Buch Lock-Buch Bazon Brock, gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken

Lock-Buch Bazon Brock, gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken, Bild: Titelseite. Gestaltung: Gertrud Nolte.. + 3 Bilder
Lock-Buch Bazon Brock, gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken, Bild: Titelseite. Gestaltung: Gertrud Nolte..

Baustelle. Den Plan des Baus, der nie fertig wird, nennt man Biographie. Inzwischen ist jedermann biographiepflichtig – Selbst bei der Bewerbung um einen Arbeitsplatz hat man vorzulegen, auf welchen Plan des Lebens man sich verpflichtet. Man entwickelt seine Biographie mit Blick auf die Zukunft, auf die Erwartungen hin, die man bei anderen zu wecken versucht. Man nährt diese Erwartungen aufs Kommende durch Hinweise aufs Gewesene, auf die eigenen Werke und Tage.

Aus dem Logbuch wird so ein „Lockbuch“.

Das LOCKBUCH BAZON BROCK schließt einen Lese-Zirkel zwischen Brocks Arbeit als auffälliger Zeitgenosse, als Akteur der Kulturszene seit Ende der 5oer Jahre und den Fragen, die er provoziert. Wie er wurde, was er ist: weder Wissenschaftler noch Künstler, weder Lehrer noch Lenker - eben ein typischer Navigator zwischen schöpferischer Kulturbarbarei und der Ästhetik des Unterlassens.

Lock Buch Bazon Brock.

Präsentiert in Bilderbögen und Textpfeilen
von Helmut Bien, Gertrud Nolte, Anna Steins und Fabian Steinhauer

Erschienen
1999

Autor
Brock, Bazon | Steinhauer, Fabian

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-5436-3

Umfang
240 Seiten mit etwa 200 Abbildungen, 21*29,7cm

Einband
kartoniert

Seite 75 im Original

Museen sind Schöpfer von Zeit

Gekürzte Fassung, Originaltext in: Bazon Brock: Die Re-Dekade. Kunst und Kultur der 80er Jahre. München 1990.

In gesellschaftlicher Hinsicht findet Musealisierung als Besetzung der Museen durch Sponsoren statt. Für sie sind Museen gesellschaftlich ausgezeichnete, bemerkenswerte Orte, deren behauptete Erlebnisqualität und Ereignisdichte sie für PR-trächtige Veranstaltungen prädestiniert. Das Museum wird zum Ereignisort für den Vollzug gesellschaftlicher Rituale, die anderen Ortes nicht mehr stattfinden können, es sei denn, diese anderen Örtlichkeiten hätten als Schlösser, Ruinen, Kulturdenkmäler selber einen musealen Wert. Gesellschaftliches Leben als kulturelles Ereignis (wie es zum Beispiel ein Fest darstellt) ist immer an geeignete Orte gebunden, die den Teilnehmern durch ihre Aura die Einhaltung von Ritualen nahelegen. Je schneller sich die Kulturrituale, also zum Beispiel das Feste-Feiern, zu fast alltäglichen Veranstaltungen entwickelten, desto unverbindlicher und beliebiger wurden die Rituale, denen nur noch ein ausgezeichneter Festort ein stützendes Gerüst sichern konnte.

Die Musealisierung beliebig gewordener Rituale ist im Museum besonders leicht möglich, weil das Museum über seine Kunstwerke historische Passepartouts für Ritualisierung anbietet (Historienbilder, Gruppenportraits, Genrebilder, Veduten) und weil das Museum als gesellschaftliche Institution Lebensformen des feudalen und bürgerlichen Zeitalters vergegenwärtigt. Der Aufenthalt in solchen Museen konditioniert das Verhalten der Besucher selbst dann, wenn die Besuchergruppe nicht homogen ist. Sogar an Privatbesuchern kann man diesen Konditionierungseffekt ablesen: Verlangsamung der Bewegungsabläufe, Vermeidung von Spontanäußerungen, Einschränkung der Sprechlautstärke, hypnotische Konzentration des Blicks, offenbarungsbereite Öffnung des psychischen Systems. Diese Konditionierungseffekte des Museums sind auch unabdingbare Voraussetzungen für jeden Vollzug anderer sozialer Rituale.

Kein Wunder, daß Museen heute die bevorzugten Architekturen der Rituale sind – allerdings um den Preis, daß die Rituale selber musealisiert werden, und zwar auch solche normativ gesteuerten Verhaltensweisen, die ursprünglich nicht durch das Museum und im Museum entwickelt wurden. Dafür ein Beispiel: Vom neu erbauten Museum Ludwig in Köln schaut man durch eine bewußt gesetzte Öffnung der Architektur auf den nahen Kölner Dom. In dieser Konfrontation wird der Dom selber zu einem Museum der Ausstellung des Ritualverhaltens von Gläubigen, während die Betrachtung der zum Dom gehörigen Sakralmalerei im Museum Ludwig zum Ritual des säkularisierten Glaubens an die Werte der Kunst wird.

Wie weit diese Verschränkung geht, zeigt die folgende, im Raum Köln viel beachtete, aber nicht wirklich verstandene Geschichte: Eine Eifelbäuerin besuchte in regelmäßigen Abständen ein Altarbild, das aus ihrer Heimatkirche wegen seines künstlerischen Wertes in ein Kölner Museum verschleppt worden war, um vor diesem Bild, wie sie es jahrelang getan hatte, zu beten. Eine im Museum vor Bildern betende Bäuerin — eine Zumutung für den Bildungsbürger; ein betriebsstörendes Ärgernis für die Museumsleitung, die der Bäuerin mit Verweis auf die Besucherordnung förmlich und drastisch nahezubringen hatte, derlei Mißbrauch des Museums gefälligst zu unterlassen! Statt der Bäuerin dürfen nun besser konditionierte Liebhaber und Sponsoren der Kunst ihr Selbstverständnis im Museum ritualisieren, um dem Glauben an die Werte der Kunst sichtbaren Ausdruck zu verleihen.

In polit-ökonomischer Hinsicht wird Musealisierung betrieben, indem man den Museumswerken die Funktion von Urmetern des Kunstmaßstabs zugesteht. Die Aufnahme ins Museum wird – selbst wenn das die Kuratoren weit von sich weisen – mit einem säkularisierten Wandlungsläuten begleitet, das als Applaus für Künstler und Werk nach außen dringt! Kurios genug: Auch avancierte Künstler versprechen sich offenbar viel für die Konsensfähigkeit ihres Tuns, wenn sie in ihren Katalogen berichten können, in möglichst vielen, möglichst großen und damit offenbar bedeutenden Museen vertreten zu sein; da ist dann nicht mehr von der viel beschrieenen, bloß individuellen Entscheidung der Direktoren und Kustoden die Rede, nach der sie ihre Werkauswahl treffen. Die Institutionalisierung des Kunsturteils folgt ökonomischen Gesichtspunkten, gerade weil kunstgeschichtliche und ästhetische Kriterien nicht mehr allgemein anerkannt werden. Überhaupt ist der Aufbau der kulturellen Infrastruktur, zu der Museen erstrangig gehören, inzwischen weitgehend von kultur- und bildungspolitischen Überlegungen abgekoppelt worden. An ihre Stelle traten arbeitsmarktpolitische, investitionspolitische und sozialpolitische Überlegungen.

Musealisierung sorgt für die Konsensfähigkeit von kommunalen Entscheidungsgremien. Diese politökonomische Dimension von Musealisierung wird weiter zunehmen, weil die Kultur als politneutraler, angeblich ideologiefreier Bereich der Gesellschaft Werte und Sinnhaftigkeit so generiert, daß durch sie kaum politischer Streit provoziert wird. In volkswirtschaftlicher Hinsicht wird der Arbeit in den Sphären der Künste und der Kultur schon bald eine Bedeutung zuwachsen, die anzuerkennen vielen Künstlern, Museumsarbeitern und Kulturrepräsentanten, ja selbst vielen Unternehmern schwerfällt. Wenn die in den Industrieländern für den Markt produzierten Güter in technischer Leistung und materialer Verarbeitung kaum noch zu unterscheiden sind, und wenn deren Funktionszuweisung fast in der ganzen Welt die gleiche ist, dann können sich diese Güter voneinander nur noch durch den Anteil kultureller Wertigkeiten unterscheiden, die ihnen vornehmlich durch das Design und die Werbung mitgegeben werden können. Diese den Produkten zugeschriebenen kulturgeschichtlichen, stilistischen, ästhetischen Wertigkeiten müssen der Wirtschaft von Kulturarbeitern aller Sparten zur Verfügung gestellt werden. Bereits jetzt verkauft sich die Mehrzahl aller produzierten Güter nur noch durch kulturelle Distinktionsleistungen und nicht mehr durch die rein technisch funktionale und materiale Umgestaltung in Verschleiß- und Innovationszyklen. Diese kulturellen Distinktionen sind nur durch Musealisierung historischer Lebensformen und die Neutralisierung ihrer historischen Einmaligkeit zu erreichen (wir erwarten demnächst die ersten Großraumflugzeuge im gotischen Stil).

In wissenschaftlicher Hinsicht stellt die Musealisierung eine der wenigen völlig unschädlichen Formen des „Aus-der-Welt-Bringens“ dar; allgemein liefert ja die Kunst ein Paradigma für menschliches Tun ohne Folgen, und nach diesem Typus des Handelns besteht gegenwärtig große Nachfrage. Wo bisher alle Anstrengungen darauf gerichtet waren, zu produzieren, und auch das Konsumieren nur wiederum als Produktion von Abfall bemerkenswert wurde, liefert die Musealisierung ein Beispiel für das Aus-der-Welt-Bringen, das zumindest so kontrolliert stattfindet wie das ln-die-Welt-Bringen durch schöpferische Produktion. Wissenschaftlich gesehen, gelingt es der Kunstproduktion bisher am besten, dem Gebot zu genügen, menschliches Handeln so wenig wie möglich mit irreversiblen Folgen zu belasten. Wo diese Folgen dennoch auftreten könnten, wird durch Musealisierung jede Bestimmtheit und jeder Wirkungsanspruch der Werke relativiert, wenn nicht gar abgewiesen. Denn Musealisierung entlastet ja auch von den Wahrnehmungs- und Handlungsappellen, die die Werke an uns richten. Die Tafel wird leergeräumt, ohne das Abgeräumte zu Abfall zu verwandeln. Die archivierten und thesaurierten Bestände dienen als Barrieren gegen die bloße Anmaßung von vermeintlich Neuem und gegen die Überwältigung durch das bisher noch nicht Gesehene.

Das wissenschaftliche Prinzip der Musealisierung wird mit allem fertig, weil es rein formal und methodisch gleichförmig vorgeht, eine Haltung, die man sich außerhalb des Schutzbereichs wissenschaftlicher Musealisierung nicht leisten könnte. Auch auf der privaten Ebene spielt diese Form der Musealisierung eine immer größere Rolle: Es gibt ja kaum noch einen Fußnotenträger welchen menschlichen Handlungsbereichs auch immer, der sich nicht veranlaßt sähe, sich eine Biographie durch Musealisierung seines Lebens zuzulegen. Museumskunde bei Privatpersonen ist zu einer Behälterwissenschaft geworden, die die alten Schuhkartons mit Familienfotos und die Koffer mit persönlichem Krimskrams des gelebten Lebens umstülpt, chronologisch oder sonstwie ordnet, mit Anmerkungen bestückt, interpretiert und liebevoll konserviert. Alltagsgeschichten von Alltagsmenschen hat diese Behälterwissenschaft in den vergangenen Jahren zu Tausenden hervorgebracht; sie stülpte sogar die Inhalte privater Köpfe aus, um sie als Quelle und Faktum erzählter Geschichte den Archiven einzuverleiben.

Nachdem wir wissen, daß auch große Männer nicht mehr Geschichte machen, sondern daß die Geschichte die zu ihr passenden Menschen formt, erzählen wir uns unsere Geschichten, um unser Leben als das von tatsächlich lebenden Menschen erfahrbar werden zu lassen. Geschichte ist geschichtetes, verknüpftes Geschehen, und die Verknüpfung jener Inhalte des Gedächtnisses und anderer Behälter leistet die Erzählung. Das Musealwerden des eigenen Lebens steuert auch das zukünftige Leben, wenn es die Lebenden dazu anhält, ihre eigene Erzählung in die Zukunft fortzusetzen – in der Zukunft also so zu leben, daß es darüber etwas zu erzählen gibt. Sammler und Jäger der Spuren und Zeichen des eigenen Lebens verändern in einer doch wohl wünschenswerten Weise die Einstellungen und Haltungen: Sie lassen sich weniger schnell in die Rolle der Opfer zwängen; sie sind verantwortungsbewußter gegenüber sich selber und gegenüber ihrem Leben mit anderen: sei es drum — leben, um eine Biographie zu haben, ist ergiebiger, als ein Leben in der bewußtlosen Wiederholung des Lebens selbst.

Alle Geschichtsschreibung ist auf die Gegenwart der jeweiligen Lebenden und nicht auf die Vergangenheit ausgerichtet. Geschichtenschreibung als Form der Musealisierung ist nichts als der Versuch, sich eine den gegenwärtigen Umständen und den optativen Zukünften entsprechende Vergangenheit zuzulegen. Die wirksamste Art, auf die Zukunft einzuwirken, ist die, sich andere Vergangenheiten zu erarbeiten; (1) denn jede Gegenwart ist im Sinne der Musealisierung eine zukünftige Vergangenheit. Die Fähigkeit, sich seine eigene Gegenwart und die an sie geknüpften Zukunftserwartungen als zukünftige Vergangenheit so zugänglich zu machen, wie uns alle Vergangenheiten zugänglich zu sein scheinen – diese Fähigkeit erwerben wir durch die Pompejianisierung unseres Blicks. Die Pompejianisierung ist eine Art experimenteller Geschichtenschreibung; sie stellt unsere Gegenwart probeweise still, wie die Lava des Vesuvs das Leben im römischen Pompeji des ersten nachchristlichen Jahrhunderts stillstellte. Innerhalb der realen Geschichte und ihrer sozialen Lebensvollzüge sind ja Experimente nicht möglich, da Experimentalzeit und Realzeit zusammenfallen. Bei der virtuellen Pompejianisierung läßt sich der Realverlauf des gegenwärtigen Lebens als Experiment sub specie futurae stillstellen.

Wie kann gegenwärtige Zeit unter dem Blick aus der Zukunft stillgestellt werden, die Gegenwart als zukünftige Vergangenheit erfahrbar zu machen? Wohl nur durch die Verwandlung der Vergangenheit in eine Gegenwart. Diese Verwandlung der Vergangenheiten in Gegenwart ist der eigentliche Sinn der Geschichtenschreibung, die logischerweise nur die Mitlebenden und nicht die Toten zu Adressaten werden lassen kann. Die Toten hören zwar mit, haben aber keine andere Stimme als die der jeweils Lebenden. Die experimentelle Vergegenwärtigung der Vergangenheit sub specie futurae, also die Erfahrung der Gegenwart als zukünftiger Vergangenheit und der Vergangenheit als gewesener Zukunft – in den Zeitformen der Sprache als vollendete Zukunft und nicht abgeschlossene Vergangenheit ausgewiesen–, ist nach meiner Erfahrung zum Beispiel so möglich: Man stelle sich vor, das Jahr 1990 sei 1945. Bei der Pompejianisierung des Zeitstrangs würde das bedeuten, 1984 habe der Zweite Weltkrieg begonnen; 1978 würde Hitler Reichskanzler. Diese Musealisierung historischer Verlaufsformen würde uns die Zeitdynamik nahebringen, in der etwa während der Epoche des Dritten Reiches die Vergegenwärtigung von Vergangenheiten und die Verwandlung der damaligen Gegenwart in jetzige Gegenwart unseres Lebens in der Bundesrepublik, verliefen.

Eine Geschichtsschreibung, die uns von der Vergangenheit entlastet, anstatt die Vergangenheit in die Gegenwart aufzunehmen, verkürzt und simplifiziert unsere Zeiterfahrung; aber der Fließstrom der historischen Zeit im Gefälle kalendarischer Markierungen ist der Erfahrung nicht zugänglich; so bliebe Zeit nur ein abstraktes Konstituum von Geschichte. Die Geschichtenschreibung zwischen abgeschlossener Zukunft und nicht vollendeter Vergangenheit muß aber gerade deutlich machen, daß Zeit erst eine Qualität des Wandels des menschlichen Lebens und seiner Formen ist, wenn die Dynamik der Zeit von uns durch den wechselnden Austausch der Zeitformen geleistet wird. Die Erzählungen in diesem Wechsel dynamisieren die Zeit, ja, sie bringen sie erst hervor. Die Pompejianisierung des Blicks musealisiert die Zeit als Zeit der Erzählung; demzufolge ist die wichtigste Aufgabe der Musealisierung, uns Zeit zu schaffen; und zwar als Zeit zum Erleben und Handeln und nicht als Zeit zum Leiden und Verfallen unter der Herrschaft des unerbittlichen Chronos. Museen sind also Zeitproduzenten; Geschichtenschreiber, Musealisierer sind Schöpfer von Zeit.

Wer heute, 1990, das Jahr 1945 als entscheidende Vergegenwärtigung von Vergangenheit in der zukünftigen Gegenwart der Bundesrepublik experimentell zu erfahren vermag, schreibt nicht einfach die Vergangenheit als das ab, woran doch nichts mehr zu ändern ist; sie ist ja zu verändern, indem wir sie in unsere heutige Gegenwart aufnehmen und auch für die Zukunft anerkennen, daß uns die Toten in die abgeschlossene Zukunft hinein schon voraus sind. Wir leben ja noch, aber die Toten haben unsere Zukunft schon erfüllt: Sie sind bereits tot. Die Auferstehung der Toten ist heute wohl nur noch als Leistung der Lebenden zu garantieren, die Gegenwart als möglichst vollständige Erinnerung der Vergangenheiten aufzufassen und die Zukunft als Zeit vollständiger Erinnerung zu erwarten, in der nichts Gewesenes mehr verloren geht, also auch wir selber nicht. In diesem Sinne ist Musealisierung in der Lage, uns eine Zukunft zu schaffen.

(1) Nikolaus Himmelmann: Utopische Vergangenheit. Archäologie und moderne Kultur. Berlin 1976.

siehe auch: