Eine grundlegende Strategie, mit dem Altern und Veralten produktiv umzugehen, wird in den industriellen Verfahren des Recycling sichtbar. Dabei geht es nicht bloß um Wiederverwertung von Teilen oder Teilensembles, sondern um ihre Umwandlung. Altern ist ein permanenter Prozeß der Wandlung, der unmittelbar nach der Geburt respektive der Indienstnahme des Produkts einsetzt. Altern als Wandlung vollzieht sich so lange, bis die Betriebseinheit dysfunktional wird. Dann beginnt die Umwandlung zum Stoff, aus dem wir und die Dinge gemacht sind. Die Industrie orientiert sich verstärkt an dem Verwertungskreislauf der Natur. Durch Schließen des Kreislaufs werden Lebens- und Produktionseinheiten nachhaltig. In gewissem Sinne kann man aber auch Arbeitsprozesse von Künstlern als ein permanentes Wandlungs- und Umwandlungsgeschehen im geschlossenen Kreislauf verstehen. Das einzelne Werk repräsentiert das Nachhaltigwerden der Gestaltungsprozesse. Überdeutlich gesagt: Auch Künstler recyclen Formen und Gestalten, Bildgedanken und Entwicklungskonzepte, die sie Vorgängern oder auch ihren eigenen früheren Arbeiten entnehmen (heutiges Schlagwort: Kunst antwortet nur auf Kunst).
Auch Mattern recyclet Vorgaben seiner früheren »Analysen« und »Kompositionen«, die ihrerseits die Formlogiken verarbeiten, welche den Konstruktionsplänen und Funktionsschemata von Maschinen aller Art zugrunde liegen. Da diese Maschinen unser heutiges Leben mehr bestimmen als Landschaften, Wohnungsinterieurs, Schlachten oder christliche Legenden, versucht Mattern seit zehn Jahren, Formschemata und Funk-tionslogiken der Maschinen bildwürdig werden zu lassen. In gewissem Umfang recycelt er damit aber auch Konzepte und Werke von Künstlern wie Léger, Seiwert, Hoerle oder Klapheck. Mattem darf behaupten, nicht nur wie seine Vorgänger die Gestalt der Maschinen beseelt, sondern die Gestaltgedanken, die sich in ihnen verkörpern, als Malerei dargestellt zu haben.
Wir sind umgeben von technischen Gegenständen, deren Design wir zu schätzen wissen, deren wahre Funktionsweise uns aber unanschaulich bleibt — selbst Betriebs- und Bedienungsanleitungen können dem nicht abhelfen. Wir nehmen die Dinge hin, solange sie funktionieren, aber wer kann sich schon vor Augen führen, wie die Leistungsfähigkeit eines Handy, eines PC oder einer kompletten Industrieanlage zustande kommt. Wer kann schon Konstruktionspläne von Ingenieuren als Bilder lesen? Um das zu erreichen, überträgt Mattern die (vielen Kunstinteressierten vertrauten) Darstellungs- und Betrachtungsweisen von Gemälden auf die »Verbildlichung« der Funktionslogiken von Maschinen. Er verwandelt die Vorgaben der Techniker in Bilder, deren Aufbau durch seine »Analysen« und »Kombinationen« der Konstruktionszeichnungen entsteht.
1931 schrieb E.F. Gollerbach in einem Beitrag zu Tschernichows »Konstruktion der Architektur- und Maschinenformen«: »Um auf die Bedürfnisse der Zeit zu antworten, suchen die Künstler nach Gestaltungsmöglichkeiten, die dem technisch-industriellen Charakter der modernen Zivilisation entsprechen. Solche Suche ist selten erfolgreich, wenn sie von außen kommt und nur eine Anpassung alter Formen an neue Inhalte bietet. Erst das Schaffen von neuen Formen bringt uns auf den richtigen Weg. Anstelle der Anpassung von außen ist es notwendig, sich die neuen Funktionsformen von innen zu erschließen und sie so sichtbar zu machen, daß sie die Welt der modernen Technik ab-bilden. Die Kunst wird in gewissem Maße Ingenieurkunst.«
Bei seinen »Analysen« von Konstruktionsanleitungen wie auch bei den »Kompositionen« aus Basis-Elementen der technischen Pläne bewegt sich Mattern als Künstler in einem vorgegebenen festen Rahmen. Fachleute können aus seinen Gemälden ohne weiteres ablesen, welche Funktionslogiken er analysierte oder komponierte: gewuchtete Walzen, Schneideeinrichtungen, Seitenfüh-rungen, Halter (für die »Kompositionen«) und Vor- und Rückbewegungen, Wuchten von Massen, messen, antreiben, registrieren, steuern (für die »Analysen«). Die Konstruktionszeichnungen überträgt er auf Schablonen und die Steuerungsanleitungen auf Kompositionsgitter, die er als Maler genauso reglementiert und standardisiert einsetzt wie Ingenieure. Um das äußere Erscheinungsbild von Maschinen zu reflektieren, benutzt er Airbrush und/oder flächig aufgetragene Industriefarben. Diese Technik erfordert, daß er die zu bearbeitenden Flächen mit dem Skalpell aus der Maskenfolie herausschneidet. Er hat eine Lösung für die Zwischenlagerung der Mask-Teile gefunden, weshalb er sie, bis in die letzte Einzelheit belegbar, für die Recycling-Arbeiten verwenden konnte.
Mattern verwendet also Industrieformen und Steuerungskapazitäten, wie andere Maler Figuren und ihre Bewegungsschemata (sowie Gräser und Dünen) verwenden, um etwa das Thema »Ferien am Strand« zu verbildlichen.
Analog müßten Matterns Bilder dann »Tanz der Seitenführungen« heißen. Diese Betitelung ist ihm aber zu verführerisch, weshalb er es vorzieht, die einzelnen Arbeiten jeweils fortlaufend zu numerieren; das ist zudem ein Hinweis auf die Arbeitsprozesse in bestimmten Zeiteinheiten, die auch Matterns Alltagsleben strukturieren.
Für die Betrachtung seiner Recycling-Arbeiten sei ein Vorschlag erlaubt: Man nähere sich ihnen wie einer Abfallhalde. Müllberge faszinieren, wenn man aus ihrem chaotischen Gemenge einzelne Abfallstücke herausnimmt und aus ihnen Rückschlüsse auf die ursprüngliche Gestalt und Verwendung ziehen kann. Dergleichen tun mit Vorliebe Kinder, denen es gelingt, aus diesen disparaten und fragmentierten Teilen ein neues Objekt zusammenzubauen, mit dem sie z.B. als Spielzeug, als Ikone oder als Versuchsanordnung hantieren können.
Für ein analoges Vorgehen bieten sich Matterns Recyclings an. Man kann sie als spielerische Imaginationen von technischen Prozessen, als Ikonen von Wandlungsgeschehen und als Anschauungsmodelle für Altern als Produktionsstrategie ansehen, denen Mauern in seinen Bildern und als Malerei Nachhaltigkeit verschafft.
Abbildungen:
Recycling VI (Komplex), 1997, Acryl auf Leinwand, 60x140cm
Recycling V (Komplex), 1997, Acryl auf Leinwand, 160x120cm
Recycling VIII (Komplex), 1997, Acryl auf Leinwand, 160x120cm