Wer seine souveräne Überlegenheit so recht demonstrieren möchte, mokiert sich über Ballermannkultur, Fitneßidiotie und Konsumentenvieh in Erlebniskaufhäusern. Ein mitleidiges Lächeln gilt den Zicken und Softies, die per Therapiewochenende ihre Chakras zurechtrücken lassen wollen. Hoch rümpfen sich die Nasen über Grufties, die in Tanztüll und Designerstrampelhose den Fernsehballetten nacheifern. Leicht agressiv reagiert man auf Kulturtouristen, die zu Hunderttausenden die altehrwürdigen Kulturstätten flachtreten. Den Höhepunkt erreicht die selbstsichere Demonstration bildungsgestützter Innerlichkeit aber angesichts von Klatschmarschhymnikern und ekelhaft visagierten Lustbarkeitsanimatoren, die ihre Klientel auffoerdern, nun bitte schön ganz spontan zu sein.
Bemerkenswert werden derartige Absetzbewegungen von der Masse Mensch, wenn sie Unternehmer, Programmchefs und Gurus äußern, die mit den Glücksverordnungen ihr Geschäft machen oder als sozialpolitische Aufklärer davon leben, möglichst alle Menschen ihrer Verkündigung zuzuführen.
Urs Lüthi erlaubt sich weder als Künstler noch als bloßer Zeitgenosse, diese wohlfeilen Vorbehalte von Exklusivität in Anspruch zu nehmen. Er sieht in Wohnwagenkarawansereien, Teutonengrills und Jodelspießerparadiesen die prinzipielle Unerfüllbarkeit von Verheißungen, denen in erster Linie von Malern, Gärtnern, Architekten, Musikern und Literaten Gestalt gegeben wurde:
- in den Idealstädten der Renaissance
- in den Utopien der Humanisten
- in englischen Parks
- mit Beethovens 9. Sinfonie
- in der Besiedelung von Ländern unbeschränkter Möglichkeiten.
Für Lüthi ist nicht ausgemacht, ob nicht die Aufführung der "Ode an die Freude" mit 9000 Sängern im Stadion von Osaka eine Beethoven angemessenere Präsentation seiner programmatische Sinfonie darstellt als deren Aufführung im Leipziger Gewandhaus vor Parteifunktionären und Führungskadern in Damenbegleitung.
Wer einmal den Gesprächen der Eliten über das höchste Glück und den tiefsten Sinn des Lebens aufmerksam gefolgt ist, wird in der Sache kaum einen Unterschied zu der angeblich selbstvergessenen Banalität feststellen, mit der sich Kleinbürger an Feriengestaden austauschen. Im Gegenteil, die Denunzianten des Stammtischgewäschs und des säuischen Wohlbehagens folgen nur einer plumpen Strategie der Absetzbewegung: Nenne ich dich einen Banausen, kann ich selber keiner sein. Kritisiere ich deine Glücksbefriedigung in den Wonnen der Gewöhnlichkeit, weise ich mich selbst als jemand aus, der höher greift. Nenne ich dich alt, eingerostet und verbraucht, strotze ich offensichtlich vor Jugendlichkeit und Vitalität.
Lüthi nennt gerade die Überlegenheitsfloskeln Placebos und Surrogates, anstatt - wie üblich - den Massentouristen vorzuhalten, daß sie sich ideologisch dumm und glücksgeil in in künstlichen Paradiesen mit bloßen Versprechungen abspeisen lassen. Diese beachtliche Umkehrung der Beweislast für Besserwisser befreit die Lüthischen Arbeiten davon, sich als überragende Kunstwerke deklarieren zu müssen. Seine Arbeiten versprechen nicht die Befriedigung höchsten Sinnens und tiefster Weltdurchdringung; sie zeigen uns vielmehr, daß wir mit allen unseren Ansprüchen nur zum Ausdruck bringen können, was uns fehlt. Erst in der überheblichkeitsfreien Wahrnehmung der Camps, in denen hunderte Wohnwagen von ihren Benutzern konzentriert werden, peinigt uns die Frage, warum Menschen freiwillig solche Orte aufsuchen, die sie als Strafanstalten empfinden würden, wenn man sie dort zwangsweise einlieferte. Gerade unter dem Druck ernüchternder Häßlichkeit von "Ferienparadiesen" entwickeln wir Sehnsucht nach Schönheit. ABer ihrer würden wir auch dann nicht teilhaftig, wenn wir unsere eigenen Vorstellungen komplett realisieren könnten. Auf den Sonnenterrassen alpiner Gipfel in ihrer noch so anspruchsvollen Gestaltung wird uns das Verlangen nach Himmelsnähe und klarem Weltenblick unerfüllt bleiben. Suchen wir diese Orte nicht auf, um genuau diese Erfahrung zu machen, und nicht erst wir?!
Als Raffael in einem päpstlichen Notariatszimmer seine phantastischen Bildprogramme des Museumparnasses, der Philosophieschule (von Athen) und der vernünftig diskutierenden Glaubensgemeinschaft an die Wände malte, war damit keineswegs behauptet, man sei nun, um das Jahr 1510, endlich des Schönen, Wahren und Guten versichert. Vielmehr wurde durch die ungeheuerliche Diskrepanz zwischen Raffaels Bildwerken und dem damaligen Alltag unübersehbar, an welchem Mangel jedermann litt.
Mit seinen Texttafeln, die Lüthi ironischerweise "Therapieverordnungen" oder "Übungsanweisungen" nennt, stellen wir uns ein auf den Umgang mit dem, was uns fehlt. Tatsächlich fehlt uns nicht diese oder jene luxurierende Verbesserung des bisher Unvollkommenen, sondern Vorstellungsvermögen und Gedankenkraft. Lüthis künstlerische Strategien der Vollendung sind also darauf gerichtet, erst in der Einheit von physischem Werk und der von ihm provozierten Erfahrung von Unstillbarkeit der Sehnsucht, Unerfüllbarkeit der Wünsche und Bedürfnisse die Leistung des Werkes zu sehen.
Je älter wir werden, desto richtiger erscheint uns dieses Werkverständnis. Als gereift erkennen wir den Menschen an, der mit Würde zu entbehren weiß, was ohnehin nicht zu erreichen ist. Unreife Jugendlichkeit läßt sich mit dem rücksichtlosen Verlangen beschreiben: "Wir wollen alles, und zwar sofort!"
Abbildung:
Pera, aus der Serie: Placobos & Surrogates, Urs Lüthi, 1994; Ilfochrome hinter Acrylglas, Leuchtfarbe, Holz; 60x245cm
Relleri, aus der Serie: Placobos & Surrogates, Urs Lüthi, 1997; Ilfochrome hinter Acrylglas, Leuchtfarbe, Holz; 60x260cm
Exercises, aus der Serie: Placobos & Surrogates, Urs Lüthi, 1997-1998; Ilfochrome hinter Acrylglas, Leuchtfarbe, Holz; 40x30x8cm