sogar auf das Werk verzichten kann. Das habe ich 1957 veröffentlicht und dann die Bewegung „Künstler ohne Werk, Künstler ohne Attitüde, Künstler ohne Bestätigung im Künstlerdasein” eingeläutet. Diese zivilisierte Haltung ist das, was das Kaufhaus im Sinne des Kapitalismus und die betreffende Haltung des Optionismus ermöglicht. Die Frage des Kapitalismus lautet: Wie entstehen und wie löschen wir Optionen? Neue Optionen werden permanent durch das Artefaktschaffen, durch das Handeln in der Welt sowie durch das Löschen von anderen hervorgebracht. Das Löschen der Optionen heißt „Zerstören”, das Schaffen der Optionen heißt „Kreativität“. Den Kapitalismus zeichnet die schöpferische Zerstörung, die Einheit von Entwickeln und Zerstören, aus. Schumpeters Wirtschaftstheorie des Kapitalismus beruht auf genau diesem Moment. Schumpeter führte 1911 das Künstlerbeispiel für die Unternehmer ein und entwickelte 1942 in einer Schrift „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“, die Dialektik der schöpferischen Zerstörung in der Wirtschaft. (2) Das Kernproblem dieser Erfahrung ist das Leben in den Optionen. Im Lateinischen tritt es klarer zu Tage: Wenn man de potentia sagt, bezeichnet man damit die Möglichkeit, aus der Potenz heraus zu agieren, womit zugleich die Erfahrung des modernen Menschen erfasst ist. Eine systematische Durcharbeitung dieses Themas vollzieht der Schriftsteller Robert Musil. Er beschreibt in seinem gleichnamigen Roman den modernen Menschen als „Mann ohne Eigenschaften”, der nie zwischen den Optionen entscheidet, sondern der nur im Rahmen der bestehenden Optionen handelt. Er ist als Mensch das, was der Horizont seiner Möglichkeiten wäre, was er wählen könnte, ohne es je zu wählen. Musil beschreibt diesen Zeitgenossen des Kapitalismus als Figur in der reinen Potentialität, also im Horizont der Möglichkeiten. Originär Musilscher Prägung ist das Leben mit dem Möglichkeitssinn, der sich analog zur Wirklichkeit gestaltet. (3) Jeder junge Mann und jede junge Frau sind die Träger des Optionismus. Einem jungen Menschen glaubt man, dass er noch viele Möglichkeiten vor sich hat. Besucht dieser nun das Kaufhaus, sieht er in jedem T-Shirt, das er kauft, die fünfzig anderen, die es auch gibt, die er aber nicht gekauft hat. Mit dem einen gekauften, meint er aber auch alle ungekauften T-Shirts. Indem er das gekaufte T-Shirt trägt, zieht er gleichsam fünfzig T-Shirts oder fünfzig Ideen oder fünfzig Gerüche übereinander an, gewissermaßen als „immaterielle mementos“ à la Proust.
Der Humanismus als Geschichte des Unterlassens
Nachdem die erste Ungeheuerlichkeit des Kaufhauses die Repräsentation des Begriffs der Totalität jenseits der eigenen kulturellen Erwartung gewesen ist, war sie als nächstes eine Agentur der Zivilisierung. Es fungierte als gesellschaftliches limbisches System, als ein Regulativ, das Attraktion und Abstoßung gleichermaßen produziert. Darüber hinaus entspricht es dem Konzept eines Trainings für das Leben in der Option, wobei Askese als Leistungssport, Verzicht und Unterlassen als entscheidende Arbeitsformen betrieben werden. Die kapitalistische Logik funktioniert, wenn man nicht nur bewirtschaftet, was man hat, sondern das bewirtschaftet, was man nicht hat. Dabei gilt es das Vermögen zu entwickeln, alles zu kapitalisieren, was es nur als Vorstellung, als Möglichkeit oder als Option gibt. Der Kapitalist erzeugt Mehrwerteffekte, indem er an ein reales Objekt unendlich viele virtuelle hängt, die als bloße Möglichkeiten daran geknüpft sind. An der modernen Architektur der heutigen Zeit sehen wir, dass jeder realisierte Entwurf für sich genommen nichts wert ist, außer wenn er an das erinnert, was man alles noch hätte bauen können, aber nicht gebaut hat. Vor moderner Architektur stehend, spricht man zu sich: „Schade, was hätte man da bauen können.” Ich glaube, dieser Effekt ist die Funktion moderner Architektur. Auf diese Weise wird zugleich die kapitalistische Geschichtsschreibung eingeführt und nur zwei historische Figuren wissen das, die eine ist Karl Marx und die andere bin ich. Wir beide haben erkannt, dass nämlich die kapitalistische Geschichte eine Geschichte des Unterlassens und eine Geschichte des Nichtgeschehens ist, parallel zur Geschichte des Geschehenen. Denn für den Kapitalisten, der Optionen bewirtschaftet, ist ja das Nichtgeschehene, das, was sich nicht ereignet hat, genauso wichtig. Am Beispiel polizeilicher Maßnahmen im Zuge von Verhandlungen mit Terroristen sieht man deutlich den kapitalistischen Umgang mit dem Nicht-Geschehenen. (4) Die dabei stattfindende kapitalistische Regulierung ist dann erfolgreich, wenn über sie gesprochen wird, obschon der Terror gar nicht stattgefunden hat und man sagen kann, dass der Terror nicht stattgefunden hat, weil wir ihn ja verhinderten. All der Terror, der nicht stattfindet, das was wir Angstphantasmen des Terrors nennen könnten, bildet tatsächlich die kapitalistische Gegenwart. Jeden Tag ist in der Zeitung zu lesen, wie groß die Gefahr ist, wie groß die Möglichkeit ist, dass etwas passiert. Aber durch die kapitalistische Dialektik wird das, was nicht geschieht, auf die gleiche Stufe des Geschehens erhoben. Somit schreiben wir eine neue kapitalistische Geschichte, die gleichzeitig eine christliche wie eine ethische Geschichte ist, die Geschichte dessen, was nicht geschah. Wenn in den Geschichtsbüchern geschrieben steht, dass General Dajan sich im Sechs-Tage-Krieg entschied, mit dieser Truppe so, mit jener Truppe so zu verfahren, heißt das ja nur, dass er sich nicht dafür entschied, es so oder so zu machen. Wer also die Geschichte des Sieben-Tage-Krieges schreibt, muss schreiben, was alles nicht geschah. Ist das Genie eines Feldherrn wie Dajan deswegen so großartig, weil er das tat, was man nur als unterlassen tun kann, d.h. ist Dajan ein großer Feldherr für das, was er nicht getan hat oder ist er mehr ein großer Feldherr für das, was er getan hat? In Israel wird man hören, dass all die Feldherren in Israel und in anderen Demokratien nur deswegen große Feldherren sind, weil sie etwas Bestimmtes nicht getan haben. Übertragen auf die christliche Ethik heißt das, dass man den Zehn Geboten ein bestimmtes Moment entnimmt. Fast alle Gebote beginnen mit „Du sollst nicht“, du sollst nicht Lügen, du sollst nicht Ehebrechen, du sollst nicht Stehlen etc. Die ganze christliche Ethik besteht aus dem Tun als Nicht-Tun. Das Tun als Nicht-Tun heißt Unterlassen. Also ist die wahre Geschichte des Humanismus die Geschichte des Unterlassens. Diese wird wiederum vom Kapitalisten kapitalisiert, beispielsweise in Gestalt der Presse.
Kapitalismus als Religion
In der Presse findet die gleichmäßige Berichterstattung über Geschehen wie Verkehrsunfälle und Bombenexplosionen statt, aber immer in Hinblick auf das, was alles noch hätte geschehen können. Denn was die Zeitung wirklich verkauft, ist die Phantasie der Leser bezüglich dessen, was darüber hinaus noch alles hätte alles passieren können. Natürlich handelt es sich dabei um eine Verdopplung, Verdreifachung oder Vervierfachung von Welt, um eben das, was in der spirituellen Welt der Religion vollzogen wird. Eine religiöse Überzeugung oder eine kulturelle Überzeugung ist eine Veranstaltung, die der Welt möglichst viele Bedeutungen im Bereich des Unsichtbaren, des Gedanklichen und des Glaubens zu geben vermag. Der Kapitalismus beerbt die kulturelle Dynamik und die Religionsdynamik und realisiert damit die Leistungsfähigkeit der Religion und der Kultur, aber durch das Ausbilden eines Ganzheitsbegriffs, der über jede einzelne Kultur und Religion hinausgeht. Er ist nicht eine Religion, sondern alle Religionen, nicht ein Gott, sondern Repräsentation aller Götter. Nur im Kapitalismus gibt es nicht eine Ware und einen Hersteller, sondern sechsundvierzig Erzeuger von Keramiken aus aller Welt. Max Weber hat als erster dargestellt, dass der Kapitalismus die konsequente Indienstnahme der calvinistischen Religion betreibt. Der Kapitalismus entstand aus der Säkularisierung der Religion. All das, was man spirituell und religiös machen konnte, konnte man auf einmal auch säkular unternehmen. An Stelle des Gottes kommt bei dieser Entwicklung im Endeffekt das Kapital und die Einrichtung eines Bankkontos heraus.
Kapitalismus stiftet Ewigkeit durch die Kathedralen strahlenden Mülls.
Die nächste Stufe des Kapitalismus als säkularisierte Religion und säkularisierte Kultur ist in der Lage, auch noch das Versprechen auf ewige Dauer jenseits von Kapitalströmen und von Konjunktur zu gewährleisten. Da aber das Kaufhaus nur solange funktioniert, wie die Konjunktur anhält und alle Leute Geld haben, kann das Kaufhaus die wirkliche Garantie von Ewigkeit nicht hinlänglich gewähren. Durch die Kreation eines Gottes, der alle bisherigen Götter in sich umfasst, alle kulturellen und alle religiösen Überzeugungen, haben wir ein Endlagerungsproblem. Diesem begegnet man mit dem Kathedralenbau für den Gott des strahlenden Mülls. Kathedralen für den Müll hieße, dass dort, wo in der Stadt bisher die Kathedralen, die Moscheen oder die Synagogen standen, in denen welcher Gott auch immer verehrt wird, jetzt diejenige Gottheit einzieht, die wirklich die Welt beherrscht, nämlich der atomar strahlende Müll. Diese Gottesdimension hat eine unglaubliche Allmacht, die man durch Verehrung bannen muss. Religionen entwickeln Kulte der verehrenden Bannung der drohenden Gefahr. Indem wir die Götter verehren, hindern wir sie daran, ihre Allmacht als Willkür gegen uns einzusetzen. Man bespricht sich mit Gott, bringt Opfer dar, betet an, wendet sich im Glauben ihm zu. Deshalb rechnet man umgekehrt damit, von Gott verschont und nicht willkürlich vermüllt zu werden. Durch die Verehrung Gottes gewinnt man Kontrolle über das Unkontrollierbare. Also wäre Verehrung als Form der Kontrolle die letzte kapitalistische Garantie der ewigen Göttlichkeit und Dauer, soweit sie sich auf den strahlenden Müll richtet. Gegenüber den Folgen aus der Plutoniumwirtschaft bringen es die bisherigen Kulturen auf ein paar tausend Jahre, z.B. die ägyptische. Die katholische Kirche zählt vielleicht tausendvierhundert Jahre, die etruskische Kultur, Venedig, Byzanz kommen auf müde tausend Jahre, aber das ist schon alles. Natürlich in Sonderkonkurrenz zu Ägypten steht nur noch das Judentum, denn die Juden besorgen das Management der Ewigkeit, die halten den Rekord mit 5700 Jahren. Was sind aber 5700 Jahre kultureller Dauer gegenüber 15000 Jahre Halbwertzeit strahlenden Mülls? Und das ist noch der unterste Wert. Wir sind also dazu gezwungen, eine Kultur der Verehrung als Bannung zu entwickeln, d.h. Kathedralen für den Müll, in denen wir auf die nächsten 20000 Jahre Dauer für das Bewahren des strahlenden Mülls garantieren. Denn wenn man ihn nicht bewahrt und er nicht im Container bleibt, richtet er weithin zerstörerische Schäden an. Also ist der Kapitalismus nicht nur die säkularisierte Beerbung der Religion und der Kultur, sondern er ist auch der Stifter der Ewigkeit in der totalen Definition und Überbietung alles dessen, was singuläre Kulturen im Monotheismus, aber erst recht im Polytheismus, bisher geglaubt haben. Menschen schaffen den Gott in der wirklichen Durchsetzung von Ewigkeit und liefern zugleich eine rationale Begründung des Ewigkeitsanspruchs an einem Artefakt: 15000 bis 20000 Jahre Haltbarkeit ist Ewigkeit.
Die rationale Letztbegründung des Kapitalismus: Gott und Müll
Die nächste Stufe nach der Zivilisationsagentur Kaufhaus heißt also Zivilisationsagentur Endlagerung. Die Juden wissen, was mit dem Begriff Endlagerung im Grunde gemeint ist: Die Endlösung. Diese Endlösung als Endlagerung auf einem säkularen Niveau wäre die Kathedrale für den strahlenden Müll und damit die kapitalistische Stiftung einer säkularen Religion. Mit säkularer Religion ist eine zivile Religion gemeint, die als Begriff von Hegel und von Büchner zur Verfügung gestellt wurde. Diese ist eine nicht mehr aus dem Glauben begründete Religion, sondern ist auf einer rationalen Argumentation gegründet. Die Letztbegründung ist durch Wissen vermittelt, wobei in unserem Fall der strahlende Müll der wirkliche und geschaffene Gott des kapitalistischen Systems offener Optionen ist. Dieser wirkliche, wirksame und tätige Gott umfasst noch die Option, die Welt zerstören zu können, was wohl die größte aller denkbaren Optionen darstellt. Dieser Gedanke umschließt die Option der Totalität, nur dass bisher diese Option noch nicht eingelöst worden ist. Da man nicht zu garantieren vermochte, dass die Welt auch wirklich untergeht, wenn alle Atom- und Wasserstoffbomben gezündet werden, haben sich bereits 1964 amerikanische und russische Generäle getroffen. Sie haben ausgerechnet, was von der Welt übrig bleibt, wenn sie alle Wasserstoffbomben, Atomsprengköpfe und Atomminen zünden würden. Sie fanden heraus, dass südamerikanische Indianer und afrikanische Kaffern übrig bleiben würden und kamen darauf hin zu der Einschätzung: „Was? Wir, die Schöpfer des Ewigkeitsanspruches gehen in Erfüllung der Apokalypse und in Erfüllung des Paradieses auf Erden zu Grunde? Wir ziehen den Untergang als Erlösung durch und ein paar primitive Idioten im Urwald bleiben übrig? Das ist entwürdigend! Wir machen es nicht. Der atomare Krieg wird abgesagt.“
Diese rationale Begründung war damals die Rettung und der Grund, warum es bei der Kuba-Krise keinen atomaren Krieg gegeben hat. In einem Film führt der amerikanische Verteidigungsminister McNamara vor, dass sich die Amerikaner und die russischen Generäle zusammensetzten und bewiesen, dass die totale Weltzerstörung nicht möglich ist. Daher ist unser wirkliches Kultbild der strahlende Müll. Das Drei-Stadien-Modell des Kapitalismus bedeutet auf der dritten Stufe den Übergang vom reinen Optionismus des Warenhauses zu der Option der Weltvernichtung als Erlösung. In meinen Schriften sieht man, dass wir schon 1985 Entwürfe für Kathedralen des Mülls vorgelegt haben, die an Orten wie Düsseldorf, Berlin oder am Breitscheidter Kreuz tatsächlich genutzt werden könnten. In Europa stehen die Kirchen leer und da sie kein Geld haben, verkaufen sie die Gebäude. Daher müsste man jetzt Kirchen kaufen und sie umbauen zu Containern für den strahlenden Müll. Denn wenn der strahlende Müll irgendwo in der Wüste liegt, ist das für die meisten Menschen kein Problem. Aber wenn sie den strahlenden Müll als Gottheit in der Stadt jeden Tag vor sich präsent haben, dann werden sie wirklich wissend, werden wirklich gläubig werden. Denn sie werden wissen, was die Ewigkeitsgarantie des Kapitalismus ist. Es ist die Gottschaffungskraft. Dieses Prinzip ist so zu verstehen, dass Gott am Ende da ist, nicht am Anfang. Er stiftet nicht den Ursprung, er ist das Ende. Der kapitalistische Gott ist auch nicht am Anfang da und durchwühlt schöpferisch-zerstörerisch die Welt, sondern der Kapitalismus ist es selbst, der am Ende den Gott aller Götter kreiert. Der Kapitalismus schöpft die absolute Synthese aller religiösen und kulturellen Vorstellungen: Das Ganze und Mehr. In den Formulierungen von Logos an Kaufhäusern ist in der Gegenwart zu lesen „Alles und mehr!“. Das Ganze des Gegebenen ist im Kaufhaus verwirklicht, und überdies das Mehr, das Andere, das Jenseits meiner Vorstellungen und der Virtualität der Optionen. Und was ist die Option aller Optionen? Die Option gegenüber dem Wirklichen ist das Nichts. Damit ist die Finalität des Kapitalismus bestimmt. Die letzte aller kapitalistischen Zielsetzungen ist die Option aller Optionen, die Verwandlung der Welt in ein Nichts. Man arbeitet jetzt fieberhaft daran, diese Option tatsächlich im Bereich des Möglichen umzusetzen, denn erst dann ist sie eine Option, wenn sie wirklich möglich ist. Dies alles kann man bei Robert Musil in dem Romanprojekt „Der Mann ohne Eigenschaften“ lesen. Dennoch bleibt im Kern bestehen, dass es außerhalb des Kapitalismus keine Zivilisation gibt, weshalb auch im übrigen die Globalisierung damit einhergeht, dass überall die selben Kaufhäuser, überall die selbe Technik, die selben Flugzeuge, die selbe Infrastruktur und die selbe Kommunikationsmaschine von Radio und Fernsehen abgerollt wird. Auf der ganzen Welt und über das gesamte System Erde hinweg findet also die Globalisierung des Optionismus als Vorstellung statt und da ist es auch nur noch ein kleiner Schritt zur Realisierung der Option aller Optionen. Alles haben Menschen erreicht, nur das Nichts haben sie noch nicht realisiert. Nicht einmal als Gedanke ist es ihnen geglückt. Das endet immer in der Paradoxie, dass wenn ich weiß, dass ich das Nichts denke, ich ja immerhin real bin.
Auctoritas als Erfolgsprinzip des westlichen Denkens
Das Prinzip Kunst ist die unglaubliche Entdeckung Europas, dass nicht nur der kollektive anonyme Weltgeist, der Kapitalismus oder der Geist der Erzählung Geschichte als Erdverwertung geschaffen hat, sondern dass die Individuen als Einzelne in diesem Prozess eine Rolle spielen. Der Kapitalismus als Repräsentation der anonymen Macht der Naturgesetze, der Ökogesetze und des Gottesbegriffs wird konfrontiert mit dem Prinzip der auctoritas. Auf Lateinisch ist auctoritas sowohl gleich bedeutend mit Autorität als auch mit Autorschaft. Das Prinzip lautet also, Autorität durch Autorschaft. Es gibt nicht nur den kollektiven Geist der Weltgeschichte oder die Gesetze der Natur, sondern, auf einer zweiten Ebene der Erzeugung von Autorität, die Autorität des Autors. Dem zufolge heißt Kunst die Negation der Autorität des Vaters, der Religion, der Kultur und des Standes. Allein durch die Autorität eines Individuums als Autor legitimiert man seine Aussagen als eine Autorität, nämlich als ein Künstler. Hinter dem Künstler stehen kein Volk, keine Partei, kein Markt, kein Kapital, keine Zustimmung. Das Entscheidende ist, dass dieses Prinzip sich bereits im 15. Jahrhundert als so leistungsfähig erwiesen hat, dass viel höher entwickelte Zivilisationen, wie die chinesische, durch den Westen besiegt wurden. Selbst das kleine Korea war damals Europa haushoch überlegen. Die Koreaner haben schon mit beweglichen Lettern gedruckt, als es noch keinen Gutenberg gab. Jedoch kannten sie bloß sechs Quellen der Autorität. Alles Gesagte musste legitimiert sein durch diese sechs Quellen. Dagegen entstanden in Europa plötzlich Arbeitshypothesen und Artefaktschaffen auf Grund von Überlegungen über die Welt in der Gestalt von Künstlern, die zu Tausenden innerhalb kürzester Zeit auctoritas anmeldeten. Mit dem Prinzip Kunst, also der Autorschaft als Autorität, sind das weit überlegene China und das weit überlegene Korea überholt worden. Das war das Erfolgsrezept der Entwicklung in westlichen Gesellschaften. Unternehmer und Erzieher übernahmen dieses Prinzip erfolgreich. Insgesamt gelang eine unglaublich dynamische Verwertung von begründeten Aussagen, Hypothesen und Spekulationen über die Welt, die dann fruchtbar gemacht wurden. Doch da gibt es noch die von Marx aufgeworfene Frage, wie denn Autorschaft als Autorität der Kunst mit der kapitalistischen Autorität, der Weltgeist, das Naturgesetz und das Öko-Gesetz zu sein, zusammen gehen können.
Kann man als Künstler Kapitalist sein? Die Antwort heißt: Nein, denn es existiert keine Vermittlung zwischen dem Individuationsprinzip und dem Weltgeist- und Gottschaffungsprinzip des Kapitalismus. Die Kapitalisten heute versuchen es, indem sie Autorität durch Individualisierung inzwischen in einen Zwang münden lassen. Die Kapitalisten versuchen herauszufinden, ob sie uns das Prinzip der Individuation als ökonomisches Prinzip aufnötigen können. Wenn ich heute in eine Klinik gehe, muss ich als medizinischer Laie unterschreiben, dass ich die Verantwortung für das übernehme, was die Ärzte mit mir veranstalten. Somit tritt die Individualisierung als kapitalistischer Terror gegen mich selbst auf. Analog tritt das Individuationsprinzip der Kunst gegen den Künstler auf. Jeder Künstler kämpft gegen die vom Markt, vom Kapital, vom Feuilleton und von der Wissenschaft gegen ihn selbst gerichtete Autorität des Verwertungszusammenhangs. Das ist der jetzige Zustand.
Das limbische Regulativ und die Professionalisierung des modernen Universaldilettanten
Heutzutage erleben wir den Versuch des kapitalistischen Geistes, das Prinzip der Individuation rückgängig zu machen, indem man dieses Prinzip gegen die Künstler selber wendet. Auf den Alltag übertragen bedeutet das, dass das Individuum als Patient eine Autorität seines Leidens zu sein hat. Als Leidender übernimmt man selbst und nicht der Arzt die Autorität für die eigene Krankheit, denn der hat ja keine Hämorrhoiden, man selbst hat sie als Patient. Man hat also ein vitales Interesse daran, selbst der Experte für Hämorrhoiden zu sein. Dann geht man zu einem Arzt, den sie dafür bezahlen, dass er einem sagt: „Ich bin Experte. D.h. ich weiß, was nicht geht. Wenn sie auf die Hämorrhoiden Hühnchenfett streichen oder wenn sie Urin trinken, werden sie nicht weg gehen. Ich kann Ihnen nur sagen, wenn sie dieses Medikament einnehmen, dann haben sie sehr riskante Nebeneffekte mit einzubeziehen.“ Der Kapitalist geht also davon aus, dass der Patient selbst für seine Krankheit verantwortlich ist und sich selbst zum Experten ausbildet. Das ist mit der Vorstellung einer Professionalisierung des Patienten, des Käufers, des Betrachters, des Zuhörers, des Theaterbesuchers, des Museumsgängers gemeint. Aus dieser Tatsache ergibt sich eine ungeheuerliche Entwicklung, bei der die Betrachter des Kunstwerkes letztlich zu Experten der Kunst werden. Dazu müssen sie sich ununterbrochen affektiv dieser pathetischen Form des Leidens aussetzen, um affiziert werden zu können. Permanent müssen wir im Museum oder in der Galerie auf nackte, geile Weiber gucken, die uns als Bilder vorgestellt werden. Als Experte muss man seine Reaktionen zivilisieren und allmählich lernen, wieder das limbische Regulativ einzuschalten, das zwischen Attraktor und Ablösung zu unterscheiden weiß. Von Natur aus ist es so, dass jedes Lebewesen in der Welt Ressourcen finden muss, etwa Nahrung, Trinken, Partnerschaft, Sozietät oder Territorium. Diese findet es durch artspezifische Attraktoren. Für den Schmetterling sind das Geruchswahrnehmungen, so dass sich die Welt des Schmetterlings aus den Attraktionen von olfaktorischen Realitäten zusammensetzt. Für Hunde sind es bestimmte Markierungen im Boden, bei denen sie ihr Bein heben und artspezifisch auf den Attraktor reagieren. Das Entscheidende ist in der Natur, in der einerseits das Sexualorgan des Weibchens, die Futterquelle, das Territorium, die Höhle als ungeheure Attraktoren wirken, aber andererseits dennoch die Ablösung gelingt. Was nützt es einem Hund, wenn er Nahrung findet und er frisst sich daran zu Tode? Das limbische Regulativ sorgt dafür, dass er auf Nahrungssuche geht, sie tatsächlich findet, aber nach fünf Bissen aufhört, dann vielleicht anfängt, mit seinen Kumpanen zu teilen, damit sie ihn teilhaben lassen an ihren Funden. Der Hund vermag ein Bewusstsein zu entwickeln, indem er sich überlegt, was für ihn nun besser ist: Die Funde zu verschweigen, indem er bellt „Ich habe gar nichts gefunden, es ist gar nichts da.“ Oder wenn er mitteilt: „Ich habe was gefunden. Kommt alle her, ihr könnt alle entsprechend der Hierarchie mit fressen.“ Von Natur aus sind wir in unserem Weltverhältnis auf Ankopplung der Sinne an Attraktoren und auf Abkopplung angewiesen. Ebenso verhält sich das Bewusstsein, dessen Tätigkeit während des Tages durch den Traum parallel aktiviert wird. Im Traum lösen wir die Attraktoren von der Reaktion ab, d.h. wir virtualisieren sie wieder, so dass wir im Alltagsleben wieder auf Attraktoren ansprechen können und wieder rein und empfänglich sind, um den Ablösungseffekt zu leisten. Der Traum ist also eine notwendige Ablösung des Gehirns von der Attraktivität der Welt, auf das es selber mit Interpretationen der Sinneswahrnehmungen reagiert. Analog dazu hat die Kultur des Kapitalismus darauf reagiert und hat in die Nahrung Beimischungen gegeben, Stoffe, die das Sattheitsgefühl und den Ekel ausschalten sollen. Ganz oben in der menschlichen Attraktionshierarchie steht der Sexualattraktor. Die Natur aber sorgt dafür, dass mit Vollzug der Attraktion des Sexualakts sofort der Ekel in Gestalt der Abwendung einsetzt: Post coitum animal semper triste. Nach der höchsten Attraktivität ist der Mann desinteressiert, und wendet sich schnarchend ab. Das ist eine sehr gesunde Reaktion. Analog hierzu muss nach dem Einkaufen eine Befriedigung, eine Relaxation eintreten. Auf die konsumistische Aufkitzelung muss eine Dämpfungsphase folgen. Frauen, die von ihren Männern ständig fordern, dass sie bei der Sache bleiben und interessiert sein sollen, zerstören ihre Männer. Lasst also die Männer schnarchen, damit sie im guten kapitalistischen Geist noch weiter reagieren können. Und das heißt dann, den Leuten im Kaufhaus Befriedigung durch Erfüllung des Kaufrausches zu verschaffen. Nach dem Aneignungsrausch setzt die Relaxation und die Bewertung ein, und man fragt sich, was man da alles erworben hat: „Alles Mist! Das hätte ich alles überhaupt nicht benötigt. Das kann ich gleich Wegschmeißen.” Und das ist die gesunde Reinigung, von der her die Zivilisationsagentur des Kapitalismus noch eine weitere Entwicklung genommen hat, um die Unterschichten endlich, bei Offenhalten der Optionen, auf den Punkt der Befriedigung zu bringen
Die Huldigung des kapitalistischen Optionismus
Die Unterschicht bekommt im Billigwarensektor bei Aldi, Real oder Penny für hundert Euro Waren im Gegenwert von hundertvierzig Euro. Geht man ins Mittelpreisgenre, darf man sich glücklich schätzen, wenn man genau den Warenwert erhält, für den man bezahlt. Früher war der ganze Mittelstand der ehrbaren Kaufmannschaft darauf geeicht, Sorge zu tragen, dass zwischen dem realen Warenwert und dem Geldwert genaue Parallelitäten herrschen. Dieses Verhältnis ist im mittleren Preisbereich inzwischen abgesenkt. Kauft man auf der Luxusetage, erwirbt man in erster Linie symbolische Konstrukte, d.h. reine Option, reine Virtualität. Je höher der Preissektor, desto mehr kauft man Ideen, Gedanken, Erinnerungen, Gefühle und Erzählungen. Nimmt man so einen Luxusfüller mit goldener Kappe, der bei Aurora zweitausend Euro kostet und einen Warenwert von 2oo Euro inklusive Arbeitslohn hat, so umfasst die Zwischenspanne symbolischen Wertes 1800 Euro. Soviel ist für die Anknüpfung an einen europäischen Aufklärerklub und Wissenschaftlergesellschaft zu berappen, der Aurora hieß. Dieser ist durch die apollinische Lyra auf dem Füller repräsentiert. Durch Anknüpfung an die griechische Mythologie erhält man das Gefühl, ein sehr seltenes Stück in der Hand zu haben. Dennoch ist es nicht so, dass man dem kapitalistischen Impetus eine kriminelle Distinktion vorzuwerfen braucht, nach dem Muster von: „Was, ich zahle Ihnen zweitausend Euro und Sie geben mir nur Waren im Wert von zweihundert, Sie Schwein!“ Anders herum wird es richtiger, wenn der Kapitalist meint: „Passen Sie mal auf, wenn Sie nächstes Jahr kommen, kostet die Ware nur noch zwanzig Euro und wir verkaufen sie Ihnen für zweitausend Euro, für nichts als Ideen! Sie haben noch Glück, jetzt kriegen Sie sie noch für zweihundert. Aber Sie sind eben noch nicht vollständig geschult.“ Wenn man zweitausend Euro für etwas ausgibt, was überhaupt nichts wert ist, dann weiß man den Kapitalismus zu schätzen. Im wahren Kapitalismus geht es um Ideen, Konzepte und Erinnerungen, und Kapitalist ist derjenige, der die reine Option nutzen kann. Ein sehr guter kapitalistischer Optionist ist gegenüber der Wirklichkeit ein Verwerter der Möglichkeit. Deswegen ist der Kapitalismus auch bei den ärmeren Leuten ein bombensicheres Geschäft und sie werden einen Teufel tun und sich mit sozialer Revolution wieder ein Machtsystem an den Hals holen, bei dem sie nichts bekommen, weil es überhaupt nichts gibt. Statt dessen wird weiterhin jeder, der wenig Geld hat, in den Penny-Markt gehen und tatsächlich mehr vom Kapitalisten bekommen, als er bezahlt. Selbst auf der untersten Einkommensstufe sind nahezu alle begeisterte Kapitalisten, weil auch der Arbeitslose für seine hundert Euro möglicherweise hundertvierzig Euro an Gegenwert als Ware erhält. Da könnte man Lenin predigen soviel man will, das ändert nichts, außer sie nehmen den Arbeitslosen noch das bisschen Geld weg, so dass er gar nichts bezahlen kann. Aber so dumm werden die Kapitalisten nicht mehr sein, sondern weiterhin an der Börse nichts anderes unternehmen, als ein Kapitalisieren von Möglichkeiten und Handeln mit Optionen. Im Börsenhandel hält sich der Kapitalist beispielsweise die Freiheit auf eine bestimmte Menge von Getreide, Zink oder Erdöl auf fünf Jahre offen. Weil sie von den Einschätzungen der Psyche abhängt, ist die Börse eigentlich ein Psychoparkett, da dort Erwartungen, Hoffnungen, Befürchtungen und Ängste als Optionen der Wirtschaft gehandelt werden. Was ist der börsianische Optionismus für eine geniale Idee, mit immateriellen oder bloß virtuellen Dinge wie Gedanken handeln zu können! Das ist das mächtigste Instrument des Kapitalismus. Die Börse ist die Zivilisierungsinstitution für Kapitalisten, die nur noch von der Option zu leben verstehen. Ein Kaufhaus wie das KDW ist als Zivilisationsagentur die Einheit von Hotel, Bank und Kaufhaus und damit sozusagen ein Tempel, in dem wir wirklich allen Göttern gleichermaßen huldigen können. Vor allen Dingen ermöglicht es das Training der Askese, die man aus der Philosophie der Hindus und Buddhisten kennt. Sie reduzieren die Nahrungseinnahme und die Bedürfnisse. Vierzig Jahre muss ein Hinduweiser dazu üben. Im Kaufhaus lerne ich dagegen binnen kurzem, ohne jeden Wunsch auszukommen. Wir sind doch allem Hinduismus, Buddhismus oder Zen weit überlegen in der Entwicklung der Askese als Leistungssport. Denn der Kapitalismus als Unternehmung eröffnet parallel zur Realität Virtualität, Optionen und Gedanken. Kann er auch noch eine neue Olympiade, einen Wettlauf um die Wertigkeit eröffnen, also das Nicht-Tun, das Nicht-Essen, das Nicht-Kaufen bekräftigen? Wenn ich dann dennoch kaufe, dann schäme ich mich erst mal in die Ecke: „Liebe Frau, ich bin heute schwach geworden und habe T-Shirts gekauft. Dabei brauchen wir sie gar nicht. Komm’, wir schmeißen sie besser gleich wieder weg.“ Das ist das moderne Kapitalistenopfer: Ich gehe in ein Kaufhaus, erwerbe etwas für möglichst viel Geld und opfere es in den Garbage, wie einst auf dem Altar. Ich gebe es in den Garbage und leiste Verzicht. Im Opfer an die Götter zeige ich die Bereitschaft, souverän zu handeln. Jeden Tag kann ich der cloaca maxima die Huld erweisen, etwas einkaufen, um es sogleich in den Müll zu werfen. (5) Der Kreislauf für diese Art von Geschehen besteht tatsächlich im Gehen aus dem Warenhaus und dem direkten Abwandern und Ablagern der Ware in den Müll. Man kann auch gleich neben dem Warenhaus die Kathedrale für den Müll errichten, wo alles, was erworben wurde, sofort als Müll abgelegt wird. So intelligent ist der anonyme Autor Gott, der Weltgeist, das Gesetz, die Ökonomie, mit dem wir als arme kleine Autoren fertig werden müssen. Wir müssen ständig in kultischer Verehrung der großen Kräfte versuchen, uns selbst am Leben zu erhalten. Der böse Weltgeist wird uns nicht packen, wenn wir ihn verehren. Die Autorität des Autors besteht vor allem in seiner Fähigkeit, enthusiastisch verehren zu können. Daher lese ich Lyrik, Dramen und Epen, um meine Befähigung zu bewundern auszubauen. Aber wen verehren? Den Kapitalismus, den lieben Gott, die Fülle der Welt, das Ganze.
(1) Theodor Wiesengrund Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M. 2001, S. 80.
(2) Bazon Brock: Kap. Kunst und Krieg - Betverbot und Bildersturm. In: Der Barbar als Kulturheld. Gesammelte Schriften 1991-2002. Köln / Wuppertal 2002, S. 207-298, hier S. 209 (Der verbotene Ernstfall) und S. 232 (Der Künstler als Barbar).
(3) Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Band 1. Kapitel 4: Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben. Hamburg 2005, S. 16f.
(4) Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Bd. 1 Kapitel 8, S. 35.
(5) Bazon Brock: Abfall. In: Der Barbar als Kulturheld, S. 195.