Th. W. Adornos Kampf gegen Oberpriester und Oberkellner eines Wissenschaftsideals
Zumindest der Begriff ÄSTHETIK hat in den 80er Jahren Konjunktur. Keine Tageszeitung (inklusive der Wirtschaftsseiten, zum Beispiel der FAZ), in der nicht beherzt vorbehaltlos um mehr Ästhetik in unserem Alltagsleben gebeten wird. Andererseits ist selbst in Fachzeitschriften für Kunst und Kultur eine latente Aggressivität gegen mehr oder weniger alle ästhetische Theoriebildung spürbar. Immerhin wird nicht mehr generell dafür eine grundsätzliche Theoriefeindlichkeit, etwa der produktiven Künstler nach dem banalen Motto „Bilde, Künstler, rede nicht“, verantwortlich gemacht. Die Theorie wird auf andere Weise, medienimmanent, ausgeschaltet.
Die Leser der Zeitschriften und Fachpublikationen hätten keine Zeit mehr für langwierige theoretische Erörterungen. Wem es nicht gelinge, seine Artikel und vor allem auch seine Bücher mit auffälligen Reizworten zu durchsetzen und zentrale Aussagen in die Merkformen von Schlagzeilen zu überführen, habe keine Chance mehr, wahrgenommen zu werden. Selbst die Wissenschaftler hatten sich den veränderten Rezeptionsgewohnheiten des Publikums anzupassen.
Aber es bleibt ja nicht bei diesen rezeptionsökonomischen Zwängen. Wer sich den Erwartungen des Publikums anzupassen hat, wird auch danach beurteilt, inwieweit er in der Lage ist, die Erwartungen des Publikums zu erfüllen. Wie wenig muß ein Publikum seine eigenen Interessen ernstnehmen, wenn es nur das zu hören, zu lesen, zu sehen bereit ist, was es ohnehin schon kennt und zu praktikablen Vorurteilen verfestigt hat.
Da laufen die Leute nicht nur als touristische Horde, sondern auch als Bildungsbürger zu Millionen in die Museen, um dort maulend zu beklagen, daß man sie vor den Werken allein lasse; sobald aber einige angeblich in ihre eigenen Theorien selbstverliebte Kunsthistoriker, Ästhetiker, Wahrnehmungspsychologen oder Pädagogen sich zur Hilfestellung andienen, macht das Publikum unmißverständlich klar, daß man es bitte mit längeren theoretischen Erörterungen verschonen möge.
Diese alltäglich demonstrierte Idiotie läßt nur den Schluß zu, daß die inzwischen auch beim Publikum sprichwörtliche „Kommentarbedürftigkeit der modernen Kunst“ immer noch als Begründung für die Unfähigkeit von Künstlern und Kulturschaffenden verstanden wird, das Werk selbst sprechen zu lassen, so daß sie, gar noch theoretisch, zu den Werken und über die Werke, beziehungsweise über Konzepte und Intentionen von deren Urheber zu reden gezwungen seien.
In der Tat hat ja A. Gehlen, der Formulierer jenes Kalenderspruchs über die Kommentarbedürftigkeit, sich mit diesem Diktum den Zumutungen zeitgenössischer Kunstwerke entziehen wollen. (1) Denn hätte er sein Diktum in dem Sinne gemeint, daß ein unmittelbar spontaner Zugang zu den Kunstwerken der Zeit ebenso möglich ist wie der Zugang zu anderen Konstrukten im Auto oder PC, dann hätte ihm auffallen müssen, daß auch nichtmoderne Werke auf die gleiche Weise kommentarbedürftig und abhängig von theoretischen Vorgaben gewesen sind.
Gehlen, wie die Mehrzahl seiner Wissenschaftlerkollegen, theoretisierten unter dem Deckmantel, Wissenschaft zu betreiben, kaum mehr als ihren weltanschaulich motivierten Unwillen, sich den eigenen Einsichten zu beugen. Als Wissenschaftler wußten sie recht gut, daß ohne theoretische Vorgaben auch die intensivste Anschauung blind bleibt und daß theoretische Konstrukte bloße Baukastenspielchen bleiben, wenn sie nicht dazu entwickelt werden, konkrete Aufgaben zu bewältigen. Theorie war und ist für Denker dieses Schlages Kaschierung der Ratlosigkeit vor den Denk- und Wahrnehmungsaufgaben, die uns die Werke stellen. Wer kann es sich aber, zumal als öffentlich bestallter Wissenschaftler, leisten zuzugeben, daß er diesen Aufgaben ebenso wenig gewachsen ist wie das nichtspezialisierte Durchschnittspublikum? Da dient die Theorie nur zur nachträglichen Begründung, warum es nicht lohne, sich mit den Werken überhaupt zu konfrontieren.
Ich habe in Aachen 1964, analog zu der damals geflügelten Frage nach Franz Josef Strauß: „Haben Sie überhaupt Abitur?“, die Formulierung von Gehlen gehört: „Haben denn Ihre Künstler überhaupt Philosophie studiert?“ Na also! Ausgerechnet so etwas von Gehlen, dem ja von Fachphilosophen mehr als einmal vorgehalten wurde, seinerseits kein Philosoph, sondern bloßer Soziologe zu sein! Und was sagten die ihres eigenen Anspruchs so selbstgewissen Philosophen? „Den Gegenstand selber reden läßt jedoch nur die Kunst, deren ontologische Relevanz bisher allerdings keineswegs zureichend untersucht worden ist. Das Vokabular der Philosophie, ihr begriffliches und methodisches Instrumentarium ist dafür nicht geeignet“, schrieb Hans Heinz Holz zum 65. Geburtstag Adornos. (2) Wie denn nun? Wenn es um ontologische Relevanz geht, dann kann die ja wohl nur mit dem Vokabular und Instrumentarium der Ontologen untersucht werden, und das ist ja wohl auch hinreichend geschehen. Wer mehr zu können glaubt, hätte das ja zeigen können; aufs Vokabular und Instrumentarium kann es wohl gerade bei einer Ontologie kaum ankommen: Die Ontologie wird den Gegenstand selber so wenig reden lassen können wie die Kunst. Dergleichen Theoretiker wollen sich nur als Wissenschaftler selbst überhöhen mit dem geheimnisvollen Hinweis, sie seien im Unterschied zu all ihren Vorgängern in der Lage, mit der Begründung ontologischer Relevanz Richter über die Machwerke der Kunst zu spielen.
Solche theoretischen Positionen laufen am Ende auf das gleiche hinaus, wohin ein die Theorie bemühender Galerist oder ein Künstler in einem Verkaufsgespräch ihren Kunden hinführen wollen: zur gläubigen Unterwerfung unter das Wesentliche, das nicht erarbeitet, sondern nur hochpriesterlich „entborgen“ werden darf. Eine ausgemachte Barbarei, die mit ihrem Anspruch auf theoretische Stringenz nur umso nichtswürdiger ist.
Daß diese Barbarei und dieser Wissenschaftskitsch gerade durch den Widerstand, den sie provozieren, immerhin die kulturelle Entwicklung zu beeinflussen, ja zu befördern vermag, muß anerkannt werden. Niemand wußte das besser darzustellen als Adorno, weil er den Schrecken erfahren hatte, der von den Wirkungen ontologischer Relevanznachweise gegenüber Kunst und Kultur ausgegangen war. Mit allem Nachdruck versuchte er deshalb, die Ästhetik den approbierten Philosophen, insbesondere den Ontologen, zu entreißen. Welche Anstrengung und Leistung das kostete, läßt sich von heute aus besser erkennen als zu seinen Lebzeiten.
Wie wenig er ästhetische Theoriebildung als bloße nachträgliche Rationalisierung künstlerischer Potenzgesten, wissenschaftlicher Niveauforderungen und gesellschaftlichen Machtgewinns verstanden hat, scheint dennoch sogar für seine heutigen Verteidiger unverständlich.
Rolf Wiggershaus legt seine jüngst erschienene Würdigung Adornos (3) weitgehend als Fragestellung aus, um dann immer wieder nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß „Adorno auf diese Fragen die Antwort schuldig blieb“. Hätte Adorno gefragt, um die Fragen zu beantworten, dann hätte er darauf gewiß so gut begründete Antworten geben können wie nur irgendeiner. Adorno entriß die Ästhetik der Philosophie, gerade weil er die ästhetische Theoriebildung aus diesem Schema wohlfeiler Fragestellung und triumphal selbstevidenter Antworten befreien wollte.
Wiggershaus schreibt: „Bei aller Problematik seiner Konzeptionen ist die Summe seiner Gedanken zur Ästhetik, die ästhetische Theorie, bis heute das kunstphilosophische Werk mit dem größten Anregungspotential.“ (4) Auch wenn man aus dieser Aussage nicht nur die Nähe zur Appetithäppchenkultur herausliest: wieso können theoretische Konzeptionen pejorativ als problematisch gekennzeichnet werden, wenn es in dieser Ästhetik gerade um die Entwicklung von Problemstellungen geht? Die von Adorno entdeckten Probleme und nicht seine Konzeptionen sind anregend, wenn es schon bei dieser feingeistigen Kennzeichnung einer Stimulanz bleiben soll.
Das überaus Bedeutsame an Adornos ästhetischer Theorie liegt, zumindest von heute aus gesehen, darin, daß Adorno Theoretisieren als Thematisieren und nur als solches begründete. Thematisierung aber kann es nur in Form einer Problematisierung geben, die grundsätzlich nicht im ausgefuchsten methodisch-systematischen Selbstlauf oder in Problemlösungen, also jenen nachgefragten „unproblematischen“ Antworten, stillgelegt werden kann. Hierin liegt auch der Grund für die Annahme Adornos, daß zumal ästhetische Theorie nur als Kritik daran zu hindern ist, in kindische Systemspielereien oder auch in kindlich behauptete Naivität überwältigender Unmittelbarkeit einzumünden. Kritik ist Problematisierung, die ihre Leistungsfähigkeit erst erweist, wenn ihr nicht mehr abverlangt wird, das Kritisierte durch ein Anderes, Besseres, weniger Kritisierbares zu ersetzen. Der theoretische Naive glaubt, daß sich die Probleme von selbst verstünden; er möchte die Denkanstrengung darauf verpflichten, ihm diese Probleme vom Hals zu halten durch unproblematische Antworten, auf die er sich verlassen kann. Er verlangt von der Theorie die Entscheidung darüber, das einwandfrei Haltbare vom Problematischen zu unterscheiden, das er bestenfalls als anregend zu akzeptieren bereit ist.
Problemhorizonte
„Vom Begriff der philosophischen Ästhetik geht ein Ausdruck des Veralteten aus, … das Gefühl beschränkt sich keineswegs auf die künstlerische Praxis und auf die öffentliche Gleichgültigkeit gegen ästhetische Theorie“, so beginnt Adorno seine frühe Einleitung in die ästhetische Theorie. (5) Das Gefühl des Veralteten entsteht aus der Erfahrung, mit der philosophischen Ästhetik nur in einer fatalen Alternative zu stehen, nämlich entweder dumm triviale Allgemeinheiten vor sich zu haben oder willkürliche Urteile als systematisch begründete Vorurteile. Adorno glaubt mit guten Gründen, dafür das Diktat der Verwissenschaftlichung verantwortlich machen zu können. Dem sind sowohl die idealistischen Systembildner unterlegen wie die Empiriker. Wo die Werke der ersteren aber immerhin ihrerseits noch als Kunstwerke in ihrer spezifischen Gestalt Wahrheitsanspruch erheben, steigen die Empiriker klassifizierend und abstrahierend nur zur ästhetischen Normativität auf, die wie jede Normativität konventionell, also willkürlich, bleibt.
„Die Schwierigkeit einer Ästhetik, die mehr wäre als eine krampfhaft neu belebte Branche … hätte die Nähe des Produzierenden zu den Phänomenen mit der von keinem fixen Oberbegriff, keinem ‚Spruch’ gelenkten begrifflichen Kraft zu verbinden.“ (6) Verbindung kann aber nicht Versöhnung heißen, ausgleichende Gerechtigkeit nach beiden Seiten, der Mittelweg zwischen halb und halb; Verbindung entsteht durch wechselseitige Problematisierung, die schlechterdings nicht nach dem Verfahren wissenschaftlicher Durchsetzung gültiger Ansprüche konsensfähig ist. „Das Obsolete der Ästhetik hat den Grund, daß sie dem kaum sich gestellt hat.“(7) Aber selbst im Bereich der Erkenntnistheorie und der Ethik hält Adorno den philosophischen Konsens nur noch um den Preis für möglich, daß die Idee des Konkreten, des Besonderen, des also nur historisch einmalig Wahren aufgegeben wird, daß sich die Wissenschaft also von dem entfernt, wessenthalben sie eigentlich entwickelt wurde: humane Bewältigung der Lebensanstrengung. Die Wissenschaft verlor dieses Ziel unter dem Zwang zur Verwissenschaftlichung, das heißt unter dem Zwang zur institutionellen Selbstbehauptung. Anspruch auf institutionelle Eigenständigkeit konnte Wissenschaft nur behaupten, wenn sie durch Verwissenschaftlichung glaubte, jene Probleme lösen zu können, die ihr von den Trägern der Institution, von Staat und Wirtschaft, vorgegeben wurden.
Von der philosophischen Ästhetik verlangten die Auftraggeber, das Urteil zu ermöglichen, demzufolge diese Werke schön und jene häßlich seien, vollendet oder bloß unzureichender Versuch, anregend oder abstoßend. Die philosophische Ästhetik sollte Wächter sein über die Bereitschaft der Künstler, sich allgemeinen Aufgaben und Zielsetzungen ihrer Ernährer zu unterwerfen, und sie hatte vor allem den Anspruch zu wahren, daß das künstlerische Schaffen strikt mit den jeweils geltenden Kosmologien zu vereinbaren sei. Die galten durchweg als nicht erdachte, sondern je unterschiedlich offenbarte Letztbegründungen. Die philosophische Ästhetik sollte vor allem den Vorrang von Anschauung in der Kunst wahren, um einigen Kunstwerken als Träger dieser Offenbarung Verbindlichkeit zu sichern und sie anderen abzusprechen.
Zur Lösung solcher Aufgabenstellung ist eine ästhetische Theorie, wie Adorno sie als Fähigkeit zur Problematisierung, zur Kritik, begründete, per se nicht geeignet. Da sie sich der Verwissenschaftlichung entzieht und damit an ihren Früchten nicht mehr zu erkennen ist, wird sie der Subversivität verdächtigt, die im Nachkriegsdeutschland nur deswegen nicht als zerstörerischer jüdischer Intellektualismus bezeichnet wurde, weil das gerade nicht opportun war.
Anmerkung: Die immer wieder vermuteten Reserven Adornos gegen den Theoretiker Benjamin waren, manchem Anschein zum Trotz, nicht persönlicher Art. Benjamin wie Bloch haben als Ästhetiker sehr viel stärker einem anderen theoretischen Modell der Verbindung von Nähe zu den Phänomenen und begrifflicher Kraft den Vorzug gegeben, nämlich dem von „Verbindung“ als Versöhnung in der Tradition des jüdischen Mystizismus. Und dieser Mystizismus verträgt sich mit Theorie als Kritik ebenso wenig wie mit der ästhetischen Theorie als Selbsterlösung.
„Daß jedoch das Interesse an Ästhetik erlahmte, ist nicht allein von ihr als Disziplin bedingt, sondern ebenso, und wohl noch mehr, von ihrem Gegenstand … Ästhetik kann nicht länger vom Faktum Kunst derart ausgehen wie einst die kantische Erkenntnistheorie vom Faktum der mathematischen Naturwissenschaften.“ (8) Wo den Künstlern selbst ihr Werkschaffen problematisch geworden ist, kann eine leistungsfähige Ästhetik nicht mehr von selbstverständlichen Werkcharakteren ausgehen, von Formgesetzmäßigkeiten, von der Vollendung als Identität von Form und Inhalt, ja nicht einmal mehr vom sinnlichen Scheinen der Ideen in den Werken, weil die Sinnlichkeit, das heißt die mediale Vergegenständlichung, selber von Begriffen, und seien es die Anschauungsbegriffe der Wahrnehmungspsychologen, beherrscht wird. Kunst gibt es nur noch innerhalb von Kunstsprachen (9); sie ist der Ästhetik nichts äußerlich Vorgegebenes mehr, das es nur zu erklären und womöglich zu verstehen gelte. Sie hat das Unverständliche als das eigentlich Selbstverständliche (10) zu akzeptieren. Jede Rezeption wird damit zu einer Produktion; kontemplativer Genuß unmöglich. Mit der Problematisierung eben dieser Sachverhalte wird ästhetische Theorie dennoch nicht zum gegenstandslosen Gerede, ganz im Gegenteil: sie hilft, den Gegenstand zu konstituieren, indem sie durch Problematisierung des vermeintlich systemlogisch Selbstevidenten die wie auch immer zustandegekommenen künstlerischen Äußerungen zu einer ganz anderen Art von Transzendenz zwingt. Transzendenz durch uneinholbaren Widerstand der Inhalte gegen die Form, der Kommunikation gegen den Konsens, des Verstehens gegen die Erklärung. Diese ganz innerweltliche Transzendenz faßt Adorno im Begriff der Autonomie der Kunst. Ihr Hermetismus entspringt nicht mutwilligem Budenzauber oder überweltlicher Verklärung, sondern der prinzipiellen Differenz und unauflösbaren Nichtidentität von Inhalt und Form, von Vorstellung und Ausdruck, von Anschauung und Begriff. Wer diese Autonomie aufgibt, wird nicht nur willfähriges Opfer der Kunstrichter und Kunstverwerter, er verzichtet auf jeglichen Wahrheitsanspruch; denn er würde auf das Resultat der Problematisierung und der Kritik, er würde also auf das einsehbar Falsche verzichten, das als solches, als erkanntes Unwahres allein noch wahr ist.
Diese Schlußfolgerung der negativen Dialektik ist gerade für Adornos ästhetische Theorie grundlegend. (11) Die Wahrheit des Unwahren als erkannt Unwahres ist nicht mehr als Invariante im Sinne der traditionellen Ästhetik, gar der auf ontologische Relevanznachweise ausgerichteten, zu bewerten; abgesehen davon, daß „moderne Kunst“ (Adorno) – wir sagen „alle Kunst“ – gerade solche behaupteten Invarianten problematisieren / kritisieren muß, um überhaupt sich äußern zu können. Hätten nicht auch schon die Nichtmodernen, also die „Klassiker“, zum Beispiel Rubens, mit ihren Werken neue Problemstellungen vorgetragen, sondern optimale Lösungen vorgegebener Probleme, dann wären sie für alle Nachfolgenden nicht einmal „anregend“ gewesen, geschweige denn folgenreich.
Eine der fatalsten Invarianten, auf die traditionelle Ästhetik ausgelegt ist, liegt in ihrer Behauptung über die Entstehung des Neuen. „Die geisteswissenschaftliche Manie, Neues aufs Immergleiche, etwa den Surrealismus auf den Manierismus zu reduzieren, der mangelnde Sinn für den geschichtlichen Stellenwert künstlerischer Phänomene als den Index ihres Wahren entspricht dem Hang philosophischer Ästhetik zu jenen abstrakten Vorschriften, an denen nichts invariant ist, als daß sie stets wieder von dem Geist, der sich bildet, Lügen gestraft werden.“ (12)
Daß der Geist sich auch scheinbar ganz geistfern zu bilden vermag, darauf verwies Adorno, darauf bestand er – aus guter Kenntnis der Produktionsprozesse von Künstlern. Purer Zufall, private Lust und Aberwitz wie auch geistlose Formaloperationen sind an der Entstehung von Werken ganz erheblich beteiligt, ohne daß aus diesen Aspekten ihrer Genese irgendein Einwand gegen die Werke zu begründen ist. Traditionelle Ästhetik sah und sieht hingegen die Meister planvoll am Werke, als übersetzten sie geistige Konstrukte (zum Beispiel Bildvorstellungen) bloß in Farben, Materialien, Sprache. Dieses Weltbaumeistermodell der schöpferischen Arbeit kann sich nur auf Invarianten stützen: auf identische Übertragung, Gesetzmäßigkeit, Perfektion der Ausführung eines Plans; vor allem aber auf die Annahme, das Neue entstehe (mit welcher Entwicklungslogik auch immer) aus dem Alten.
Ableitungen genetischer Reihen, Wirkungsfolgen von Schulbildungen in kalendarisch strukturierter Historizität sind das unsäglich bemühte Vergnügen jener Ästhetiker. Daß Traditionen nicht aus den Vergangenheiten der Meistergenerationen in die Gegenwarten der Schülergenerationen wirken, bleibt ihnen unfaßlich. Sie verstehen nicht, daß selbst dort, wo Nachfolger bemüht wären, sich auf Vorgänger einzulassen, schon die Transzendenz durch „die Selbstverständlichkeit des Unverständlichen“ (13) in aller Kommunikation dafür sorgt, sogar dogmatisch festgehaltene Formen ihre Inhalte verändern zu lassen. Das Leben der Formen, der Ideen, entfaltet sich nicht in einem geschlossenen Kontinuum, nicht in zentralperspektivisch erfaßbarer Linearität. Das Material ist niemals ganz den Formen und Ideen zu unterwerfen; die Vergegenständlichungsmedien des Geistes, des Denkens und Vorstellens folgen weitgehend eigenen Bedingungen. Überhaupt wäre das Neue gar nicht neu, wenn es gegenüber dem Alten nicht weitgehend bestimmungslos bliebe, ja inhaltslos, schockierend grundlos. Was dem ästhetisch traditionell gebildeten Bürger wie den Philosophen als klamaukhafte Neuerungssucht (das Neue der Kunst um des schieren Neuen willen) erscheint, gilt es, erst als die Leistung der Avantgarde zu entdecken. Denn nur solches Neue zwingt uns überhaupt, begründet von den Traditionen zu sprechen ja sie aus Angst vor dem Neuen immer erneut erst zu bilden („rückwirkende Kraft“, sagt Adorno) (14), und zwar als in der jeweiligen Gegenwart wirksame Kräfte. Darin erweist sich Geschichtlichkeit als gegeben. Tradition als Reigen der Bedingung von Bedingungen des Neuen bleibt leeres Bildungsgefasel, das sich als historische Beschlagenheit drapiert. (Ich verweise für diese – wie mir immer stärker aufgeht – von Adorno nahegelegten Auffassungen eines entscheidenden Problems der Ästhetik auf meine entsprechenden Überlegungen zur Avantgardetheorie.) (15) In „derlei Perspektiven erweist Ästhetik sich nicht sowohl als überholt wie als fällig. Nicht ist es das Bedürfnis der Kunst, von der Ästhetik dort Normen sich vorschreiben zu lassen wo sie sich irritiert findet: wohl jedoch, an der Ästhetik die Kraft der Reflektion zu bilden, die sie allein von sich aus kaum zu vollbringen vermag. Worte wie Material, Form, Gestaltung, die den zeitgenössischen Künstlern leicht in die Feder fließen, haben in ihrem gängigen Gebrauch etwas Phrasenhaftes; davon sie zu kurieren, ist eine kunstpraktische Funktion von Ästhetik. Vor allem aber ist sie gefordert von der Entfaltung der Werke. Sind sie nicht zeitlos sich selbst gleich, sondern werden zu dem, was sie sind, weil ihr eigenes Sein ein Werden ist, so zitieren sie Formen des Geistes herbei, durch welche jenes Werden sich vollzieht, wie Kommentar und Kritik“ (16). Die kunstpraktische Funktion einer allfälligen Ästhetik wäre vor allem von der Kunstkritik zu erfüllen (so war sie auch einst im Salon des 18. Jahrhunderts vorgestellt worden). Gerade Ästhetik als Kunstkritik konnte den Künstlern beistehen gegen Publikum, Käufer, Instrumentalisierer, indem sie den Künstlern hilft, sich unter dem Druck verständlicher sozialer Wirkungsabsichten nicht willfährig auf das Läuten der Pawlowschen Glocken „Material, Form, Gestaltung“ einzulassen (auch nicht als „offene Form“, „Gestalt der Gestaltlosigkeit“, „Zitatmaterial“). Phrasen dreschen die Künstler unter dem Zwang zu verkaufsförderndem sozialen Klatsch und um die Bildungsbeflissenen abzuwehren, die den Künstlern vollständig zu wissen abverlangen, was sie da gemeint, gewollt, getan hätten, da die Werke ja von ihnen geschaffen worden seien: eine vollständig phänomenenferne, produktionsferne Forderung nach dem Muster der Theodizee. Aber der Gott hätte es wahrscheinlich ebenso unterlassen, eine Welt zu schaffen, wenn er gewußt hätte, was er schuf, wie die Künstler.
„Im Zeitalter der Unversöhnlichkeit (der Phänomenen- und Produktionsferne, BB) traditioneller Ästhetik und aktueller Kunst hat die philosophische Kunsttheorie keine Wahl als … die untergehenden Kategorien als übergehend zu denken in bestimmter Negation (in der Problematisierung, BB). Die motivierte und konkrete Auflösung der gängigen ästhetischen Kategorien allein ist übrig als Gestalt aktueller Ästhetik; sie setzt zugleich die verwandelte Wahrheit (die Wahrheit der falschen, BB) der Kategorien frei. Sind die Künstler zur permanenten Reflektion genötigt (um ihren Gegenstand überhaupt zu konstituieren, BB), so ist diese ihrer Zufälligkeit zu entreißen, damit sie nicht in beliebige amateurhafte Hilfshypothesen, Rationalisierungen von Bastelei oder in unverbindliche weltanschauliche Deklarationen über das Gewollte ausartet, ohne Rechtfertigung im Vollbrachten“ (das gerade darin liegt, „einer Sache Wichtigkeit zu verleihen“; was aber anderes kann für uns Wichtigkeit haben als Probleme, vor allem die prinzipiell unlösbaren, die bösartigen, auf die bedeutende Kunst sich einläßt? BB) (17).
„Jedes Kunstwerk, und präsentierte es sich als eines vollkommener Harmonie, ist in sich ein Problemzusammenhang. Als solcher partizipiert es an Geschichte und überschreitet dadurch die eigene Einzigartigkeit.“ (18) Der Eröffnung solcher, anders als durch und in Kunstwerken nicht entwickelbarer Probleme vermag bisherige Ästhetik nicht zu folgen, da sie vom subjektiven Geschmacksurteil ausgeht. Diesem naiven ästhetischen Subjektivismus scheinen die Problemstellungen bloße Vorgaben für das Werk zu sein, die man beliebig akzeptieren konnte – um dann zu beurteilen, ob es dem Künstler im Werke gelungen sei, die Probleme adäquat zu lösen – oder die man bedenkenlos vernachlässigen konnte, weil sie im Horizont des subjektiven Kunsturteils bedeutungslos erschienen. Aber, und darin kulminiert Adornos ästhetische Theorie: „Die Stellung der Subjektivität zur Kunst ist nicht, wie Kant es unterstellt, die der Reaktionsweise auf die Gebilde, sondern primär das Moment ihrer eigenen Objektivität …; das Subjekt steckt in den Werken und ihrer Bewegung, als Moment; soweit es von außen auf sie trifft und ihrer Disziplin nicht gehorcht, ist es der Kunst fremd, legitimes Objekt der Soziologie.“ (19)
In einer gerade noch vertretbaren Umschreibung dieses zentralen Gedankens heißt das: die Künstler sind Aussagenurheber, die, im Unterschied zu denen der Wissenschaft und aller anderen gesellschaftlichen Institutionen, ihren Aussagenanspruch ausschließlich mit Verweis auf sich selbst begründen, nicht mit Verweis auf repräsentative Programmatiken; nicht mit Verweis auf Legitimation per Mehrheitswahl; nicht durch den konsensgetragenen Entwicklungsstand naturwissenschaftlicher Arbeit oder geisteswissenschaftlicher Auslegekunst. Wenn irgendwo noch vom Humanum gesprochen werden kann, dann im Bereich der Künste oder vielmehr der Künstler, die zu behaupten wagen, was dem Subjekt als Problematik seines eigenen Welt- und Selbstbezugs deswegen bedeutsam ist, weil diese Probleme von keiner Wissenschaft, von keiner Kosmologie, von keinem gesellschaftlichen Selbstverständnis beruhigt werden können.
Für die ästhetische Theorie ergibt sich demnach die Frage, warum sie sich auf historisch einmalige Wahrheiten (als Wahrheit des erkannten Unwahren) einzulassen hat; welcher Stellenwert also der künstlerischen Subjektivität zukommt. Adornos Auffassung in dieser Sache ist die, soweit ich sehe bis heute einzig bedeutsame und produktive. Gerade die aufs Subjekt (wegen der prinzipiellen Unlösbarkeit der Probleme, BB) nicht zu reduzierenden, nicht in blanker Unmittelbarkeit zu besitzenden Momente der Kunst bedürfen des Bewußtseins und damit der Philosophie. Sie wohnt aller ästhetischen Erfahrung inne, sofern sie nicht kunstfremd, barbarisch ist. Kunst erwartet die eigene Explikation. (20) Ihre Explikation und nicht ihre bloße Kommentarbedürftigkeit konstituiert erst das Werk. Explikation ist nicht als subjektives Geschmacksurteil möglich. Explikation heißt nicht, kommentierte Gebrauchsanweisung technischer Verfahrensweisen seien bereits das Kunstwerk. (21) Sie ist nicht auf das ausgerichtet, was der Künstler macht, nicht, wie und mit welchen wie immer auch fortgeschrittenen Mitteln er es habe machen wollen (22), sondern auf die ihm wegen ihrer prinzipiellen Unlösbarkeit objektiv unumgänglichen Probleme.
Wie anders sähe unsere Welt aus, wenn auch die Wissenschaft nach dem Beispiel der Kunst endlich zu akzeptieren bereit wäre, daß vermeintliche Problemlösungen nur durch das Schaffen neuer Probleme möglich sind. Die Stufenleiter (die gerade von den Wissenschaften eingeforderte Leistungshierarchie der Abstraktionen) der geschichtlichen Entwicklung ist nicht als Triumphlauf des machtvollen Geistes zu würdigen, sondern als akkumulierte Geschichte objektiv unumgänglichen Versagens. Wer aber ist schon bereit, die Bedeutung der Künste und Künstler nach dem Maß ihres objektiv zwingenden Versagens (als Eingeständnis der Unlösbarkeit von Problemen) zu würdigen? Adorno war dazu bereit; das allein läßt schon seine ästhetische Theorie für uns und eine noch sehr weite Zukunft folgenreich werden.
• (1) Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Ffm 1960, S. 162 ff.
• (2) Hans Heinz Holz: FR 11.9.1968.
• (3) Rolf Wiggershaus: Theodor W. Adorno, München 1987, S. 39.
• (4) ebd., S. 103.
• (5) Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, G.S. 7, Ffm 1970, Frühe Einleitung, S. 493, 525.
• (6) ebd., S. 498.
• (7) ebd., S. 494.
• (8) ebd., S. 503.
• (9) ebd., S. 524.
• (10) ebd., S. 516.
• (11) ebd., S. 515. („Ein Kunstwerk als Komplexion von Wahrheit begreifen, bringt es in Relation zu seiner Unwahrheit, denn keines ist, das nicht teilhätte an dem Unwahren außer ihm, dem des Weltalters.“)
• (12) ebd., S. 504.
• (13) ebd., S. 516. („Die Erkenntnis der Kunstwerke folgt eigener erkennender Beschaffenheit: sie sind die Weise von Erkenntnis, welche nicht Erkennen von Objekt ist. Solche Paradoxie ist auch die der künstlerischen Erfahrung. Ihr Medium ist die Selbstverständlichkeit des Unverständlichen.“)
• (14) ebd., S. 533.
• (15) Bazon Brock: Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Köln 1986, S. 102 ff.
• (16/17) Adorno, a.a.O., S. 507.
• (18) ebd., S. 532.
• (19) ebd., S. 527 f.
• (20) ebd., S. 525.
• (21/22) ebd., S. 506.